Selbstzweifel: Welche Rolle die eigene Herkunft im Journalismus spielt
An meinem ersten Uni-Tag brachte mich ein T-Shirt aus der Fassung. Ich war 22 und gerade nach Leipzig gezogen, um Journalismus zu studieren. Auf der Brust meines Kommilitonen stand: „Bitte sprechen Sie in ganzen Sätzen, ich lese ,Die Zeit‘“. Ich trug meine Herkunft in Form von riesigen Modeschmuck-Creolen an den Ohren, ohne es zu wissen. Er trug seinen Intellekt auf dem T-Shirt vor sich her, ganz bewusst.
Meine Herkunft war lange kein Thema für mich: Zu Hause war ich ein Arbeiterkind unter vielen. Doch mit dem Umzug aus der Enge des Dorfes in die Weite der Großstadt haben sich die Selbstzweifel in meinem Leben eingerichtet. Zu Hause gab es keine „Zeit“, mein Vater las „Westfalenpost“, „Stern“ und „Bild am Sonntag“. Die Zweifel wussten das – und sie wurden nicht müde, mich daran zu erinnern: „Du hast dich in eine Welt eingeschlichen, der du nicht gewachsen bist“, wisperten sie in Endlosschleife.
Ich bin in Südwestfalen aufgewachsen, gut 50 Kilometer zur Stadt, gut 50 zur Autobahn. Eine Herde wilder Wisente streift dort durch die Wälder. Auf dem Papier ist meine Familie bildungsfern: Meine Eltern gingen zur Volksschule, nach der neunten Klasse lernte mein Vater Koch, meine Mutter in einer Anwaltskanzlei. Sie sprachen kein Englisch, sie wussten nichts von Kurvendiskussionen oder Mendel’schen Gesetzen. Gute Voraussetzungen für eine glückliche Kindheit, schlechte für eine erfolgreiche Bildungskarriere: Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien beginnen im Durchschnitt 79 ein Studium, aus Nichtakademikerfamilien nur 27.
Mitte der 90er-Jahre hatten auch die meisten Eltern in der Provinz zwischen Sieger- und Sauerland keine ambitionierten Erwartungen an die Schullaufbahn ihrer Kinder. Aus unseren zwei Grundschulklassen gingen gerade mal vier Kinder aufs Gymnasium: Britta, Marion, Steffi und ich. Hätte die Lehrerin mir eine Empfehlung für die Hauptschule gegeben, meine Eltern hätten mich ohne Protest dort angemeldet.
Auch Jens war nicht bewusst, dass er den Unterschied in meinem Leben gemacht hat.
In der neunten Klasse stand ein einwöchiges Praktikum an. Ich ging zur „Siegener Zeitung“ in die kleine Lokalredaktion in Bad Berleburg. Dort betreute mich Jens Gesper, Redakteur, damals Anfang 30. Ohne ihn wäre ich nicht Journalistin geworden. Das ist mir erst in den letzten Jahren klar geworden, in denen ich mich mehr mit Bildungsgerechtigkeit beschäftigt habe.
Auch Jens war nicht bewusst, dass er den Unterschied in meinem Leben gemacht hat. Er ist gerührt, als ich ihn deswegen anrufe. Er habe sich nie wirklich wie ein Mentor gefühlt, sagt er. Für ihn sei es selbstverständlich gewesen, mich zu unterstützen. Ihm war gleich aufgefallen, wie ernst es mir war mit dem Journalismus. „Mir hat gefallen, wie verantwortungsvoll du schon sehr jung mit Texten und Terminen umgegangen bist“, sagt er – und erinnert mich an all die Wochenendabende, an denen ich bis zum Schluss bei Vereinen saß, während meine Freunde längst in der Dorfdisko tranken. „Es ist leichter, eine Jahreshauptversammlung nicht ernst zu nehmen“, sagt Jens.
Er war kein Mentor der großen Gesten, sondern ein leiser, beständiger Vertrauter. Er gab mir das Gefühl, dass ich etwas gut machte, als meine Eltern nicht mehr darüber urteilen konnten. Er regte sich über meinen Deutschlehrer auf, der mich in der Redaktion ausrichten ließ, dass sie zur Veranstaltung seines Kulturvereins lieber einen „echten Redakteur“ als mich, seine Schülerin, schicken sollen. Jens nahm sich Zeit, wenn ich mich nach dem Unterricht neben ihn hockte, um zu lernen, wie man Seiten baut. Und er interessierte sich für mich als Mensch: Er kam zur Theateraufführung ins Gymnasium (obwohl ich nur einen Eunuchen spielen durfte). Er kam zur Beerdigung meines Vaters.
Auch als ich in Leipzig strauchelte, war er da. Schon bei Vorstellungsrunden wäre ich am liebsten aus dem Seminarraum geflüchtet. Die Aneinanderreihung von Auslandsjahren, Erasmus-Semestern, Selbstfindungstrips durch Australien oder Südostasien. Die Praktika bei den großen Zeitungen, Sendern und Magazinen. Ich schämte mich: Ich hatte gerade mal für Anzeigenblätter und kleinste Lokalredaktionen gearbeitet. Für Selbstverwirklichung fehlte das Geld, Europa hatte ich nie verlassen.
