Warum jedes Medienhaus ein KI-Kompetenzzentrum braucht

KI-Modelle verändern den Journalismus. Redaktionen müssen diese Transformation aktiv mitgestalten, um unabhängig zu bleiben. Drei Thesen, wie das gelingen kann. 

Ein Essay von Christina Elmer

Vor dem leeren Blatt zu sitzen, bedeutet Kopfzerbrechen – jedenfalls für Menschen, die journalistische Texte schreiben und nach einem guten Einstieg suchen. Vor diesem Problem sitzen wir nun nicht mehr allein. Generative Sprachmodelle wie ChatGPT liefern jederzeit wohlformulierte Ideen und Alternativen, sie fassen zusammen, übersetzen und transkribieren. Als stets verfügbare Sparringspartner können sie dabei helfen, auf neue Gedanken zu kommen. Und doch fehlt ihnen die Empathie, um Situationen nachempfinden zu können. Situationen wie das Kopfzerbrechen über den Anfang eines Textes. 

Christina Elmer ist Professorin für Digitalen Journalismus und Datenjournalismus an der TU Dortmund. Zuvor arbeitete sie in unterschiedlichen Positionen in der Redaktion des „Spiegel“ und war die erste Journalist in Residence des KI-Forschungsverbunds Cyber Valley.

Daher ist dieser Einstieg ein wunderbares Beispiel dafür, was KI-Sprachmodelle leisten können und womit sie prinzipiell überfordert sind. Denn eine passende Inspiration hatte ChatGPT für den Einstieg zu diesem Artikel freilich nicht. Stattdessen fabulierte das Modell über Stereotype und Dystopien, die inhaltlich wenig hilfreich waren, den Schreibprozess aber mit neuen Perspektiven und Ideen anschoben – ähnlich einer Starthilfe für die ersten Meter. 

Empathie ist nicht die einzige Fähigkeit, an der generative Sprachmodelle derzeit scheitern. Limitiert sind sie einerseits durch Eigenschaften, die sich aus ihrer Funktionsweise ergeben. Sie arbeiten sich von Silbe zu Silbe und verbinden, was sie in umfangreichen Trainingsdatensätzen als wahrscheinlichste Wortfolge gelernt haben. Dabei entstehen einzigartige Ergebnisse, die immerhin keine Plagiate sind, aber eben auch keine Repräsentationen eigener Gedanken oder Erfahrungen. Die Computerlinguistin Emily Bender bezeichnete die Modelle daher als „stochastische Papageien“.

Eine zweite bedeutende Einschränkung betrifft die Faktentreue dieser Aussagen, die bei reinen Sprachmodellen selten belastbar sind. Allerdings könnte sich dieses Manko bald als lösbar erweisen. Denn werden Sprachmodelle an Datenbanken angebunden, die strukturiertes Wissen enthalten, können Aussagen durchaus über existierende Quellen gestützt werden. Und damit wären sie für die Recherche deutlich besser geeignet, wie bereits erste Kombinationen andeuten – etwa in den Suchmaschinen von Bing und Perplexity AI oder bei der ChatGPT-Integration von Wolfram Alpha über ein Plug-in. 

Während Sprachmodelle die menschliche Perspektive also kaum einnehmen können, sollten wir ihre Fähigkeiten nicht unterschätzen, Informationen zu gewinnen, zu bearbeiten oder zu verifizieren. Was das konkret für den Journalismus bedeutet, zeigen erste redaktionelle Experimente. Eines ist spektakulär gescheitert: CNet ließ ein Modell ganze Serviceartikel schreiben und verzichtete offenbar auf Redigatur und Faktenchecks, ohne den Entstehungsprozess der Beiträge offenzulegen. Die waren voller Fehler, das Experiment wurde rasch wieder beendet. Buzzfeed wiederum will generative Modelle für personalisierte Quizformate verwenden und schreibt bereits Reiseartikel mit Hilfe eines KI-Bots. Einen bedeutenden Schritt weiter geht Bloomberg mit einer Eigenentwicklung: Das Medienunternehmen trainierte ein GPT-Modell auch mit eigenen Datensätzen, um es für spezifisch redaktionelle Aufgaben einsetzen zu können – etwa für das Verfassen von Überschriften oder Eingaben für das Bloomberg-Terminal. 

Die Bandbreite an möglichen Aufgaben ist groß, zudem wird deutlich: Der Geist ist bereits aus der Flasche, generative KI-Modelle verändern den Journalismus – und es ist wenig zielführend, sie ignorieren oder verbieten zu wollen. Immerhin können Redaktionen die Transformation aktiv mitgestalten, sie können ihre Unabhängigkeit sichern und die Technologie verantwortungsvoll einsetzen. Wie kann das gelingen?

1. Mit eigenen Experimenten zu mehr KI-Kompetenz

Wie lernende Algorithmen zu ihren Ergebnissen kommen, lässt sich in der Regel nicht im Detail nachvollziehen. Von außen wirken die Systeme oftmals wie eine Blackbox. Umso wichtiger ist es aber, differenziert über sie zu sprechen. Denn was den Journalismus verändert, ist nicht die eine, allwissende KI. Sondern es sind viele, spezifisch für bestimmte Aufgaben trainierte KI-Systeme. Wer kompetent mit diesen Systemen umgehen möchte, muss ihre Fähigkeiten, Eigenarten und Limitationen klar benennen, je nach Anwendungsfall und redaktionellem Umfeld.

Daher sind eigene Experimente geboten. Medienhäuser sollten sich in die Lage versetzen, Modelle selbst (weiter) zu entwickeln, zu trainieren und zu testen. Nicht nur sind dann spezifischere Ergebnisse möglich, die zumindest in Grundzügen erklärbar sind. Auch können Redaktionen so Kompetenzen aufbauen, die sie für einen verantwortungsvollen Umgang mit KI-Modellen benötigen. Idealerweise gründet jedes Medienhaus ein KI-Kompetenzzentrum, welches die notwendige Expertise und technische Infrastruktur bietet. Eine utopische Vorstellung, vor allem für kleine Redaktionen. Sie könnten kooperieren – untereinander, mit unabhängigen Forschungseinrichtungen oder Intermediären wie dem Science Media Center.

Unabhängig sollten Redaktionen auch von den KI-Werkzeugen selbst bleiben, insbesondere wenn diese von Technologieunternehmen angeboten werden. Entwickeln sie eigene KI-Modelle, können Medienhäuser den Systemen zudem beibringen, redaktionelle Qualitätsmerkmale wie Relevanz, Aktualität und Faktentreue zu priorisieren – eine Fähigkeit, die Standardmodelle nicht initial mitbringen. Und sie können sicherstellen, dass ihre Systeme weiterentwickelt werden und sowohl inhaltlich als auch technisch auf dem aktuellen Stand bleiben. Das lebenslange Lernen – im KI-Bereich betrifft es nicht nur die Mitarbeitenden, sondern auch die Technik selbst. 

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Welche Gefahren bei der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine lauern und wie Medien diese umschiffen können, lesen Sie im vollständigen Essay von Christina Elmer, der in Medium Magazin 02/23 erschienen ist. Hier geht’s zur Ausgabe. 

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