Desinformation: Die problematische Rolle von Journalisten
Von Felix M. Simon
„In Zeiten von Fake News …“ – Wer dieser Tage auf einer der vielen Digital-, Demokratie- oder Medienkonferenzen vorträgt und etwas auf sich hält, kommt ohne diesen Satz fast nicht aus. Ebenfalls beliebt: vielfältige Referenzen zum „Post-Truth-Zeitalter“ und der grassierenden Mis- und Desinformation im Netz. Es wäre ja auch fade, wenn man dem eigenen Vortrag nicht qua Rückgriff auf die ultimative Bedrohung für liberale Werteordnung und Demokratie etwas Schärfe verleihen könnte.
Ein Gespenst geht um, schon seit Jahren: Das Gespenst der Mis- und Desinformation. Da werden Studien bemüht, die vermeintlich zeigen, wie Bots, Fake News und Falschinformationen das Ende der Wahrheit bedeuten – und wenn schon nicht das, dann zumindest das Ende von gesellschaftlichem Zusammenhalt und der Demokratie. Verschiedene Fachleute warnen vor den Folgen von Falschinformationen, egal ob im Zusammenhang mit Wahlen oder der Coronapandemie. Die Politik, die Wissenschaft, der Journalismus – sie alle spitzen bei diesem Thema spätestens seit 2016 ganz besonders die Ohren.
Und es stimmt ja auch. Falsche oder irreführende Inhalte, egal ob absichtlich oder unabsichtlich gestreut, sind ein Problem und können sehr reale Folgen haben. Etwa, wenn sie Menschen dazu verleiten, Pferdeentwurmungsmittel zu konsumieren, in der Hoffnung, dass dieses sie zuverlässig gegen Covid-Infektionen schützt (Spoiler: Das ist Unfug, bitte nicht nachmachen). Auch für das soziale Miteinander können Falschinformationen böse Folgen haben. Denn klar ist auch: Für eine funktionierende demokratische Gesellschaft braucht es zuverlässige und wahre Informationen. Nur so können – zumindest in der Idealvorstellung – die bestmöglichen Entscheidungen diskutiert und getroffen werden. (Dass die Realität selbstredend diesem Anspruch nie ganz gerecht werden kann, muss uns hier nicht weiter beschäftigen.)
Was jedoch bei all der Fixierung auf Mis- und Desinformation gerne vergessen wird: Diese Fixierung selbst birgt ebenfalls Gefahren. Und Journalistinnen und Journalisten kommt in diesem Zusammenhang eine besondere, durchaus problematische Rolle zu.
Desinformationsforschung wird gerne politisch instrumentalisiert – wehrt sich aber auch nicht besonders gegen diese Form der Aufmerksamkeit.
Doch beginnen wir von vorne. Innerhalb wissenschaftlicher Kreise steht das Forschungsfeld schon länger im Fadenkreuz der Kritik – auch wenn dies in Medien und Politik kaum zur Kenntnis genommen wird. Häufig wird etwa kritisiert, dass es an rigoroser Methodik mangelt: Studien aus Twitter-Daten sagen zum Beispiel wenig über den Rest unseres Informationssystems aus. Zudem fehle es an klaren Definitionen: Wo etwa hören „echte Nachrichten“ genau auf und wo fangen „Fake News“ eigentlich an? Ebenso würden komplexe Kommunikationsprozesse auf einfache, monokausale Erklärungen zusammengeschrumpft. Dazu kommt, dass die meisten Forschungsarbeiten intersektionale Faktoren (Geschlecht, Ethnie, Klasse) gerne ignorieren und obendrein die meisten Studien nur auf westeuropäische Länder und insbesondere die USA schauen – wobei sich allein schon diese Gesellschaften nicht wirklich miteinander vergleichen lassen. Der letzte Nagel im Sarg ist der Einfluss des Forschungsfelds auf die Politik. Desinformationsforschung wird gerne politisch instrumentalisiert – wehrt sich aber auch nicht besonders gegen diese Form der Aufmerksamkeit. Das wiederum kann problematische Gesetze zur Folge haben, wie sich nicht zuletzt an der umstrittenen britischen Online Safety Bill zeigt, die dieser Tage wegen ihres möglichen negativen Einflusses auf die Meinungsfreiheit heiß diskutiert wird.
Wo kommen hier die Medien und der Journalismus ins Spiel, fragen Sie sich jetzt vermutlich? Vereinfacht gesagt lautet die Antwort: Indem sie dem Thema und der dazugehörigen Forschung oft zu viel Aufmerksamkeit schenken. Ein Grund dafür ist sicher, dass vielen Journalisten oft Zeit, Platz und mitunter auch Sachkenntnis fehlen, um Studienergebnisse in der nötigen Tiefe und im Kontext darzustellen – oder einfach zu erkennen, wann man eine Studie wegen mangelnder Qualität besser ignorieren sollte. Zudem birgt das Thema die nötige „Sexyness“, die es für eine spannende Story braucht. Geheime russische Desinformations-Kampagnen sind nun einmal spannender als Haushaltsdebatten.
Wenn ein Thema „hochgejazzt“ wird oder Forschungsergebnisse aus dem Zusammenhang gerissen und vereinfacht dargestellt werden, kann schnell ein Diskurs entstehen, der Mis- und Desinformation als zentrales Übel unserer Gesellschaft definiert.
