Tatort: Aufnahmestudio

Das Podcast-Genre „True Crime“ boomt seit Jahren. Doch Kritiker werfen den Formaten vor, die Grenzen zwischen seriösem Journalismus und Boulevard zu verwischen. Dürfen Medien sich zum Zweck der Unterhaltung über Verbrechen gruseln?

Text: Niklas Münch

Es gibt eine Anekdote, die Sabine Rückert gerne erzählt. Zur Teilnahme am Podcast „Zeit Verbrechen“ habe man sie geradezu drängen müssen, so die langjährige Gerichtsreporterin und stellvertretende Chefredakteurin der „Zeit“. Schließlich habe sie damals keine Ahnung von Podcasts gehabt. Und dass „Zeit Verbrechen“ nur kurze Zeit später zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen True-Crime-Podcasts werden sollte, habe sie anfangs verwundert. 

Tatsächlich war es der Erfolg von „Zeit Verbrechen“, der viele deutschsprachige Medienhäuser auf den Zug aufspringen ließ. Heute unterhält so gut wie jeder Verlag oder Sender entsprechende Formate, ob in Video-, Audio- oder Textform. Die Formel dahinter ist einfach: Besonders spektakuläre oder mysteriöse Verbrechen der Vergangenheit werden nacherzählt und möglichst spannend aufbereitet. 

Der Markt dafür ist groß: Laut einer YouGov-Umfrage hörte 2022 jeder fünfte Podcasthörer in Deutschland True Crime. Doch so groß der Erfolg, so groß ist auch die Kritik: Das Genre lasse die Grenzen zwischen Qualitätsjournalismus und Boulevard zunehmend verwischen, heißt es immer wieder.

Sabine Rückert von „Die Zeit“ kritisiert den Dünkel mancher Kollegen: „Kriminalberichterstattung ist Berichterstattung über Gesellschaft.“
Foto: Vera Tammen

So schrieb etwa die „Spiegel“-Autorin Margarete Stokowski, „Zeit Verbrechen“ wolle Qualitätsjournalismus sein, sei aber letztlich nur „Boulevard für Besserverdienende“. In Anlehnung an Neil Postmans „Wir amüsieren uns zu Tode“ postulierte Stokowski, in True-Crime-Formaten amüsierte man sich „über Tode“. Das Genre sei ein „widerliches Business“, in dem sich Journalisten ohne jegliche Einordnung über Schicksale ausließen und sich gleichzeitig als harte Hunde präsentieren könnten. Und eine Recherche der NDR-Sendung „Zapp“ kommt zu dem Ergebnis, dass in vielen Podcasts oft die Täter als Protagonisten in den Mittelpunkt rückten. Dabei sei gerade die Opferper-spektive wichtig. 

Bleibt also die Frage: Sollten seriöse Medien Verbrechen überhaupt als unterhaltende, spannend erzählte Inhalte aufbereiten? Klar ist: True Crime unterscheidet sich von klassischer Kriminalberichterstattung. Letztere begleitet aktuelle Fälle, die relevant für die Öffentlichkeit sind. Berichtet wird, wenn es einen Nachrichtenwert gibt. Bei True Crime werden meist alte, abgeschlossene Fälle recherchiert und nacherzählt, die Berichterstattung trägt selten etwas Neues bei. Das macht True Crime zu einem sensiblen Feld: Die Identität von Opfern wie auch Tätern muss geschützt, Taten sollten nicht glorifiziert werden. Und schließlich dürfen Hinterbliebene und Opfer nicht retraumatisiert werden. 

Deshalb sollen sich Medienschaffende viel öfter fragen, welche True-Crime-Geschichten wirklich erzählt werden sollten, sagt Till Ottlitz, Podcastredakteur bei Bayern 2. Er schlägt vor, dass mindestens eines von vier Kriterien erfüllt werden sollte: ein neues öffentliches Interesse, ein möglicher Anstoß zu einer gesellschaftlichen Debatte, Aufklärung oder neue Tatsachen, die eine Neubewertung des Falls möglich machen. Wenn ein Podcast keines dieser Kriterien erfülle, sei die Gefahr groß, dass er eine menschliche Tragödie nur zur Unterhaltung und zum Gruseln benutze, so Ottlitz.

