„Wir wollten viel und haben viel bekommen“
Neues Personal, neuer Paid Content Desk bei der Schwäbischen Zeitung in Ravensburg: Yannick Dillinger, stellvertretender Chefredakteur, über das Investitionsprogramm „Big Picture“ im Digitalen:
Herr Dillinger, mit „Big Picture“ hat die Schwäbische Zeitung ein umfassendes Investitionsprogramm mit allein zwölf neuen Stellen in der Redaktion aufgelegt. Was genau haben Sie vor?
Yannick Dillinger: Das ist recht einfach: Wir möchten unser Kerngeschäft zukunftsfest machen. Das „Big Picture“ ist ein Strategiepapier, das die für den digitalen Bereich notwendigen Zukunftsschritte skizziert. Wie müssen wir zusammenarbeiten, um nachhaltigen Erfolg zu sichern? Was müssen wir investieren, um sinnvolle Dynamik zu erzeugen? Welche Schwerpunkte müssen wir setzen, um die Bedürfnisse der Menschen in der Region zu befriedigen? Ein Team aus Redaktion, Schwäbisch Media Digital, Vertrieb, Marketing und Datenmanagement hat daran ein Jahr lang gearbeitet. Das hat wahnsinnig viel Kraft gekostet. Umso schöner, dass der Chefredakteur, die Geschäftsführung und schließlich der Beirat das Konzept so positiv angenommen haben. Wir wollten viel und haben viel bekommen. Das ist nicht selbstverständlich. Immerhin stand da am Ende eine hohe Investitionssumme auf dem Zettel – übrigens auch in anderen Unternehmensbereichen.
Haben Sie inzwischen das entsprechende Personal für Ihre Pläne gefunden?
Wir haben im redaktionellen Bereich bis auf zwei Vakanzen bereits alle neu genehmigten Stellen besetzt. Fünf davon mit fertig ausgebildeten Crossmedia-Volontären. Wir suchen jetzt noch einen Newsroom-Developer für den Paid Content Desk in Ravensburg und einen regionalen Digitalredakteur für den Landkreis Tuttlingen.
Wenig überraschend tun wir uns am schwersten bei der Suche nach Entwicklern. Dort konkurrieren wir mit großen Unternehmen in der Region. Der Newsroom-Developer ist für uns eine Schlüsselposition. Er soll digitale Tools entwickeln, die der Redaktion die agile Weiterentwicklung des Journalismus ermöglichen. Wichtig für uns wird auch der Newsdesk-Entwickler von Schwäbisch Media Digital sein. Er soll Fehler auf schwäbische.de schnell identifizieren und lösen. Bug-Reporting kostet die Redaktion gerade viel zu viel Zeit.
Noch im Mai richten Sie im Newsroom der Schwäbischen einen neuen interdisziplinären Paid Content Desk ein. Was wird dort passieren?
Am interdisziplinären Paid Content Desk bearbeiten künftig Experten aus verschiedenen Abteilungen systematisch Nutzersegmente. Zum Teil permanent, zum Teil flexibel. Paid Content funktioniert nur interdisziplinär und als Gesamtwerk vieler schlauer Menschen. Der Fokus liegt auf dem Funnel Management: Wir möchten flüchtige Besucher loyalisieren, loyale Besucher in die Registrierung bringen, Registrierte vom Abo überzeugen. Das geht zum Beispiel über die nutzerzentrierte Ausspielung von Inhalten und Angeboten. Aus quantitativer soll qualitative Reichweite werden. Außerdem suchen wir eine Antwort auf die Frage, was wir jenen Menschen anbieten, die sich niemals per Abo an uns binden werden.
2014 führte die Schwäbische im Digitalen das Metered Modell ein und ergänzt es inzwischen mit Zusatzangeboten exklusiv für Abonnenten. Wie hat sich der Kundenstamm entwickelt?
Wir haben aktuell rund 24.000 zahlende Digitalabonnenten. Mehr als 180.000 Menschen haben sich kostenlos auf schwäbische.de registriert. Nun gilt es, diese Kontakte zu qualifizieren.
Das Metered war gut, um erste Erfahrungen mit Paid Content, Aboshops und Bezahloptionen zu sammeln, um erste Kundenbeziehungen aufzubauen und unsere Leser besser kennenzulernen. Ohne die Einführung von Plus-Artikeln vor einem knappen Jahr wäre aber eine Stagnation eingetreten. Seitdem Abonnenten exklusiven Zugang zu unseren starken Inhalten haben, beschleunigt sich das Wachstum.
Wir sind beim Launch unseres Hybrid-Modells dateninformiert vorgegangen, haben die Anzahl der Plus-Artikel sukzessive erhöht, haben ein immer besseres Gefühl dafür bekommen, welche Inhalte eine Zahlungsbereitschaft hervorrufen.
