Wolf Schneider zum 95. Geburtstag: „Eine Schneise durch den Wortverhau“

Herzlichen Glückwunsch: Am 7. Mai 2020 wird Wolf Schneider 95 Jahre alt! Wortgewandt und sprachschnell wie eh und je begeht der legendäre Sprachpapst und Gründungsleiter der Henri-Nannen-Schule seinen Geburtstag  in Starnberg/Bayern. Zu seinen vielfältigen Lebensstationen gehören: USA-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Verlagsleiter des Sterns, Chefredakteur der Welt, Moderator der NDR-Talkshow, 16 Jahre lang (Gründungs-)Leiter der Hamburger Journalistenschule, anschließend 17 Jahre mit Lehrauftrag an fünf Journalistenschulen in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Schneider ist mehrfacher Bestsellerautor (u. a. Wörter machen Leute, Deutsch für Profis, Große Verlierer und Glück. Eine Gebrauchsanleitung) und Träger des Medienpreises für Sprachkultur der Gesellschaft für Deutsche Sprache. 2011 erhielt er den Henri-Nannen-Preis für sein Lebenswerk, 2012 wurde er vom medium magazin als Journalist des Jahres für sein Lebenswerk geehrt. Im Sommer 2019 hat er sein jüngstes, sein 25. Buch (!) veröffentlicht: „Denkt endlich an die Enkel. Eine letzte Warnung, bevor alles zu spät ist“ (Rowohlt, 79 Seiten, 8 Euro).

Nachfolgend eine Kostprobe eine seiner jüngsten und nach wie vor aktuellen sprachkritischen Beiträge wie dieser aus mediummagazin Nr- 6-2018:

Wolf Schneider. Foto: P. Jost 

 

„Eine Schneise durch den Wortverhau“ 

„Welche Wörter müssen Journalisten wählen – welche meiden, wenn sie ihrem Generalauftrag gerecht werden wollen: die Bürger klar, allgemein- verständlich, unparteilich zu informieren?

Meiden müssen sie alle Wörter, von denen sie wissen müssten oder ahnen sollten, dass nur eine Minderheit sie versteht.

Meiden sollten sie 1. allen akademischen Jargon (selbst wenn er halb und halb verstanden werden sollte). 2. ein Übermaß an Anglizismen. 3.Wörter mit offener oder heimtückischer Parteilichkeit.

Anstreben  sollten Sie das jeweils treffendste, farbigste, zumeist das kürzeste mögliche Wort. Mit „Blut, Schweiß und Tränen“ machte Churchill 1940 Weltgeschichte – mit Blutverlust, Überarbeitung und einer Überreizung der Tränendrüsen hätte er es nicht geschafft.

Meiden also müssen Sie

  • den Paradigmenwechsel. Der ist seit zwei, drei Jahrzehnten ein Modewort des gehobenen Feuilletons, längst auch in der Industrie angekommen („Paradigmenwechsel im Design“, versprach BMW) und in der Musikszene („Paradigmenwechsel in HipHop“). Einwand 1: Schätzungsweise 95 Prozent der Deutschen haben keine Ahnung, was das sein soll. Einwand 2: Für die Wissenden aber ist das Wort längst ausgeleiert bis zum Überdruss. Was tun? Kurswechsel also, oder Schwenk (1 Silbe statt 7).
  • das Narrativ – in den allerfeinsten Zeitungen seit etwa zehn Jahren dem Paradigmenwechsel auf den Fersen – und vermutlich von fast 1 Prozent der Leser verstanden. Was, fragte die FAS (8.7.18), haben die Berliner Journalisten getan? „Das Narrativ vom Kampf um die Kanzlerschaft bereitwillig übernommen“. Aha. Narrare heißt erzählen – das „Narrativ“ (hat ein französischer Philosoph sich 1979 ausgedacht) soll  „sinnstiftende Erzählung, Grundannahme“, bedeuten. „Die EU braucht ein neues Narrativ“, konnte man lesen. Da wird sie warten müssen.
  • Kognitiv – „erkenntnismäßig, das Denken betreffend“ – ein nicht nur hässliches, sondern ziemlich überflüssiges Wort von ziemlich unscharfer Bedeutung. Was ist Angela Merkel, dem Spiegel zufolge? (27/18). „Eine kognitive Herausforderung, die mancher bis heute nicht bewältigt hat“. Gut zu wissen.
  • Disruptiv ist englisch, heißt „zerbrechend, zerreißend, zertrümmernd“ und ist das Modewort des Silicon Valley: nicht konstruktiv – disruptiv müssen wir mit allem umgehen, was schon da ist. Ganz hübsch – aber wer sollte den Titel des Leitartikels der Süddeutschen Zeitung vom 12.6.18 verstehen? „Im Disruptiven“ hieß er. Erklärung ziemlich weit unten. Weltfremd. Leser ohrfeigend.

