Medium Magazin 05/2021
EDITORIAL / Alexander Graf, Chefredakteur
Alles ist erlaubt?!
Wie war das noch mal? Ist jetzt alles erlaubt oder darf man heute gar nichts mehr sagen? So einfach ist die Antwort auf diese Frage offenbar gar nicht mehr. Denn während die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gemeinhin als eine Zeit der kontinuierlichen gesellschaftlichen Liberalisierung erlebt wurde, wurden die Klagen über vermeintlich enger werdende Meinungskorridore und dominante Moralvorstellungen zuletzt immer lauter.
Ich persönlich kann mit diesem Befund von angeblich zunehmenden Tabus im gesellschaftlichen Diskurs rein gar nichts anfangen. Vertreter dieser These schulden mir bis heute wirkliche Belege, die über gefühlte Wahrheiten, nostalgischen Kulturpessimismus und leicht widerlegbare Beobachtungen hinausgehen.Aufklärung und Appell
Wir haben uns deshalb von den aufgebauschten gesellschaftlichen Diskursen gelöst. Stattdessen haben wir den Blick auf ganz klassische journalistische Tabus gerichtet und dabei eine Menge Neues gelernt. Unser Autor Theodor Schaarschmidt hat sich etwa dem Thema Suizidalität genähert. Schon in der Ausbildung wird jedem Volontär und jeder Journalistenschülerin eingebläut, dass Medien darüber nicht – oder nur mit äußerster Zurückhaltung – berichten. Hintergrund ist der sogenannte „Werther-Effekt“: Wird über Suizide öffentlich berichtet, steigt oft die Anzahl der Nachahmer, so die in den meisten Redaktionen bekannte Annahme. Schaarschmidts Recherchen stellen das nicht grundsätzlich infrage – er zeigt uns anhand des „Papageno-Effekts“ und den Positionen von Suizid-Überlebenden aber eindrücklich, wie ein anderer medialer Umgang mit dem Thema aussehen könnte (Seite 42).
Julia Friedrichs, mehrfach ausgezeichnete Reporterin, Autorin und Filmemacherin, hat in einem pointierten Appell zudem aufgeschrieben, warum Journalistinnen und Journalisten keine PR machen sollten (Seite 46). „Zu erklären, dass sich beide Berufe ähnlich seien, weil sie mit Worten und Bildern arbeiten, ist genauso absurd, wie eine Nähe zwischen Schneidern und Pathologinnen herbeizufantasieren, weil beide mit Schere, Nadel und Faden agieren“, schreibt Friedrichs. Zwar wurde schon oft über diese Frage gestritten – Friedrichs Text zeigt aber schonungslos, dass wir uns mit dem aktuellen Status Quo nur in die eigene Tasche lügen.
Zahlenströme und Datenberge
Neben viel Stoff für Debatten steckt in dieser Ausgabe aber auch wieder eine ganze Menge Nutzwert für den Berufsalltag. Wir zeigen Ihnen beispielsweise, wie Sie mit Metriken besseren Journalismus machen. Denn Pageviews und Conversions sind alles andere als die Totengräber unseres journalistischen „Bauchgefühls“, sagt Elisabeth Gamperl (Seite 60). Und wenn Sie bei Langzeitrecherchen mitunter das Gefühl haben, in all den Gesprächsprotokollen, Notizen, Links und Dateien den Überblick zu verlieren, hilft Ihnen der Text von Florian Sturm. Er hat die besten Tipps und Tools von internationalen Rechercheprofis gesammelt (Seite 55).
Ich wünsche Ihnen spannende Erkenntnisse mit dieser neuen Ausgabe von „medium magazin“ und freue mich über Anregungen und Kritik (alexander.graf @ mediummagazin.de).