Welche Inhalte sind das zum Beispiel?
Potenzielle und Bestandskunden schätzen besonders die langen Erzählformate. Relevant sind für unsere Leser fast immer die regionalen Seite Drei-Reportagen, unsere Berichterstattung über die großen Arbeitgeber im Süden, Porträts über tolle Menschen aus der Region oder auch Neuigkeiten im lokalen Einzelhandel.
Für uns war und ist es wichtig, eine auf uns zugeschnittene Paid-Strategie zu finden. Es gibt da meiner Meinung nach nicht eine Schablone, die man einfach hernehmen und nachzeichnen kann. Die regionalen Interessensbereiche unserer Leser sind extrem fragmentiert. Wir haben nicht eine große Stadt, die per se schon mal das Interesse vieler Leser auf sich zieht. Wir brauchen daher eine kritische Masse in der Klasse.
Ein Beispiel: Solange ein Leser mit Interesse am Lindauer Stadtgeschehen jeden Tag nur einen Plus-Artikel aus Lindau angeboten bekommt, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass ihn gerade dieses Thema zu einem Aboabschluss bewegt. Was für den einen Besucher Premium-Charakter hat, ist für den anderen im Zweifelsfall irrelevant. Deshalb haben wir im Mai nachjustiert. An allen Inhalten, die ein Journalist der Schwäbischen erstellt hat, hängt jetzt ein Plus dran.
Die Schwäbische hat mit dem Artikelscore ein Analysetool selbst entwickelt – wofür?
Der Artikelscore hilft uns bei der journalistischen Bewertung. Er ersetzt sie nicht. Wir bekommen dank des Artikelscores wichtige Rückmeldungen für unsere Themensetzung, -aufbereitung und -ausspielung. Und auch für unsere Produktentwicklung. Auf Grundlage des Artikelscores entstand eine Checkliste für Plus-Inhalte, wir erkennen Evergreen-Content besser, erfahren viel über die Interessen potenzieller und tatsächlicher Kunden. Wir gehen dabei wissenschaftlich vor, haben Studenten zur Mittelfrist-Analyse hinzugezogen. Die haben zum Beispiel meine Hypothese falsifiziert, dass die werktags gut laufenden Plus-Artikel am Wochenende noch besser angenommen werden. Der Verdacht hierbei: Unser Aboshop war mobil schlecht zu bedienen. Die vornehmlich mobilen Wochenendbesucher hatten kaum eine Chance, ein Abo abzuschließen.
Wir haben dann beim Relaunch unseres Aboshops ziemlich aufgeräumt. In den meisten Fällen stößt der Besucher ja beim Versuch, einen Artikel via Facebook, Google oder WhatsApp zu lesen, an die Paywall. Wenn wir ihm dann den Zugang kompliziert gestalten, brauchen wir uns über hohe Abbruchquoten nicht wundern. Ein Aboabschluss darf geräteunabhängig nicht länger als eine Minute dauern. Am besten liegt die Zeit deutlich darunter. Mal sehen, was die nächste Studenten-Auswertung zu Tage bringt.
Arbeiten alle in der Redaktion mit dem Artikelscore?
Wir sind schon weit auf dem Weg hin zu einer dateninformierten Redaktion. Die Arbeit mit Dashboards und Datenanalysetools wie dem Artikelscore ist im Haus gut etabliert. Noch arbeiten nicht alle Redakteure damit täglich. Aber wie gesagt: Wir sind auf dem Weg.
Das Arbeiten an multimedialem Storytelling scheint bei der Schwäbischen etabliert. Gerade erst sorgte sie für Aufsehen mit einer Reportage zu zehn Jahren Amoklauf in Winnenden.
Die Redakteure der Schwäbischen lieben Experimente. Nicht umsonst ergänzen wir die starken Autorenstücke unserer Journalisten mit Podcasts, Erklärvideos, Datenjournalismus, Instagram-Stories und vielem mehr. Multimedia-Reportagen mögen wir weiterhin, die Euphorie ist aber etwas abgeflaut. Anfangs haben wir mitunter zwei Storytellings pro Monat veröffentlicht. Heute überprüfen wir genau, ob eine Multimedia-Reportage tatsächlich die beste Darstellungsform für ein Thema ist. Für Effekthascherei sind Storytellings viel zu aufwändig.
Unser Hauptaugenmerk liegt darauf, die alltägliche Arbeit glänzen zu lassen. Wir versetzen unsere Redakteure über Schulungen, Feedback sowie Hard- und Software in die Lage, unseren Journalismus beständig weiterzuentwickeln. Die täglich produzierten Inhalte unserer Redakteure müssen herausragend sein, fortschrittlich und modern, auf allen Plattformen. Das ist ein nie endender Prozess.
