Medium Magazin 05/23
EDITORIAL / Alexander Graf, Chefredakteur
Was wir wirklich wissen müssen
Es schien manchen wohl nur wie eine weitere tragische Meldung in einem grausamen Konflikt. 500 Tote bei einem israelischen Luftangriff auf ein Krankenhaus im Gazastreifen, meldeten mehrere internationale Top-Medien am 17. Oktober. BBC, CNN, die „New York Times“ – sie alle brachten große Schlagzeilen, ganz weit oben auf den Webseiten. Auch deutsche Medien berichteten ähnlich darüber. Die Quelle der Nachricht: das palästinensische Gesundheitsministerium, das von der Terrororganisation Hamas geführt wird.
Am folgenden Tag legten die israelischen Behörden allerdings Material vor, das Israels Unschuld belegen sollte. Und auch Journalisten und Factchecking-Organisationen kamen in tieferen Recherchen bald zum Schluss, dass die ursprüngliche Meldung nicht korrekt gewesen sein konnte – vielmehr soll es sich um eine fehlgeleitete palästinensische Rakete gehandelt haben. Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe gab es daran keinen vernünftigen Zweifel mehr. Die „New York Times“ veröffentlichte gar eine „Editors Note“, in der sie ihren Fehler einräumte. Aber wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass die renommiertesten Medien dieser Welt derart sensible Falschmeldungen verbreitet haben?
Der Vorfall lädt gleich auf mehreren Ebenen zum Nachdenken über das journalistische Handwerk ein. Zum einen zeigt er eindrücklich, dass viele vermeintlich unstrittige Regeln heute nicht mehr funktionieren. So reicht etwa die Angabe „laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium“ als Einordnung oft schlicht nicht aus. Denn was als Schlagzeile auf einer vertrauenswürdigen Nachrichtenseite steht, wird in den Augen vieler Nutzer erst einmal zum Fakt – „laut XY“ hin oder her.
Medien machen sich mit solchen faulen Formulierungen zum reinen Verlautbarungsorgan und laufen Gefahr, ihre Leser zu täuschen – das gilt natürlich besonders, wenn die Quelle eine Terrororganisation ist. Aber auch im alltäglichen Nachrichtengeschehen sollten wir einmal grundsätzlich darüber nachdenken, ob die klassische Ein-Quellen-Nachricht („Laut Lobbyverband XY mangelt es an …“) wirklich noch ihre Berechtigung hat.
Zum anderen zeigt der vermeintliche Raketenangriff erneut, wie schwierig es zunehmend für Medien wird, in Kriegs- und Konfliktsituationen Fakten von Fakes zu trennen. Eine Welle von Video- und Bildmaterial überschwemmte bald nach dem Massaker der Hamas die sozialen Medien, oft verbreitet von Fake-Accounts, die sich als Journalisten etablierter Medien oder Vertreter israelischer Behörden ausgaben. Viele Medien haben bei der Verifikation einen guten Job gemacht – und dennoch: Die Fragilität vermeintlich sicheren Wissens, und damit des Fundaments seriösen Journalismus, wurde uns selten so deutlich vor Augen geführt.
Höchste Zeit also, dem Begriff „Wissen“ ein eigenes Dossier zu widmen. Schließlich betrifft er unseren Job in ganz unterschiedlichen Facetten: Was können wir als Medienschaffende überhaupt wissen? Was müssen wir wissen? Und wie beeinflusst neues Wissen womöglich unsere Art, Journalismus zu machen – etwa anhand von detaillierten Nutzerdaten im Digitalen? Mögliche Antworten auf diese Fragen finden Sie in dieser neuen Ausgabe.
Wertschätzung für heimliche Heldinnen und Helden
Die Hidden Stars sind unter unseren Auszeichnungen ein ganz besonderes Format. Denn hier geht es vor allem um kollegiale Wertschätzung – schließlich ist unsere Branche nicht gerade für ihre wertschätzende Arbeitskultur bekannt. Allerdings muss ich zugeben: Angesichts der oft sehr emotionalen und persönlichen Nominierungsbegründungen scheint es in vielen Redaktionen offenbar doch eine Atmosphäre zu geben, die Raum für ehrliches Lob und Anerkennung lässt. Lassen Sie sich ab Seite 68 doch auch davon inspirieren!
Lassen Sie mich gerne wissen, wie Ihnen diese Ausgabe von „medium magazin“ gefällt. Ich freue mich über Lob, Kritik und Anregungen an: alexander.graf@mediummagazin.de.
Herzlich, Ihr Alexander Graf