Werden wir bald überflüssig?
Es geschieht manchmal, dass die Gegenwart die Zukunft zu überholen scheint. Denn während die Branche auf Podien und in Workshops noch euphorisch über die Auswirkungen von künstlicher Intelligenz auf den Journalismus spekuliert, kommt aus dem Hause „Bild“ eine Nachricht mit kaum zu unterschätzender Symbolkraft. Mitte Juni verkündeten Chefredakteurin Marion Horn und CEO Claudius Senst ihrer Belegschaft die weiteren Schritte einer geplanten „Digital-only-Strategie“. Die Zahl der Regionalausgaben soll von 18 auf 12 verringert und kleinere Standorte sollen komplett geschlossen werden, berichtet der „Spiegel“. Hunderte Mitarbeiter werden dabei ihren Job verlieren. Auch die Führungsebene wird deutlich verschlankt.
Der Knackpunkt: All das hat mit künstlicher Intelligenz zu tun. Denn der „Spiegel“ zitiert aus der internen E-Mail der beiden Führungskräfte so: „Wir müssen uns damit leider auch von Kollegen trennen, die Aufgaben haben, die in der digitalen Welt durch KI und/oder Prozesse ersetzt werden oder sich in dieser neuen Aufstellung mit ihren derzeitigen Fähigkeiten nicht wiederfinden.“ Konkret wird etwa die Rolle des CvD genannt: „So wird im Layout die Rolle des klassischen Papier-CvDs überflüssig und KI schon bald das Layouten der gedruckten Zeitung komplett übernehmen können.“
Was ist nun mit dem tapferen Mantra „Chancen statt Risiken“? Schon früh hatten notorische Zyniker ja darauf hingewiesen, dass der vermeintliche Segen der KI in der Branche vor allem auf Stellenstreichungen in Redaktionen hinauslaufen würde. Und wer sich in deutschen Chefredaktionen umhört, erfährt, dass die Verlagsleitungen schon jetzt ganz heiß darauf sind, mögliche Einsparungspotenziale zu besprechen.
Horn und Senst schreiben natürlich auch, dass KI Journalisten mehr Zeit für Recherche und Kreativität schenken könnte. Wahrscheinlich ist also, dass es bald auf eine knallharte Auslese hinauslaufen wird: Welche Jobs lassen sich durch KI automatisieren, welche können hingegen mit dem zentralen „Faktor Mensch“ punkten?
Wir haben uns deshalb einige journalistische Jobprofile vorgenommen und jeweils eine kleine Zukunftsprognose für sie verfasst. Dann haben wir entsprechende Kolleginnen und Kollegen aus dem deutschsprachigen Raum um ihre Stellungnahme dazu gebeten. Auch in diesen Antworten dominieren die Zuversicht, die neue Technologie ausschließlich zum eigenen Vorteil nutzen zu können, und der Glaube daran, dass freigewordene Ressourcen anderweitig eingesetzt würden. Wer behält recht? Gut möglich, dass wir die definitiven Antworten viel schneller erhalten werden als erwartet.
Social Media
Unsere Prognose:
Social-Media-Teams sind geradezu prädestiniert für den Einsatz von KI. Schon jetzt helfen etwa einschlägige Tools bei der Moderation von Community-Beiträgen und filtern beleidigende oder diskriminierende Postings. Realistische Szenarien für die (nahe) Zukunft: Die KI schlägt für jeden Artikel in Sekundenschnelle mehrere Teaser vor, individuell für die diversen Kanäle aufbereitet, im entsprechenden Stil der Publikation und optimiert auf individuelle Zielgruppen. Gefallen die Vorschläge, reicht ein Klick, und die Postings sind abgesetzt (dass das ohne Weiteres auch ohne menschliches Zutun passieren könnte, wird noch zu einigen Diskussionen in Redaktionen führen). Social-Media-Redaktionen könnten also bald nur noch Entscheidungen der KI abnicken. Wer die Sparlogiken vieler Medienmanager kennt, weiß, dass das gezeichnete Szenario nichts Gutes für die Personalplanungen bedeuten könnte
Expertinnen-Meinung von Daphne Flieger:
„Das klingt wie autonomes Fahren für Social-Media-Redaktionen. Damit die Fahrt nicht wild wird, braucht es verantwortungsvolle Menschen, die sie sicher machen. Anpassungsfähigkeit ist eine der Grundkompetenzen unserer Teams. Social Media lebt vom Wandel, speist sich aus Trends. Wenn eine KI in den Kommentaren strafrechtlich Relevantes erkennt, löscht und anschließend sogar Anzeige erstattet, bin ich die Erste, die ihr einen Job anbietet – im Team natürlich. Mir fällt eine Reihe von Möglichkeiten ein, wie wir die gewonnene Zeit nutzen können: Warum nicht alle Videos auch barrierefrei oder in leichter Sprache anbieten? Mit KI könnten die Mundbewegungen passend zur Sprache synchronisiert werden. So würden Menschen mit Einschränkungen im Hörvermögen Lippen lesen können. Und was ist mit unserem Personal in der Redaktion? Das könnte all die wunderbaren Assistenzsysteme nutzen. Um noch mal beim selbstfahrenden Auto zu bleiben. Nur, weil ich nicht selbst lenke, heißt es ja nicht, dass ich nicht bestimme, wo es langgeht.“
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