Vor Klausuren lernte ich jetzt tage- und nächtelang – aus Angst, nur so mithalten zu können. Meine Mitbewohnerin schaute meist erst am Tag vor den Prüfungen in die Bücher. Wir studierten zusammen, ich war nach wenigen Wochen zu ihr in die WG gezogen. Uns verband unsere bodenständige Art und doch unterschied uns etwas Grundlegendes: Ihre Eltern lehrten am Gymnasium. Sie hatten ihrer Tochter beigebracht, dass sie alles schaffen kann. Im Vergleich zu ihrem Selbstbewusstsein war meines ein wackliger Jenga-Turm – ein falscher Handgriff und das mühevoll aufgebaute Konstrukt würde in sich zusammenfallen. Unser Professor zog unbedacht das nächste Steinchen.
Ich hatte das Porträt eines Kommunalpolitikers geschrieben. Ein Text „auf dem Niveau von Wald-, Feld- und Wiesenjournalismus“, wie der Professor mir bescheinigte. Damit fühlten sich die Selbstzweifel bestätigt, diesmal von „ganz oben“. Er meinte diesen einen Text. Aber ich stellte nicht den Beitrag, sondern ich stellte mich infrage: Was willst du hier? Er hat dich sofort durchschaut, du bist nicht mehr als eine „Wald-, Feld- und Wiesenjournalistin“. Die Zweifel gaben vor, mich zu schützen: vor weiteren Blamagen, vor Enttäuschungen. Henri-Nannen-Schule? Den Aufnahmetest schaffst du sowieso nicht. Bewerbung um ein Stipendium? Chancenlos mit dem durchschnittlichen Abi. Praktikum bei der „Zeit“? Du machst dich lächerlich. Nichts davon versuchte ich.
An besseren Tagen weiß ich meine Herkunft zu schätzen. Ich begegne anderen auf Augenhöhe, Empathie ist keine schlechte Eigenschaft für guten Journalismus.
Aber Jens war zur Stelle, um die Trümmer meines Selbstvertrauens wieder zusammenzusetzen. Er hörte mir zu, er redete auf mich ein. Ich erzählte meinem Mentor, dass ich wenigstens Freunde gefunden hatte. Meine neuen Freundinnen sind sehr klug, betonte ich. Die besten Journalistinnen im Jahrgang. Am Ende unseres Telefonats gab er mir einen Rat: „Denk doch einfach mal in Ruhe darüber nach, warum diese klugen Frauen gerne Zeit mit dir verbringen.“
Er habe meine Zweifel nie verstanden, sagt Jens heute. Sie sind leiser geworden, aber sie werden nie ganz verstummen. Ich bin jetzt 34, gerade habe ich nach elf Jahren eine Redaktion verlassen, um mich weiterzubilden. An meinem letzten Arbeitstag lobte ein Kollege in der Konferenz meine Zuverlässigkeit. Für ihn war das ein ehrliches Kompliment, für mich ein zweifelhaftes: Zuverlässigkeit ist mein Schutzmantel, hilfreich, um nicht aufzufallen. Kaum ein aufwendig recherchierter Text hat mich mehr Nerven gekostet als dieses Psychogramm. Interessiert das irgendwen, was ich hier aufschreibe? Ich zweifle.
An besseren Tagen weiß ich meine Herkunft zu schätzen. Ich begegne anderen auf Augenhöhe, Empathie ist keine schlechte Eigenschaft für guten Journalismus. An diesen besseren Tagen möchte ich andere Arbeiterkinder ermutigen, Journalistinnen zu werden – auch wenn zu Hause nie die „Zeit“, die „Süddeutsche“ oder der „Spiegel“ im Zeitungsrohr lagen. Redaktionen sollten die Gesellschaft widerspiegeln, über die sie berichten: Dazu gehören Menschen verschiedener Herkunft, Reporterinnen und Redakteure mit Einwanderungsgeschichte und unterschiedlichen Biografien. Natürlich sind unsere Medienhäuser nicht divers genug. Natürlich haben Kinder nicht dieselben Bildungschancen. Es ist ungerecht. Aber Teil meiner Wahrheit ist auch, dass ich an mir selbst gescheitert bin.
Gelegentlich lehre ich als Gastdozentin an der Uni. Eine Studentin schrieb in ihrer Bewerbung um ein Volontariat, dass vor allem mein Seminar sie in ihrem Berufswunsch bestärkt hat. Bald ist sie Redakteurin. Manchmal rufen mich junge Kollegen nach Dienstschluss an, weil sie Rat brauchen. Ich versuche, mir auch an stressigen Tagen Zeit für sie zu nehmen. Das sind die schönen Momente, in denen die Zweifel Sendepause haben. Ich fände es schön, so wie Jens den Unterschied im Leben eines jungen Menschen zu machen.
Mit meinem Kommilitonen, der an unserem ersten Uni-Tag das „Zeit“-Shirt trug, und mit meinen fünf klugen Freundinnen aus Leipzig verbringe ich auch 13 Jahre nach Studienbeginn mindestens einmal im Jahr ein gemeinsames Wochenende. Auch ich freue mich jede Woche auf die „Zeit“. Aber dieses T-Shirt würde ich niemals tragen.
Dieser Text stammt aus der aktuellen Ausgabe 01/21 von medium magazin. Das komplette Heft als E-Paper oder Printexemplar finden Sie in unserem Shop.