Wie viel KI steht auf dem Lehrplan?

Fotos der acht Journalistenschulen bzw. Universitäten mit Journalismus-Studiengängen Universität Leipzig, LMU München, JS Mainz, Kölner Journalistenschule, TU Dortmund, Henri-Nannen-Schule, Deutsche Journalistenschule, Axel Springer Academy.
Fotos v.l.n.r. und o.n.u.: Universität Leipzig, LMU München, JS Mainz, Thomas Schildmann, Roland Baege, HNS, Claus Graubner, Dominik Tryba

 

KI-Technologie ist so neu und komplex, viele ­Medienhäuser müssen sich den effektiven Umgang mit ihr erst noch ­erarbeiten. Der Nachwuchs hat es leichter, er startet in der Ausbildung von Anfang an mit KI. Oder? Wir haben uns bei Universitäten und Journalistenschulen umgehört. Dieser Beitrag ist im in der Ausgabe 03/24 des „medium magazin“ erschienen.

Text: Jeanne Wellnitz


In Dortmund sind vor Kurzem zwei Welten aufeinandergeprallt. Im Seminar „Let ChatGPT do the work?!“ saßen 24 Studierende aus der Journalistik und der Informatik, die gemeinsam das generative Sprachmodell hinter ChatGPT testen sollten. Die angehenden Journalisten planten eine Radiosendung oder erstellten ein Storyboard für einen Fernsehbeitrag. Der Informatik-Nachwuchs hingegen programmierte eine Website oder verschlüsselte Texte. Gemeinsam analysierten sie anschließend die Ergebnisse und brachten ihre jeweilige Erfahrungswelt mit ein. Die Informatiker zeigten, was technisch möglich ist, die Journalisten sensibilisierten für ethische und inhaltliche Aspekte. Irgendwann sollen so auch gemeinsame kleine Projekte entstehen.

Christina Elmer saß mit im Raum. Die Professorin für digitalen Journalismus leitet das Seminar gemeinsam mit KI-Professor Stefan Harmeling. Es fand bereits zum zweiten Mal statt. Ihre Bilanz: „Unsere Journalismus-Studierenden haben dadurch Anwendungsfälle wirklich verstanden und erwerben das technische Verständnis für mögliche spätere KI-Projekte, wie sie in Redaktionen immer häufiger nachgefragt werden.“

Der Austausch soll vor allem zum kritischen Denken anregen. Durch die interdisziplinäre Arbeit entstehen Antworten auf gegenwärtige, drängende Fragen, so die Hoffnung. Fragen, die aktuell nahezu jeden in der Wissensarbeit beschäftigen: Wie funktioniert die Technologie? Welche Effekte und Verzerrungen bringt sie mit sich? Wo sind ihre Grenzen? Und ganz praktisch: Welche Arbeitsschritte kann sie ersetzen oder unterstützen – und wo braucht es immer noch den Menschen, also den Human-in-the-Loop?

Regeln werden gerade erst gemacht

KI ist eine Sprunginnovation, also eine Erfindung, die die Welt in ein Vorher und ein Nachher einteilt. Man kann sie sich nicht mehr ohne diese Technologie vorstellen. Und man ahnt schon jetzt: Die Weiterentwicklung von KI wird noch viele weitere Sprunginnovationen auslösen. Wir befinden uns alle in einem gigantischen bislang kaum regulierten Experimentierraum. Und es gibt keine Bedienungsanleitung.

Der Journalismus kann seiner Wächterfunktion in dieser Lage nur schwer nachkommen. Unternehmen, die KI-Tools anbieten, sind mächtig, das Netz ist randvoll mit Deepfakes und Desinformationen. Ethische Fragen? Ungeklärt oder in der Diskussion. Redaktionen prüfen derweil, wie sie selbst die neuen Tools sinnvoll einsetzen können, sie tüfteln an Richtlinien – oder wissen noch nicht so recht, wie es weitergeht. „Momentan gibt es noch keinen Konsens darüber, was genau Medienhäuser mit KI anstellen“, kommentiert Gregor Schmalzried die Lage. Er testet als Co-Host von „Der KI-Podcast“ (ARD) viele Tools.