Der Bayern-2-Podcast „Dr. Red Bull“ hakt ein paar dieser Punkte ab. Er erschien Ende März und wurde von Ottlitz redaktionell betreut. In der sechsteiligen Serie erzählen die Autoren Sebastian Krause und Kilian Medele das Leben des Sportmediziners Bernd Pansold, der am Dopingsystem der DDR beteiligt war und immer wieder aufgrund seiner Tätigkeit im Trainingszentrum des Konzerns Red Bull in der Kritik steht. Eine True–Crime-Ebene bekommt das Format durch die Recherche der zwei Autoren zum ungeklärten Todesfall von Pansolds Lebensgefährtin. Dadurch haben sie nicht nur Neues zu dem Fall beigetragen, sondern ergänzen auch die Erzählung über Pansolds Leben.

Till Ottlitz sieht deshalb trotz seiner Kritik auch das Potenzial von True Crime. Journalistinnen und Journalisten können davon lernen, spannender zu erzählen, Recherchewege und Quellen offenzulegen und sich als nahbare und empathische Menschen zu zeigen. Wenn gesellschaftlich relevante Probleme und investigative Recherchen wie ein spannender Kriminalfall erzählt würden, könnten sie ein größeres Publikum erreichen. 

„Boulevard ist das, was die Menschen auf der Straße bewegt“

Klare Kritik äußert die freie Journalistin Sonja Hartl, Expertin für fiktionales und nonfiktionales Erzählen über Kriminalität. True-Crime-Formate würden zwar oft behaupten, dass Fälle nicht nur nacherzählt, sondern auch anhand übergeordneter Fragen behandelt würden. Doch dieses Versprechen werde selten eingelöst, sagt Hartl. Stattdessen setze man auf „Neugier, Spektakel und Rätselraten“ ohne wirkliches Erkenntnisinteresse.

Bernd Volland widerspricht dem vehement. Er ist Redaktionsleiter bei „Stern Crime“, einer Marke der RTL Group. Dort betreut er neben dem Printmagazin auch zwei Podcasts. Alle Inhalte drehten sich um die übergeordnete Frage, was Menschen zu diesen Taten antreiben würde, sagt Volland. Auch zu Ottlitz’ Argumenten nimmt er eine Gegenposition ein. Aktuelle Kriminalberichterstattung, die Fälle in politische und gesellschaftliche Zusammenhänge einordne, sei zwar wichtig. Allerdings profitierten Geschichten auch davon, losgelöst von Aktualität und Bezug zu gesellschaftlichen Debatten zu sein. Denn so könnten die Rechercheure besonders tief in die Fälle einsteigen. 

Beim Blick ins Heft „Stern Crime – Wahre Verbrechen“ fällt auf, dass die Texte in zwei Richtungen tendieren. Manche sind literarisch geschrieben und würden auch als gute Belletristik durchgehen. Andere Texte sind klassische Reportagen und verhandeln auf einer Metaebene tatsächlich übergreifende Themen. Für den gleichnamigen Podcast werden die Texte des Hefts für Audio aufgearbeitet. Ein Sprecher mit tiefer und verrauchter Hörbuchstimme erzählt die Geschichten, ab und zu werden O-Töne eingespielt und Szenen mit Musik unterlegt. Ebenfalls zum „Stern Crime“-Portfolio gehört ein Interviewpodcast, in dem Fachleute befragt werden. 

Volland sagt, ihnen sei bewusst, dass sie in einem sensiblen Umfeld arbeiten, deshalb würden sie Opfer und Angehörige wenn möglich einbeziehen. Und: „Wenn der Täter den Text liest, darf er den nicht toll finden.“ Kritikern wirft er eine reflexhafte und dünkelhafte Abneigung gegenüber dem Thema Verbrechen vor. Kriminalität interessiere viele Menschen, Unterhaltung sei per se nicht verwerflich. Schließlich solle das Heft auch gerne gelesen werden. 

Zum Vorwurf der Boulevardisierung ist Bernd Volland zwiegespalten. Seine Inhalte seien das Gegenteil eines Boulevards, der sich extremer Zuspitzung und moralischer Urteile bediene. Denn die Inhalte von „Stern Crime“ seien lang, differenziert und absichtlich nicht wertend. Doch: „Boulevard ist auch das, was die Menschen auf der Straße bewegt.“ Kriminalität habe auch immer etwas Boulevardeskes. 