Diese Punkte treffen sicher auf viele Themenbereiche zu. Doch beim Thema Mis- und Desinformation wirken sie besonders stark. Ein Grund könnte sein, dass sich viele der vermeintlichen Studienergebnisse in den oft homogenen Milieus der Redaktionen einfach richtig anfühlen. Wenn gefühlte Wahrheiten bestätigt werden, sinkt schnell die redaktionelle Skepsis. Ein Beispiel ist ein 2021 weit zitierter Bericht der Cornell Alliance for Science, der den damaligen US-Präsidenten Donald Trump als die größte Misinformation-Schleuder zum Thema Covid ausmachte. Wer wollte da widersprechen? Entsprechend weiträumig wurde die Geschichte aufgegriffen, unter anderem durch die „New York Times“. Leider machte sich niemand die Mühe, einen genaueren Blick auf die Studie selbst und deren Methodik zu werfen, die für den behaupteten Kausalzusammenhang stichhaltige Beweise schuldig blieb. Ähnlich verhielt es sich zum Beginn der Pandemie, als zahlreiche Medien der Behauptung einer vermeintlichen „Infodemie“ Glauben schenkten, ohne die dahinterliegenden Thesen kritisch zu überprüfen. Kürzlich veröffentlichte Studien legen mittlerweile den Schluss nahe, dass es eine Infodemie in der damals beschriebenen Form nie gegeben hat.
Solche Fehler können passieren, doch der dauerhaft erhöhte Fokus schafft Probleme. Wenn ein Thema „hochgejazzt“ wird oder Forschungsergebnisse aus dem Zusammenhang gerissen und vereinfacht dargestellt werden, kann schnell ein Diskurs entstehen, der Mis- und Desinformation als zentrales Übel unserer Gesellschaft definiert und darüber hinaus andere, strukturellere und oftmals auch gefühlt langweiligere soziopolitische Themen missachtet.
Einfluss und Vertrauen entstehen nicht allein dadurch, dass man sie sich herbeiredet. Stattdessen muss man sich beide verdienen, jede Woche aufs Neue. Zu sagen „Die Wahrheit ist unter Beschuss, lest und vertraut uns“, genügt nicht.
Gleichzeitig ist das Thema Mis- und Desinformation auch deshalb so beliebt, weil es einen Selbstlegitimierungs-Diskurs im Journalismus befeuert: Wenn die Wahrheit selbst in Gefahr ist, dann, so die Schlussfolgerung, werden die Medien und der Journalismus als Bastion derselben nur noch wichtiger. Weil „Fake News“ vermeintlich überall sind, sollten die Menschen dem Journalismus vertrauen. Diese Logik ist so intuitiv wie problematisch. Denn zum einen sind auch Medien nicht unschuldig, wenn es um die Verbreitung von Falschinformationen geht – sei es aus ideologischen und ökonomischen Gründen oder schlicht aus Versehen. Zum anderen kann der reflexartige Verweis auf die Bedrohung durch Falschinformationen schnell davon ablenken, dass es verschiedene strukturelle Probleme im modernen Journalismus gibt, die es zuerst zu lösen gilt, wenn man sich mehr Bedeutung für die eigene Profession wünscht. Einfluss und Vertrauen entstehen nicht allein dadurch, dass man sie sich herbeiredet. Stattdessen muss man sich beide verdienen, jede Woche aufs Neue. Zu sagen „Die Wahrheit ist unter Beschuss, lest und vertraut uns“, genügt nicht.
Was also ist zu tun? Zusammen mit meinem Kollegen Chico Camargo habe ich kürzlich für die Harvard Kennedy School Misinformation Review skizziert, was die Mis- und Desinformationsforschung selbst tun kann, um sich zu verbessern, doch einige unserer Thesen treffen genauso gut auf den Journalismus zu.
Ein zentraler Punkt dabei: Es muss viel genauer und vorsichtiger mit kausalen Aussagen umgegangen werden. Gleichzeitig müssen Studien rigoros auf methodische Schwächen geprüft werden. Das Vorkommen von Bots auf Twitter, die womöglich Falschinformationen im Vorfeld einer Wahl verbreiten, bedeutet eben noch nicht, dass deshalb hinterher ein bestimmtes Wahlergebnis eingetreten ist. Impfskepsis wiederum ist nicht ausschließlich auf schlechte Informationen oder über Telegram verbreitete Falschinformationen zurückzuführen. Nur selten halten entsprechende Studien bei genauerer Überprüfung, was sie behaupten. Gerade bei der Berichterstattung zu neuer Forschung wäre es deshalb begrüßenswert, wenn sie nicht nur nuancierter und vorsichtiger wäre, sondern sich auch stärker am Wissenschaftsjournalismus in anderen Bereichen orientierte. Hier werden seit Längerem an den Studien nicht beteiligte Forscherinnen und Forscher um Kommentare gebeten – entweder als zusätzliche Quellen oder in strukturierter Form, wie es zum Beispiel bei den Experteneinschätzungen durch das Science Media Centre geschieht.
Zudem wäre es geboten, dass der Journalismus seine Priorisierung dieses Themas noch einmal grundsätzlich überdenkt – denn trotz aller Warnungen ist das Ende der Wahrheit bisher ausgeblieben. Dabei geht es nicht darum, gar nicht über Falschinformationen und ihre Folgen zu berichten, sondern vielmehr zu überlegen, was für Folgen eine solche Berichterstattung auf Dauer haben könnte – und welche Themen durch sie vernachlässigt werden.
Dieser Beitrag stammt aus medium magazin 05/22. Die aktuelle Ausgabe 02/23 mit einer Recherche zu Funke-Chefin Julia Becker, einem Praxis-Special zu KI-Tools für Medienprofis, dem Dossier „Macht“ sowie ganz viel Nutzwert für die journalistische Berufspraxis ist ab sofort digital oder als Printausgabe hier erhältlich oder im ikiosk.