Meiden sollten Sie

  • allen Akademischen Jargon. Auch insoweit er verstanden wird, produziert er prätentiöses, unlebendiges Deutsch. So zum Beispiel: Thematisieren – auf Deutsch: zum Thema machen – zur Sprache bringen – mal drüber reden.
  • Fokussieren hat in der Wirtschaft das Konzentrieren verdrängt bis zum Überdruss. Und wie standen kürzlich zwei Kletterer vor der Kletterwand? „Fokussiert“ natürlich (wie man’s so lesen möchte im „BayernSport“ der SZ).
  • Tonalität – die nämlich sei, sagte Angela Merkel über ihren Asyl-streit mit der CSU, „sehr schroff“ gewesen (in der Süddeutschen). Aber die …alität fügt dem Ton nichts hinzu außer akademische Blähung (nach der französischen Redensart: C’est le tonalität  qui fait la musique).
  • Befindlichkeit: ein Lieblingswort des Zeit-Feuilletons für Befinden, Laune, Gemütszustand.
  • Anglomanie. Nichts gegen bloße Anglizismen! (Geradezu königliche gibt es wie den Sex: in 3 Buchstaben teilt er etwas mit, dessen volle Bedeutung im Deutschen 49 Buchstaben erfordern würde: „Lustbetonter Geschlechtsverkehr ohne Zeugungsabsicht“.)Aber wie dringend war es, die Eurovision, die jahrzehntelang deutsch durchs Fernsehen flimmerte, seit ein paar Jahren als Jurowischn vorzustellen? Und warum heißt die altbekannte Europameisterschaft in ARD und ZDF plötzlich European Championship? Welche Albernheit. Eine Blamage seit langem ist das  Public Viewing. Wenn wir schon so gut Englisch können – sollten wir dann nicht wissen, dass dies in den USA die Freigabe der Leiche zur öffentlichen Besichtigung bedeutet? Ist es schon so weit, dass uns zu einer neuen Sache ums Verrecken kein deutsches Wort mehr einfällt? (Fernsehforum?). Gruner+Jahr publiziert zwar immer noch deutsche Texte, bläst aber intern das Englische aufs Äußerste auf: Ein Abteilungsleiter heißt zum Beispiel Editorial Director Community of Interest Family, und wo der Vorstand spricht, kommen deutsche Substantive nicht mehr vor.
  • Ahnungslose Parteilichkeit. Wenn ein Vorwurf bestritten wird, ist alles in Ordnung. In ARD und ZDF werden Vorwürfe (an Politiker zumal) jetzt aber nur noch zurückgewiesen – und das ist eben nicht dasselbe. Es heißt „abweisen, entrüstet von sich weisen, sich gegen etwas verwahren“. So macht sich der Redakteur zum Komplizen der Entrüstung.

Fazit: Niemals verwendet der Journalist ein Wort,

+   das 7 Silben hat, wenn 3 dasselbe besagen.

+   von dem er weiß (befürchtet, wissen sollte), dass 20 oder noch mehr Prozent seiner Leser es nicht oder nur unzulänglich kennen – wenn aber doch, dann mit ausdrücklicher Erklärung (z.B. wenn ein bis dahin seltenes Wort in der Öffentlichkeit eine Rolle zu spielen beginnt).

+   das in die Nachricht eine Meinung, eine parteiliche Färbung mogelt.

Der Journalist halte sich an den klassischen Satz des Georg Christoph Lichtenberg: „Meine Sprache ist allzeit simpel, enge und plan. Wenn man einen Ochsen schlachten will, dann schlage man ihm gerade vor den Kopf.“