Dem pflichtet auch Sabine Rückert bei, Co-Host und Star des „Zeit Verbrechen“-Podcasts: „Eine Zeitung, die langweilt, schlägt man zu.“ Geschichten, die sich mit Kriminalität auseinandersetzen, seien eben immer besonders spannend, das liege in der Natur der Sache. Rückert begleiten diese Vorwürfe nach eigener Aussage schon seit Jahrzehnten. Bereits ihre ersten Gerichtsreportagen in den 1990er-Jahren seien „Zeit“-intern kritisch beäugt worden. Auch sie spricht davon, dass Kolleginnen und Kollegen einen gewissen Dünkel gegenüber diesen Themen hätten. Sie hält das für Quatsch: „Kriminalberichterstattung ist Berichterstattung über Gesellschaft.“ 

Bei „Zeit Verbrechen“ spricht Rückert seit dem Start 2018 zweiwöchentlich mit Andreas Sentker, Leiter des Ressorts Wissen bei der „Zeit“. Zu Beginn ging es oft um Rückerts Recherchen, in den neueren Folgen sind oft Reporterinnen und Reporter zu Gast, die über ihre Fälle berichten. Sabine Rückerts direkte Art und oft klare Haltung zu Taten und handelnden Personen wird sowohl gelobt als auch kritisiert.

Gerne spannend, aber mit welchen Mitteln? 

Doch es geht nicht nur um den Inhalt. Auch reißerische Aufmachung und Präsentation werden oft kritisiert. Das beginne schon bei dem Stil und der Sprache, sagt Sonja Hartl. Titel wie „Das Monster vom Grunewald“ würden wenig Erkenntnisinteresse vermuten lassen. Ebenso kritisiert sie die Bebilderung, wenn echte Fotos von Tatorten, Tätern und Opfern verwendet würden. Bis heute denkt Hartl an einen Text, bei dem ein Bild der blutigen Unterhose des weiblichen Opfers verwendet wurde. 

Sonja Hartl kritisiert die reißerische Aufmachung vieler True-Crime-Formate. Titel wie „Das Monster vom Grunewald“ würden wenig Erkenntnisinteresse vermuten lassen.

Auch die „ARD Crime Time“, die True-Crime-Marke der ARD Mediathek, arbeitet mit Titeln wie „Sie mussten sterben – Femizide“ oder „Auf den Spuren der drei toten Babys“ und sehr zugespitzten Teasern. Die Startseite ziert ein mit Polizeiband abgesperrter Tatort, darauf der Schriftzug „Crimetime“.

Peter Gerhardt, der für den Hessischen Rundfunk die Inhalte der anstaltsübergreifenden „ARD Crime Time“-Gruppe koordiniert, legt Wert auf ihren öffentlich-rechtlichen Anspruch. Die Inhalte hätten stets einen journalistischen Anspruch, gingen über Einzelfälle hinaus und wollten etwas mitgeben. Natürlich würden sie stets um die Balance zwischen spannender Nacherzählung und dem journalistischen Mehrwert ringen.

Gegen die Kritik, dass die Präsentation der „ARD Crime Time“ boulevardesk anmuten würde, wehrt er sich. Die Filme in der Mediathek würden eben nicht bluttriefende Details enthalten, sondern im Gegenteil beim Bildmaterial mit so viel Abstraktion wie möglich arbeiten. Es gäbe keine nachgestellten Szenen von Morden oder Gewalttaten und oft würden Illustrationen zum Einsatz kommen. Gleichzeitig wolle man natürlich Interesse für die Inhalte wecken. Das Feedback würde sie bestätigen, sagt Gerhardt. Die meisten Zuschauenden hätten Fragen zu den übergeordneten Fragen der Filme und weniger zu den einzelnen Fällen.

Auch die niedrige Zahl der Beschwerden beim Presserat zu True-Crime-Inhalten weist darauf hin, dass die Diskussion vor allem andere Medienschaffende umtreibt. Bisher hat das Gremium lediglich zwei Stücke des Genres gerügt. Die Beschwerden über konventionelle Kriminalberichterstattung und die in der Folge ausgesprochenen Rügen überwiegen dem stark. 

Auf eines können sich Befürworter und Kritiker aber einigen: Niemand mag das Label „True Crime“. Für Bernd Volland von „Stern Crime“ ist das Genre viel zu breit, Sabine Rückert von „Zeit Verbrechen“ findet andere Formate langweilig und schlecht. Die Hölle, das sind immer die anderen.


Dieser Text stammt aus der aktuellen Ausgabe von medium magazin!
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