Medium Magazin 06/2021
EDITORIAL / Alexander Graf, Chefredakteur
Über den Mut zur Langsamkeit
Ich habe wirklich viel gelernt in diesem Jahr. Eine Sache davon ist, dass man als Chefredakteur eines sechsmal im Jahr erscheinenden Magazins ganz schnell Abstand vom gewohnten Nachrichtenrennen nehmen muss. Das mag erst mal trivial und wenig überraschend klingen. Aber glauben Sie mir, liebe Kolleginnen und Kollegen aus Onlineressorts und Tagespresse: Wenn die vermeintlich brisantesten Nachrichten der Branche stets kurz vor Andruck eintrudeln, fällt es doch schwer, dem eingeübten Impuls zu widerstehen und nicht noch irgendeinen Schnellschuss ins Heft zu quetschen.
Dabei mag ich diesen publizistischen Zeitlupen-Rhythmus eigentlich sehr. Zum einen steigt die grundsätzliche Gelassenheit, was auch die Mitmenschen freut, zum anderen bleibt so die Gelegenheit, sich auf die eigenen Stärken zu besinnen. Ausgeruhte und durchdachte Stücke, die ihre Relevanz vor allem dadurch gewinnen, dass sie über die Nachricht hinaus größere Fragen stellen – und beantworten.
Und das wiederum entspricht auch meiner ganz persönlichen Idealvorstellung von gutem Journalismus.
Mehr Mut zur (nachdenklichen) Langsamkeit würde uns allen meiner Ansicht nach ganz gut tun. Dennoch hatte ich kurz vor Druck dieser Ausgabe wieder einmal einen dieser Momente, in denen ich das miese Timing des Nachrichtengeschehens verfluchte. Julian Reichelt meldete sich in der „Zeit“ zu Wort. Das erste Mal seit den erneuten Anschuldigungen und seinem anschließenden Rauswurf bei „Bild“. Und das just zu dem Zeitpunkt, wo wir ein Interview mit dem Team von Ippen Investigativ zu ihren Recherchen in der Affäre im Heft haben. Wie viele mögliche Fragen zu seinen Behauptungen einem da noch durch den Kopf gehen. (Zumal es bei der vorhergehenden Ausgabe sein Rauswurf war, der mit ähnlich fiesem Abstand zum Drucktermin eingetrudelt war.)
Lauter Gewinner:innen
Sei’s drum. Und wenn wir mal ehrlich sind, beklagt Reichelt im Gespräch mit Cathrin Gilbert zwar die angeblich grassierende Opfermentalität, nutzt das Interview dann aber vor allem, um sich selbst als Opfer darzustellen. Frustrierte ExKollegen, ein „Schriftsteller“ und sein eigentlicher Buddy im Kampf gegen den „neuen DDR-Obrigkeitsstaat“, Mathias Döpfner, haben ihn also auf dem Gewissen. Nun ja, wer sich da mehr erwartet hatte, kennt Reichelt wohl eher schlecht. Ansonsten bestreitet der ehemalige „Bild“-Chef alle Vorwürfe gegen ihn. Mal sehen also, ob in dieser Geschichte schon das letzte Wort gesprochen ist.
Ich habe natürlich trotzdem noch schnell bei Ippen Investigativ nachgefragt. Die Antwort von Reporterin Juliane Löffler: „Die im ‚Spiegel‘ veröffentlichten Recherchen sprechen für sich. Daran ändert auch Julian Reichelts Interview in der ‚Zeit‘ nichts.“ Ich bin mir ohnehin sicher, dass Sie unser Gespräch mit Löffler, Daniel Drepper, Marcus Engert und Katrin Langhans mit Gewinn lesen werden (Seite 28). Zumal der Anlass des Interviews neben der Relevanz des Themas noch ein besonders erfreulicher ist: Unsere Jury hat das Team zu den „Journalistinnen und Journalisten des Jahres 2021“ gewählt. Vor allem auch für ihren Mut und das Rückgrat, das sie gegenüber ihrem Verleger Dirk Ippen bewiesen haben.
Auch in den weiteren Kategorien finden sich zahlreiche herausragende Kolleginnen und Kollegen, die mit ihrer Arbeit in diesem Jahr 2021 geglänzt haben. Eine Besonderheit gibt es zudem in der Kategorie Lebenswerk: Sie geht in diesem Jahr posthum an die große Politikjournalistin Bettina Gaus, die im Oktober dieses Jahres verstorben ist.
Sagen Sie uns, was Sie denken!
Zum Abschluss dieses Jahres möchte ich Sie bitten, mir bei der kontinuierlichen Verbesserung von „medium magazin“ zu helfen. Auf unserer Website www.mediummagazin.de finden Sie eine wirklich kurze Umfrage, mit deren Ergebnissen ich noch besser verstehen möchte, was Sie als Leserinnen und Leser von uns erwarten. Mehr Hintergründe über die Branche? Mehr Nutzwert für den Berufsalltag? Mehr Boulevard und Flurfunk? Oder sind Sie einfach rundum zufrieden? Sagen Sie es uns. Unter allen Teilnehmenden verlosen wir ein Jahresabo.
Wir schauen jedenfalls schon mit vielen neuen Plänen auf das kommende Jahr. Verraten darf ich an dieser Stelle schon, dass wir uns endlich auch ins Podcast-Territorium wagen und mehrere Kooperationen mit spannenden und frischen Hosts an den Start bringen werden. Ich freue mich drauf – und auf Ihr Feedback.