Wie die Lehre auf KI reagiert

Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) mahnte die Branche 2023 in einem Positionspapier, dass die redaktionelle Verantwortung nie von einer KI übernommen werden könne. Auch zur Ausbildung steht etwas in dem Papier: Der Umgang mit KI müsse fester Bestandteil von Aus- und Weiterbildung sein.

So lautet der Wunsch, wie sieht die Realität aus? Das „medium magazin“ hat bei acht Ausbildungsstätten nachgefragt, wie sie auf die KI-Revolution reagieren. Welche KI-Formate stecken in den Lehrplänen? Welche Kompetenzen brauchen die Journalistinnen und Reporter der Zukunft? Einig waren sich alle in einem Punkt: Ignorieren kann man die Entwicklung nicht. Und die Nachfrage unter den Studierenden ist immens.

Schritt 1: Grundlagen vermitteln

Alle journalistischen Ausbildungseinrichtungen bieten mittlerweile Grundlagenkurse zu KI-Technologien und deren Funktionsweise an. Sie haben das ­Thema entweder in bestehende Einführungsveranstaltungen integriert oder ein neues Modul dafür entwickelt. Das Lehrpersonal versucht selbst auf der Höhe der Zeit zu sein, besucht Fachkonferenzen, organisiert Expertentalks und Hintergrundgespräche mit Praktikerinnen. Immer mehr Studien zum Thema erscheinen, erste Masterarbeiten werden geschrieben. Viele erkennen KI als Querschnittsthema an. Ihre Vision: eine KI-gestützte Journalistenschule. Ein Ort also, an dem die Technologie künftig überall im Einsatz ist.

Schritt 2: Selbst ausprobieren

Fast alle Schulen bieten Workshops und Seminare an, in denen Studierende KI-Tools selbst testen und eigene Projekte umsetzen können. Herausgekommen ist dabei etwa das Video-Projekt „Reports of Resistance“ der Axel Springer Academy. Hier kamen unter anderem Untertitel, Übersetzung und Voiceover von einer KI. Auch ein Animationsfilm der Universität Mainz nutzte eine KI-Sprechstimme. Die Vorreiter schaffen also KI-Infrastrukturen und geschützte Experimentierräume für die Projektarbeit und fördern die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen wie Informatik und Statistik.

Schritt 3: Kritischer Umgang

Die Königsdisziplin im Experimentieren mit KI ist die Verifikation und Bewertung der Ergebnisse, die uns ChatGPT und Co. liefern. In Seminaren werden deshalb ethische Aspekte wie Verantwortung, Bias in Trainingsdaten und Transparenz besprochen. Vereinzelt sind auch eigene KI-Leitlinien für den Lehrbetrieb in der Mache. Denn es herrscht auch Einigkeit, was die Gefahren der KI-Umwälzung betrifft: etwa eine zu große Abhängigkeit von Technologien, verzerrte Ergebnisse durch schlechte Trainingsdaten, mangelnde Überprüfung der KI-Ergebnisse durch Redaktionen – und, die größte Gefahr für die Branche: ein Vertrauensverlust des Publikums durch fehlende Kennzeichnung oder urheberrechtliche Probleme.

Vorbereitet sein

„Wir können überhaupt nicht abschätzen, wie Redaktionen in fünf Jahren arbeiten“, sagt Professorin Christina Elmer. Diese Ungewissheit mache es gerade Universitäten schwer; sie können anders als die agileren Journalistenschulen ihre Lehrpläne nicht ad hoc umstellen. Das Fernziel deutet sich aber an: Das Kombinieren aus Anwendungs-Knowhow und kritischer Reflexion, sagt Elmer, werde eine der wichtigsten Fähigkeiten der Zukunft sein. Im Moment finde ein Feintuning vieler Sprachmodelle statt. RAG-Systeme (Retrieval Augmented Generation) können Sprachmodelle künftig mit Datenbanken unterstützen, die ausschließlich gesicherte Fakten enthalten. So werden auch Redaktionen eigene, sichere KI-Systeme bauen, glaubt Elmer. Dafür braucht es Expertise. In einem idealen Ausbildungsszenario lernen Talente deshalb am besten, was sie interessiert (also Politik, Wirtschaft …) – und nutzen KI dabei ganz selbstverständlich in allen Disziplinen, rät Tech-Journalist Schmalzried.