Beim Podcasting prescht die Schwäbische mit gleich fünf Angeboten voran, was für eine Regionalzeitung ungewöhnlich ist. Warum so viele?
Ich wollte mit einem Format starten, mit überschaubarem Aufwand schnelles Feedback einholen. Ich halte nichts davon, im großen Stil zu experimentieren und dann still und heimlich Ideenfriedhöfe zu produzieren. Beim Thema Podcasts habe ich mich von Lukas Bruns, dem Leiter unserer Business-Development-Abteilung, überzeugen lassen. Zum Glück, es hat sich gelohnt: Die fünf Podcasts laufen sehr gut. Wir erzielen damit eine relevante Reichweite. Die „Sag’s Pauly“-Episode, in der „The Voice of Schwäbische“ Andrea Pauly mit unserem Restaurantkritiker Erich Nyffenegger spricht, haben beispielsweise rund 5.000 Menschen angehört. Und: Überraschenderweise konnten wir mit Unternehmen auf Anhieb gute Deals abschließen. Podcasts ergänzen unser Portfolio. Sie sind aktuell kein Paid-Thema, sondern erzielen vermarktete Reichweite. Vor allem lernen wir viel über das Überthema Audio. Ich bin mir sicher, dass unser Engagement mit Podcasts nur der Start in eine von Audio geprägte Epoche sein wird.
2016 hat die Schwäbische von Google 371.000 Euro zur Entwicklung eines Algorithmus bekommen, um hochwertige Inhalte passgenauer ausspielen zu können. Zottel, so der Arbeitstitel, soll demnächst in die App der Schwäbischen integriert werden. Jetzt ist auch Facebook dabei, das Füllhorn über deutsche Lokalzeitungen auszukippen, darunter die Pressedruck-Tochter Main-Post. In der Branche ist die Förderpraxis der Internet-Giganten umstritten. Wie stehen Sie dazu? Würden Sie auch die Hand aufhalten bei Mark Zuckerbergs Fördermillionen?
Wie ich schon im Zusammenhang mit unserem Google DNI-Projekt gesagt habe: Das höchste Gut von Journalisten ist ihre Unabhängigkeit. Deshalb sollten sie meiner Meinung nach potentielle Projekte etwa mit Google und Facebook genau prüfen – unter Berücksichtigung aller Chancen und Risiken. Wir machen diesbezüglich mit Google bei unserem Projekt vernünftige Erfahrungen. Ob das bei Facebook auch so wäre, kann ich ehrlich nicht sagen. Klar ist: Hinsichtlich Dateninterpretation und -nutzung oder personalisierter Ausspielung von Inhalten kann kein Verlag der Welt Google und Facebook das Wasser reichen. Ob das ein schlagendes Argument für ein gemeinsames Projekt ist, muss jede Redaktion für sich entscheiden. Bei der Zusammenarbeit mit Facebook und Google halte ich eine gesunde Skepsis und eine Prüfung von Einzelfällen für angebracht.
Die Augsburger Allgemeine hat Sie abgeworben, damit Sie ab Herbst in der Chefredaktion von Gregor Peter Schmitz den Transformationsprozess vorantreiben. Was hat Sie zum Wechsel nach zehn Jahren bei der Schwäbischen bewogen?
Ich habe der Schwäbischen sehr viel zu verdanken. Es ist großartig, dass ich in den vergangenen zehn Jahren hier so viel lernen und entwickeln durfte. Nach sehr intensiven vier Jahren in der Chefredaktion mit Change-Projekt, Relaunch, permanenter Anpassung der Paid-Strategie, „Big Picture“ und Innovationsreport ist für mich nun ein guter Zeitpunkt gekommen, ein neues, wahnsinnig spannendes Projekt anzugehen. Die Augsburger Allgemeine ist ein großartiges Haus. Die Mitarbeiter in Redaktion und Verlag beobachte ich seit Jahren aus der Ferne und bin sehr begeistert. Ich sehe großes Potenzial, tolle Themen, ein spannendes Umfeld. Aus den überaus wertschätzenden Gesprächen mit Herausgeberin Alexandra Holland und Chefredakteur Gregor Peter Schmitz kam ich mit dem sicheren Gefühl, dass die gesamte Führung des Hauses an den starken, fortschrittlichen Regionaljournalismus glaubt und sich sehr kluge Gedanken über die Zukunft macht. Das hat mich beeindruckt. Es warten spannende Aufgaben auf mich.
Das Interview ergänzt den ausführlichen Beitrag von Senta Krasser über die Schwäbische Zeitung in medium magazin Nr.2-2019, Teil 8 unserer Reise „Lokalbesuch“. medium magazin kann im Abo oder als Einzelausgabe hier bezogen werden. Das Abonnement beinhaltet auch unsere Specials „Journalisten-Werkstatt“ – in mediummagazin 2/2019: „Besser schreiben: Die Reportage“