Best of 2021: Warum wir über unsere (Selbst-)Zweifel sprechen müssen
Von Anne Haeming
Dieser Text ist in medium magazin 01/21 erschienen.
„Meine Zweifel sind der Grund, weshalb ich mich 2020 endgültig selbstständig gemacht habe“, sagt Andrea Huss, bis dahin Teil der „Emotion“-Chefredaktion. Zehn Jahre lang hatte sie zuvor schon zusätzlich als Coach gearbeitet. „Ich fragte mich wie viele meiner Klienten: Bin ich in der Branche noch richtig mit meinen Werten?“
Zweifel und Selbstzweifel sind im Journalismus oft zwei Seiten einer Medaille. Einerseits gehört das Infragestellen zum Grundhandwerk. Andererseits ziehen immer mehr Medienschaffende längst nicht mehr nur vermeintliche Fakten in Zweifel – sondern gleich ihre ganze berufliche Identität: „Bin ich hier noch richtig?“, lautet die Frage dann. Manche Gründe dafür sind lange bekannt. Der steigende Druck durch die digitale Transformation der Branche. Niedrigere Honorare, schlechtere Verträge, dazu der Anspruch, sich neue Fähigkeiten anzueignen, auf noch mehr Kanälen präsent zu sein. Diese „Herausforderungen“ und ihre Folgen sind umfassend erforscht – von „Verfügbarkeitskultur“ ist da etwa die Rede, von „Selbstausbeutung“.
Hinzu kommt die zunehmende Hetze gegenüber Journalistinnen und Journalisten. In seiner 2020 erschienenen Studie zum Thema attestiert der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick, sie seien „in hohem Ausmaß von Hass und Anfeindungen betroffen“. Knapp 60 Prozent berichteten von mindestens einem Angriff im Vorjahr. Wie existenziell die Lage längst ist – physisch, emotional, finanziell – machte das „Manifest der Freien“ des Freischreiber-Verbands vor einem Jahr deutlich. „Freie Journalist*innen brauchen die Solidarität, Loyalität und den Schutz ihrer Auftraggeber*innen mehr denn je“, heißt es da.
Die Pandemie als Vergrößerungsglas
„Geringes Einkommen, fehlende Absicherung, mitunter auch sinnentleerte Arbeit, soziale Missachtung des Berufs, all das kann zu mehr Zweifeln führen“, sagt auch Thomas Schnedler von Netzwerk Recherche. „Das ist nicht nur eine individuelle Angelegenheit – Verbände wie Politik sollten sich für diesen Zustand verantwortlich fühlen.“ Er hat eine besondere Verbindung zum Thema: In seiner Doktorarbeit hat er die Unsicherheitsgefühle von Prekarität im Journalismus untersucht. „Ich habe damit offene Türen eingerannt“, sagt er. Schnell fand er viele, die über diese sehr persönliche Situation sprechen wollten, „das hat mich selbst überrascht“. Die Krise der Branche werde von vielen als persönliches Defizit wahrgenommen, hat er in seinen Interviews bemerkt. Schnedlers Arbeit erschien bereits 2017. Doch die Pandemie wirkt nun wie ein Vergrößerungsglas für all das: Die Probleme sind noch deutlicher sichtbar – und es wird schneller brenzlig.
Das stellte auch John Crowley fest. Er war leitender Onlineredakteur beim „Wall Street Journal“, danach Chefredakteur der britischen „International Business Times“. 2018 startete als Teil des News Impact Networks sein internationales Umfrageprojekt „Journalists Under Pressure“ – das Ergebnis schafft es gleich in die Überschrift: „Why journalists need to talk about workplace burnout right now“. Zwei Jahre später, die Pandemie brach gerade über die Welt herein, wiederholte Crowley seine Umfrage. 130 Kolleginnen und Kollegen füllten sie aus. 77 Prozent gaben an, die Pandemie habe den Arbeitsstress erhöht, 57 Prozent davon erklärten, ihre Produktivität leide. In der Einleitung schreibt er: „Mein Name ist John Crowley und ich bin ein Journalist mit Burnout. Ich habe Überstunden angehäuft, Newsrooms geleitet und bin entlassen worden.“ Es habe eine Pandemie und diese Umfrage gebraucht, um dies öffentlich zu erklären. Sein Beruf habe seinem Wohlbefinden geschadet.
Fürs Zoom-Interview sitzt John Crowley im Schneidersitz auf seinem Bett zu Hause in London. Den Mittagstermin musste er verschieben, er macht gerade nebenher eine Ausbildung zum „Mental Health First Aider“, ein Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit. Das Training gehört zu seinem Plan: Mit einem Kollegen entwickelt er derzeit ein Workshop-Programm, um in Redaktionen anderen beizubringen, wie sie besser auf sich achtgeben. Es helfe, dass sie selbst Journalisten seien, da ist er sich sicher. Denn noch gebe es in vielen Häusern Abwehrreflexe: Es dominiere das berufliche Selbstbild, „tough“ und bloß nicht schwach zu sein. Belastung einzugestehen passe da nicht, erst recht nicht für jene in Leitungsfunktion. Mit Blick auf seine eigene Situation, so Crowley, sei das Glas aber wieder „halbvoll“: Denn er hat ja nun einen neuen Plan. Dazu gehört auch, nach dem Gespräch am Nachmittag erst mal mit seinen Kindern Fußball zu spielen – auch solche Prioritäten seien unerlässlich fürs Wohlbefinden.
Andrea Huss ist auch auf der anderen Seite der Selbstzweifel angekommen. Auch sie ist in einer Doppelrolle: Sie kennt Branche, Redaktionen, Abläufe, die immer gleichen Diskussionsstränge rund um agiles Arbeiten. Sie kennt den Mix aus intrinsischer Motivation und Identifikation mit der Sache einerseits, Vernachlässigung des eigenen psychischen wie physischen Wohlbefindens andererseits. „Diesen Job mit Herzblut zu machen, führt schnell zu Selbstausbeutung“, sagt sie. „Wenn meine Arbeit nicht mehr meinen Werten entspricht, kommen irgendwann die Selbstzweifel.“ Sie stieg aus, ist nun Vollzeit-Coach.
Auch bei Alice Hasters hat der Zweifel mit einer Mehrfachrolle zu tun: Sie ist Journalistin, Expertin – und Betroffene. Ihr Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ erschien 2019, es wurde ein Bestseller. Auch deswegen fragt sie sich, ob „Autorin“ ihre Rolle am besten beschreibt. „Geht es um Rassismus, drehen sich die Köpfe in meine Richtung“, sagt sie. Eine „Zwickmühle“, findet sie: „Ich kann nicht jedes Mal alles stehen oder liegen lassen, wenn etwas passiert.“ Sie fühle sich regelrecht getrieben: „Ich setze die Themen nicht, ich reagiere nur noch.“ Für viele People of Color gehört längst dazu, emotionalen Energieaufwand und juristische Kosten in die journalistische Arbeit mit einzurechnen – wegen des Hasses, der Drohungen, denen sie ausgesetzt sind. Nicht nur, wenn der TV-Komiker Dieter Nuhr sich in seiner Sendung über sie lustig macht, auch wegen der oft retraumatisierenden Fragen von Redaktionen nach konkreten Rassismuserfahrungen. Auch wenn sie nicht darüber empört sein könne, so Hasters, schließlich habe sie die persönliche Perspektive über ihr Buch selbst angeboten – „andere aber eben nicht“. Redaktion sollten aber dafür sensibilisiert sein.
Es gibt viele Geschichten wie die von Andrea Huss, John Crowley oder Alice Hasters. Aber was muss passieren, damit sich etwas ändert? Hasters hat einen eigenen Zugang gefunden – sich mit anderen austauschen, weniger online sein, Twitter meiden. Aber das brauche Disziplin, sagt sie. Dazu der Entschluss, sich vor allem als „Autorin“ zu verstehen. Denn: „Themen in Form von Büchern aufzuarbeiten, bringt einen guten Veröffentlichungsrhythmus mit sich. Um zu schreiben, muss ich mich isolieren.“ Das gebe ihr Raum für Zweifel: „Denn ich möchte ja zweifeln können und meine eigene Haltung zu einzelnen Debattenpunkten kritisch hinterfragen.“
Auch Ferda Ataman erzählte Anfang 2020 im „medium magazin“-Titelinterview, Schreiben sei kaum noch möglich, „ohne den Ballast der Bedrohung“ vorab mit einzurechnen. Seit sie nicht mehr regelmäßig ihre Spiegel-Online-Kolumne liefern müsse, so Ataman, „merke ich, wie froh ich bin, dass mal Ruhe im Karton ist. Bei einer Kolumne kannst du nicht immer selbst entscheiden: Habe ich heute die mentale Verfassung, mit dem Stress umzugehen?“ Sie hat ihren Fokus derzeit verschoben, ist Vorsitzende der Neuen Deutschen Medienmacher*innen, im Vorstand der „Neuen Deutschen Organisationen“. Ein ähnliches Umdenken bemerkt auch Coach Andrea Huss bei jenen, die zu ihr kommen, um Klarheit zu finden: „Die Frage, die ich meinen Klienten stelle: Wenn du das noch fünf Jahre weiter machen würdest – wie fühlst du dich dabei?“ Der Anteil jener, die frustriert ausstiegen, sei groß.
Die Branche muss ein Vorbild sein
Dazu brauchte es aber auch Branchenlösungen. Allein schon deshalb, weil Journalistinnen und Journalisten als Folge der Arbeitsbedingungen ihre Sorgfaltspflicht vernachlässigen, wie Schnedler herausgefunden hat: „Das hat Folgen für die Qualität der Berichterstattung – und damit für den Journalismus allgemein.“
Aber die Verantwortung der Verlagshäuser reicht weiter. Angesichts massiver eigener Probleme – drastische Auflagenrückgänge, Stellenabbau oder Ressortstreichungen – fällt leicht aus dem Blick, dass es auch für andere um etwas geht. Wenn Honorare und Wertschätzung wegfallen. Wenn Redaktionen Hass-und-Hetz-Spiralen lostreten, sie über Social Media weiterdrehen und damit andere Kolleginnen und Kollegen noch mehr Hass aussetzen. Diese Umsicht wünscht sich auch Alice Hasters. Wenn Redaktionen sich explizit gegen Rassismus positionieren und aktiv weiterbilden, sei schon viel gewonnen: „Alle können sich Wissen über Rassismus aneignen“ – statt das Thema und damit zusätzliche Belastung immer nur an Betroffene abzugeben.
Ein Anfang wäre, Selbstzweifel positiv zu besetzen. Es wäre schließlich nur einen konsequenten Schritt entfernt von dem, was Jörg Sadrozinski so formuliert: „Journalismus funktioniert nicht mit vorgefertigter Meinung. Zweifel wenden unseren Blick, lassen uns die eigene Position, Gewohnheiten und Gewissheiten infrage stellen.“
Angewendet auf die eigene Arbeitskultur könnte das einen positiven Effekt auf eine Redaktion haben, glaubt Andrea Huss. Voraussetzung sei aber, dass die Führungsebene wisse, wie sie die kritische Kraft ihres Teams für Veränderungen nutzen kann. Andernfalls drohe noch mehr Frustration. John Crowley ist da hoffnungsvoller: „Die Pandemie hat uns gelehrt: Wir brauchen diese Soft Skills“, sagt er. „Die Pandemie ist die kritische Masse.“
Gut möglich, dass sich die Sorgen aber auch mit der nächsten Generation erledigt haben. Denn die sieht in idealistischer Selbstausbeutung offenbar keinen Mehrwert mehr. „Junge Menschen sagen einfach: Nö, unter diesen Arbeitsbedingungen habe ich keine Lust“, so Crowley. Mit Blick auf ihre Jahre bei „Emotion“ sagt auch Huss, bei Jüngeren habe sie zuletzt weniger Selbstzweifel ausgemacht. Zwar vermutet Sadrozinski, dass DJS-Schüler eher „bersten vor Selbstbewusstsein“, weil ihre allseits betonte Eliten-Position „sicher auch dazu führt, dass sie resistenter gegen Druck sind“. Aber zugleich sagt er mit Blick auf aktuelle Stellenkürzungen: „Die Zweifel an der Branche dürften derzeit generationenübergreifend sein – die Signale sind deutlich. Derzeit werden Dinge ausgehebelt, die ich bisher nie in Frage gesehen hätte.“
Der Druck wird also höher. Die Fragen nehmen zu. „Sonst warb ich immer mit breiter Brust und selbstbewusst für unsere Branche, dachte, es geht immer vorwärts“, so Sadrozinski. „Aber momentan bin ich nicht positiv gestimmt. Ja, ich zweifle.“ Man hört ihm an, dass er sich dabei über sich selbst wundert. Zu seiner Zeit hätte nie jemand eigene Defizite thematisiert, sagt er noch. Aber: „Ich teile die Meinung, dass es ein wichtiges Thema ist, gerade in der heutigen Zeit. Wie wir das in der Ausbildung in der Reporterfabrik auffangen, muss sich noch zeigen.“
Aus John Crowleys Perspektive ist genau das ein Anfang. Wenn Führungskräfte feststellen, dass es Bedarf gibt, sich gezielt um die psychische Gesundheit ihrer Leute zu kümmern. Letztlich ginge es dabei um nichts weniger als die Glaubwürdigkeit des Journalismus: „Wir können nicht von oben herab immer wieder aufschreiben, wie gesunde Arbeitskultur aussieht – und dem selbst nicht gerecht werden“, so Crowley. „Wir als Branche müssen Vorbild sein.“