Währenddessen implementieren die Tech-Giganten KI in bestehende Produkte, jüngst etwa Apple Intelligence. Damit wird der Schritt zur Nutzung erleichtert. Schmalzried findet das gut: „Wir befinden uns jedoch erst am Anfang der Kommodifizierung der Technologie.“ Die Tools werden erst nach und nach standardisiert, verbreitet und zu alltäglichen Produkten.

„Das große Missverständnis ist, dass viele denken, es werden nun große Workflows umgewälzt und ersetzt“, erzählt Schmalzried. Am Anfang stehen jedoch kleine Schritte an: einzelne Tools kennenlernen und für verschiedene Aufgaben nutzen. Letztlich ginge es im Journalismus vor allem um das Management von Informationen durch KI, sagt Schmalzried, die sogenannten Context Windows werden schließlich immer größer. Wir füttern ChatGPT also mit riesigen Texten und löchern das Modell dann mit Fragen. Doch auch bei der Videobearbeitung und wenn es um verschiedene Ausspielungsformen einer Recherche geht (Structured Journalism), kann die KI den Redaktionen wertvolle Dienste leisten. Schmalzried rät den Ausbildungseinrichtungen: „Gebt dem Nachwuchs weiterhin Spielraum, das alles auszuprobieren, die Ideen sind alle da!“

KI auf dem Lehrplan

Henri-Nannen-Schule

(c) HNS
(c) HNS

Ort: Hamburg
Schüler:innen pro Jahr: 54

KI-Inhalte:

  • Einführung in Large-Language-­Modelle (LLM) pro Kurs und Lehrgang
  • Module zu Bild- und Illustrations-Prompts
  • Aktuell in Planung: Integration von
    KI in alle Unterrichtsmodule
    (u.  a. Recherche, Factchecking und
    Wissenschaftsjournalismus)
  • Ziel: die KI-gestützte Journalistenschule

 

Axel Springer Academy

(c) Dominik-Tryba
(c) Dominik Tryba

Ort: Berlin
Schüler:innen pro Jahr: ca. 60 (plus Tech-Studierende)

KI-Inhalte:

  • Integration von KI in alle Seminare und Workshops
  • Seminarangebot zu Prompten,
    Erkennen von KI-generierten
    Inhalten, KI-gestützte Open-Source-Intelligence-Recherchen
  • Fokus auf experimentellen Einsatz von KI im journalistischen Alltag
  • Preisgekröntes Video-Projekt
    „Reports of Resistance. Stories of freedom fighters“

 

(c) Universität Leipzig
(c) Universität Leipzig

Universität Leipzig
Ort: Leipzig
Studierende pro Jahr: 20

KI-Inhalte:

  • Einführung in LLM und Generative
    Artificial Intelligence (GAI), praktische Übungen zur Datenverarbeitung und multimediale Anwendungen
  • Praxis-Werkstatt im Modul „Aktuelle
    Trends im digitalen Journalismus“: Entwicklung von Prototypen zu GAI (Text, Bild, Video, Stimme)
  • Integration von KI in „Grundlagen des digitalen Journalismus“ und im Seminar zu journalistischer Ethik

 

TU Dortmund

(c) Roland-Baege
(c) Roland Baege

Ort: Dortmund
Studierende pro Jahr: 60

KI-Inhalte:

  • Integration von KI in Grundlagen­veranstaltungen
  • Wahlpflichtseminare und weiterführende Rechercheseminare 
  • Blockseminare zu Berichterstattung über KI und Qualitätskriterien
  • Interdisziplinäres Modul zu Algorithmic Accountability
  • Seminare zu KI-Algorithmen hinter sozialen Medien und deren Einfluss auf politische Diskurse

 

Universität Mainz

(c) JS Mainz
(c) JS Mainz

Ort: Mainz
Studierende pro Jahr: ca. 35 (Master und transnationaler Master) und 40 (Bachelor-Beifach)

KI-Inhalte:

  • Pflicht: Grundlagen und Ethik in „Einführung in den Journalismus“* und Workshops zu
    Recherche, Verifikation, Factchecking** sowie zu Funktionsweisen, Chancen und Risiken von ChatGP
  • Wahl: Workshop Datenjournalismus**; Formatentwicklung im „Kreativen Medienlabor“ z.  B. mit Hilfe von KI-Voiceover

*Tanjev Schultz, „medium magazin“-Kolumnist und Professor am Journalistischen Seminar der Uni Mainz, leitet diese Kurse. **Frederik von Castell, Chefredakteur des „medium magazins“, hält diese Kurse als Lehrbeauftragter am Journalistischen Seminar.
 

Kölner Journalistenschule

(c) Thomas Schildmann
(c) Thomas Schildmann

Ort: Köln
Schüler:innen pro Jahr: 70 bis 80

KI-Inhalte:

  • Einsteiger-Modul zum Prompten und Texten
  • Advanced-Module zu Tools, Recherche und Textarbeit
  • Hintergrundgespräche mit Fachleuten zu Ethik und konkretem Einsatz von KI
  • Eigene Fachkonferenz „Digital
    Innovation Day“ mit Schwerpunkt KI
  • Entwicklung einer schuleigenen KI-Leitlinie für den Lehrredaktions-Einsatz

 

LMU München

(c) LMU München
(c) LMU München

Ort: München
Studierende pro Jahr: 30 (Master) und 20 (internationaler MA)

KI-Inhalte:

  • Fokus: Strukturen verstehen und ausleuchten; praktische journalistische Ausbildung findet in der DJS statt
  • Forschungsprojekte zu KI, etwa Studie über KI im Wissenschaftsjournalismus
  • Regelmäßige aktuelle Fachtalks und Interviews mit Praktikern
  • Teilnahme an Konferenzen, Integration der Forschungsergebnisse in die Lehre

 

Deutsche Journalistenschule

(c) Claus Graubner
(c) Claus Graubner

Ort: München
Schüler:innen pro Jahr: 45

KI-Inhalte:

  • Zweitägiges Einführungsseminar zu
    KI, basierend auf Bedarfsanalyse mit Studierenden
  • Das Thema wird auch in den Pflichtkursen behandelt: digitale Verifikation, Onlinerecherche,
    Formatentwicklung, Datenjournalismus, Bildbearbeitung, und in tagesaktuellen Medienprojekten (Zeitung, Homepage, Newsletter)

Die Autorin

Jeanne Wellnitz ist Senior-Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion Wortwert.


 

Cover des Die Ausgabe medium magazin 03/2024  mit allen „Top 30 bis 30“-Talenten im Journalismus und dem großen Interview mit Peter Kloeppel zu seinem Abschied als RTL-Anchorman über seine Fähigkeiten, seine Defizite und wertvolle Tipps, etwa dazu, wie man live Blutleere im Kopf meistert. Außerdem: Im „Spezial: Talente finden“ erfahren Sie, welche Probleme Medienhäuser bei der Suche nach Nachwuchs haben – und wie sie sie lösen wollen. Dazu wie immer jede Menge Nutzwert für die journalistische Praxis (etwa zu sicheren Recherchieren und wie man Berliner Behörden-Chaos mit Datenjournalismus auf die Schliche kommt). Das neue „medium magazin“ ist ab sofort digital oder als Printausgabe hier erhältlich.