Medium Magazin 01/2017
EDITORIAL / Annette Milz, Chefredakteurin
Zeit zum Gegenhalten
Das Schreckensjahr 2016 lehrt und vor allem eins: Ein „Weiter so“ kann es nicht geben
„Zeit zum Innehalten“ stand auf vielen Weihnachtskarten 2016. Ein frommer Wunsch. Wie soll man innehalten, wenn eine Schreckens-„Lage“ die nächste jagt? Türkei und Syrien, Brexit und Trump, die Attentate in Nizza, München, Ansbach – und schließlich auch in Berlin. #prayforberlin als trending topic bei Twitter – eine schreckliche Botschaft zu Weihnachten.
Die Angst greift um sich in dieser Gesellschaft und düngt den Nährboden für Demagagogen und Volksvergifter. Schon für 2016 wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache „postfaktisch“ zum Wort des Jahres. Und beschreiben damit die gefährliche gesellschaftliche Entwicklung, wenn Gefühle mehr zählen als Fakten.
„Der Begriff des Postfaktischen ist eigentlich ein ehrenrühriger Beschreibungsfatalismus, die verbalradikale Feier der eigenen Ohnmacht“, schreibt allerdings Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in der „Zeit“ vom 15.12. „Man formuliert ein Problem, eben den schwindenden öffentlichen und politischen Geltungsanspruch von empirisch gesicherter Erkenntnis – und blendet aus, was sich tun ließe.“ Nämlich, gemünzt auch auf Journalisten: „… die eigenen Auswahlkriterien und Quellen offenzulegen und sich um die selbstreflexive, transparente, dialogisch orientierte Begründung von Relevanz, Stichhaltigkeit und Objektivitätsanspruch zu bemühen“, so die zutreffende Forderung Pörksens.
Wir haben den journalistischen Umgang mit dieser Entwicklung zum Themen-Schwerpunkt in dieser Ausgabe gemacht (Seite 22) – lange vor dem Terroranschlag in Berlin. Auf schreckliche Weise unterstreicht das die Bedeutung, „postfaktischer“ Haltung wirksam entgegen zusteuern und die eigenen Reflexe zu überprüfen:
Verbreitet nicht jede politische Provokation.
Die FAZ legte im Dezember offen, wie die AfD es in ihrer Wahlkampfstrategie für 2017 geradezu darauf anlegt, mit gezielten provokativen Äußerungen in die Schlagzeilen zu kommen oder via Twitter verbreitet zu werden („retweets“). Thematisiert solche Provokationen, aber gebt den Zitaten nicht dauernd eine Plattform.
Schafft mehr Transparenz im eigenen Tun.
Vorbildlich: Die Süddeutsche veröffentlichte gleichzeitig mit den ersten Berichten über die Panama Papers ein Video zur Entstehungsgeschichte und erklärte darin die eigene Arbeitsweise. „Zeit Online“ richtete Anfang Dezember ein virtuelles „Glashaus“ ein, der Begriff als Programm: Eine gläserne Redaktion, die transparent mit ihrer Arbeit und ja, auch ihren Fehlern umgeht.
2017 wird es Zeit zum Gegenhalten. Höchste Zeit.
In eigener Sache
Zum 13. Mal hat die „medium magazin“-Jury die „Journalisten des Jahres“ gewählt. An der Spitze der mehr als 100 Kolleginnen und Kollegen, die die Jury für herasuragende Arbeit mit der Wahl ehrt, 2016 wenig überraschend, das SZ-Team Bastian Obermayer, Frederik Obermaier und Vanessa Wormer, die die Hauptverantwortung in den Recherchen für die „Panama Papers“ tragen. Die Offenlegung der Zusammenhänge in den weltweiten Offshore-Praktiken ist zweifellos der journalistische Scoop des Jahres 2016 gewesen. Ohne Internet wären die umfassenden Recherchen kaum möglich gewesen. So ist es ein Zeichen zur richtigen Zeit, dass in diesem Jahr ein Onliner zum „Chefredakteur des Jahres (national)“ gewählt wurde: Jochen Wegner von „Zeit Online“.
2015 hatten wir zwei Kategorien geändert, um den veränderten Arbeitsweisen Rechnung zu tragen: Aus der „Redaktion des Jahres“ wurde „Team des Jahres“ (2016: Correctiv), aus „Newcomer“ „Entrepreneur des Jahres“ (2016: Martin Hoffmann mit „Resi“). Geändert haben wir in dieser Ausgabe auch die Präsentation der Ergebnisse: Erstmals gibt es die Gesamtübersicht über alle Gewinner mit allen Jury-Begründungen in einem eigenen 24-seitigen Special als Heft in diesem Heft. Es war zugegeben ein Kraftakt. Sollten uns trotz allen Bemühens Fehler unterlaufen sein, lassen Sie es uns bitte wissen. Fehler zu korrigieren ist uns eine Pflicht, keine Schande.
PS: Ausnahmsweise enthält dieses „medium magazin“ keine Journalisten-Werkstatt, aber die nächste Ausgabe garantiert wieder.
Hier eine kostenlose Leseprobe: