Medium Magazin 01/23
EDITORIAL / Alexander Graf, Chefredakteur
Über Liebe und Ekel im Lokalen
Es gibt da diesen wunderbaren Text von Anna Mayr, den ich seit seinem Erscheinen 2016 auf ruhrbarone.de immer wieder mal aufrufe und lese. Er heißt: „Warum mich der Lokaljournalismus anekelt“. Anders als es der Titel vielleicht vermuten lässt, ist das Stück aber kein herablassender Kommentar. Es ist vielmehr eine leidenschaftliche und warmherzige Hymne an den Lokaljournalismus und die Menschen, die ihn machen – und zugleich eine gnadenlose Abrechnung mit der Branche
Mayr (Jg. 1993), die in ihren journalistischen Anfangstagen für Redaktionen im Ruhrgebiet arbeitete und heute Redakteurin im Hauptstadtbüro der „Zeit“ ist, schreibt darin unter anderem: „Wie soll man an einen Job glauben, den andere verlieren oder gar nicht erst bekommen, wie soll man an eine Branche glauben, von der junge Menschen sagen: ‚Da will ich auf keinen Fall enden, bei den Kaninchenzüchtern und Hunderennen.‘ Die jungen Menschen sagen das, obwohl sie selber dort arbeiten, obwohl es ihr Job ist, aber sie sehen sich nur auf der Durchreise. Denn auf Schulungen hören sie Begriffe wie ‚schrecklicher Lokaljournalistenstil‘ oder ,Lokal runterbrechen‘, worin erbrechen ja schon angelegt ist. Dabei ist es gar kein Runterbrechen, eine Geschichte von nebenan zu erzählen. Eigentlich tut der_die Lokaljournalist_in doch deutlich mehr, als an einem Newsdesk eine Agenturmeldung abzuschreiben.“
Ich lese diesen Text nicht nur immer wieder gerne, weil er klug, witzig und herausragend geschrieben ist. Sondern vor allem, weil ich den darin beschriebenen Gefühlszwiespalt so gut nachfühlen kann. Zum einen diese Liebe für Lokalzeitungen und den Lokaljournalismus, den ich oft als spannender, ehrlicher, herausfordernder und – ganz entgegen dem Vorurteil – als relevanter empfand als den hundertsten wichtigtuerischen Leitartikel zu Außenpolitik in überregionalen Medien. Und gleichzeitig diese Ernüchterung über veraltete technische Ressourcen, über „Das haben wir schon immer so gemacht“ und Digitalisierungsverweigerer – und über Kraut-und-Rüben-Texte von pensionierten Lehrern, die trotzdem zum Aufmacher werden, weil das Blatt eben täglich gefüllt werden muss.
Seit Mayrs Text und meiner eigenen Zeit im Lokalen ist viel passiert. Die Herausforderung, junge Menschen für diesen Job zu begeistern, ist in vielen Häusern zwar weiterhin ein drängendes Problem (s. „medium magazin“ 04/22). Die meisten Lokalzeitungen haben aber mittlerweile verstanden, dass sie sich den wandelnden Umständen anpassen müssen. Es wird wieder mehr über Inhalte und Journalismus gesprochen, es werden neue digitale Formate auch einfach mal ausprobiert – es geht um Innovationen, Zukunft, Zuversicht. Und wir erleben gerade wieder eine Welle von lokaljournalistischen Start-ups, wie es sie bereits vor etwas mehr als zehn Jahren unter dem Etikett „hyperlokale Blogs“ gab. Sie wollen den Platzhirschen vor Ort mit konstruktivem, digitalem und dialoggetriebenem Journalismus Konkurrenz machen. Grund genug also, dem Lokalen mal wieder einen Schwerpunkt im Heft zu widmen.
Rabes Pläne und Gniffkes Reformen
Aber auch die überregionale Branche erfordert derzeit ganz besonders die medienjournalistische Aufmerksamkeit. Allen voran natürlich die Zerschlagung des traditionsreichen Hamburger Verlags Gruner + Jahr durch Bertelsmann-Boss Thomas Rabe – inklusive der Ankündigung, zahlreiche Titel entweder einzustellen oder zu verkaufen. Rund 500 Vollzeitstellen sollen so im Haus wegfallen, 200 weitere an die künftigen Käufer übergehen. Für viele Medienschaffende kam diese schockierende Nachricht überraschend. Unsere Autoren Thomas Schuler und Wolfgang Messner haben daher tief in der Vergangenheit gegraben, um den langfristigen Plan hinter den aktuellen Ereignissen nachzuzeichnen.
Da könnte man glatt vergessen, dass die ARD sich immer noch mitten in der Aufarbeitung der Skandale des vergangenen Jahres befindet. Der Reformdruck ist immens – und was in den kommenden Monaten im Senderverbund angestoßen wird, könnte weitreichende Auswirkungen auf die gesamte Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks haben. In dieser brisanten Phase hat Kai Gniffke nun den ARD-Vorsitz übernommen. Wolfgang Scheidt hat in unserem Titelinterview mit Gniffke über die geplanten Reformen gesprochen. Und ihn gefragt, wie seine vom „Spiegel“ kolportierte Aussage zur „verschissenen ARD“ zu seinem künftigen Aufgabenprofil als Mittler zwischen neun Landesanstalten passt. Gniffkes Antworten lesen Sie ab Seite 18.
Schreiben Sie mir gerne, wie Ihnen die neue Ausgabe gefällt (alexander.graf@mediummagazin.de). Ich freue mich auf Ihre Mails.