Nicht mehr nur im Silicon Valley, auch in Europa gedeiht die Start-up-Kultur – und im Zentrum dieser Entwicklung steht Berlin, das sich rasant zu einem der europäischen Start-up-Hotspots entwickelt. Zwar fehlt es der noch jungen Start-up-Szene an der Spree noch an Erfahrung und erfolgreichen Vorbildern zur Orientierung und Förderung. Das Ökosystem muss sich erst entwickeln. Und deutsche Kapitalgeber investieren zurzeit vor allem in Ideen, die sich in anderen Teilen der Welt bereits bewährt haben („Copycats“). Eine gewisse Risikoscheu zeichnet oftmals aber auch die Gründer selbst aus – hier kommt auch die deutsche Kultur mit ins Spiel.
Trotz dieser Schwierigkeiten boomt die Start-up-Szene hierzulande. Denn viele der „Digital Natives“ ziehen das Arbeiten in einem kreativen, agilen und pulsierenden Start-up gegenüber einem klassischen Konzern mit etablierten Strukturen und langwierigen hierarchischen Entscheidungsprozessen vor. Berlin bietet zudem einige Vorteile für junge Unternehmer: Neben niedrigeren Lebenskosten lassen sich an der Spree noch relativ leicht bezahlbare Programmierer und Entwickler finden. Außerdem kommt die pulsierende Kreativszene den Start-ups auch mentalitätsmäßig entgegen: die jungen Unternehmen pflegen flexible und offene Strukturen, kurze Entscheidungswege und eine Trial-and-Error-Einstellung: Neue Ideen werden kurzerhand ausprobiert und ebenso schnell wieder abgeschafft, wenn sie nicht ankommen. In vielen Start-ups ist es geradezu erwünscht, dass Mitarbeiter nicht in Vollzeit arbeiten, sondern nebenbei anderen Projekten nachgehen und sich so auch von außen Impulse holen.
Und auch das macht Start-ups gerade für junge Kreative so attraktiv: Es zählt vor allem Kompetenz und „cultural fit“, also ob Mitarbeiter mit ihrer ganzen Persönlichkeit ins Team passen. Positionsbezeichnungen und Hierarchien spielen da keine Rolle mehr.
Start-ups an der Spree
Noch ist die internationale Bekanntheit deutscher Start-ups zwar die Ausnahme – wie der Musikdienst SoundCloud, in der Spielebranche die Portale wooga und Zynga oder die Meinungsplattform „Amen“, in die Schauspieler Ashton Kutcher mehrere Millionen investiert hat. Gerade für Medienhäuser und Journalisten lohnt es sich aber, einen genaueren Blick auf die Start-up-Szene zu werfen. So sind allein in den letzten drei Jahren mehrere Start-ups entstanden, die auf die Anforderungen im Social-Media-Zeitalter reagieren und interessante Ansätze für die Medienbranche liefern – beispielsweise für die Darstellung von redaktionellen Inhalten auf mobilen Endgeräten. Denn (junge) Nutzer surfen heute vorwiegend über mobile Endgeräte im Internet. Der Erfolg vieler Anwendungen steht und fällt damit, wie gut sie auf dem Smartphone und Tablet genutzt werden können. Das gilt auch für Nachrichten-Angebote. Sie müssen übersichtlich sein, gut designt und möglichst alle gewünschten Inhalte an einem Ort bündeln.
Das haben Anbieter von Apps wie Pulse, Flipboard und Niiu erkannt (s. a. Seite 48 ff.). Sie bieten Nutzern die Möglichkeit, in einer einzigen Anwendung über alle gewünschten Nachrichten(-Dienste) informiert zu bleiben. Leser erhalten durch übersichtliche Anordnung von Inhalten und bildstarke Optik einen ersten Überblick und können auf Wunsch in einzelne Themen tiefer einsteigen.
Ein anderes Anwendungsbeispiel ist das Feld des Kuratierens: Das Internet bietet viele Möglichkeiten, sich Informations-Inhalte individuell und neu zusammenzustellen. Jeder Nutzer kann so zum eigenen Kurator werden. Dieser Trend hat sich aus dem „Customized“-Wahn der letzten Jahre entwickelt, durch den sich Nutzer alles online selbst zusammenstellen und personalisieren sollten: vom Kalender, Parfum und Knabbermix über Müsli und T-Shirts bis hin zu iPad-Hüllen und Badeperlen. Viele dieser Start-ups sind mittlerweile Geschichte –geblieben ist der Wunsch, Dinge selbst und in neuer Weise zusammenzustellen.
Im Bereich Publishing bedeutet das: Leser können sich Inhalte verschiedenster Herkunft neu zusammenstellen und aufbereiten, damit selbst zu Herausgebern von Medienprodukten werden, indem sie andere Inhalte kuratieren.
Unter den vielen Kuratierungsdiensten hat sich Storify aus den USA als Marktführer herauskristallisiert. Doch daneben sind weitere interessante Dienste mit unterschiedlichen Schwerpunkten wie Scoop.it oder im deutschsprachigen Raum Paper.li entstanden (siehe Seite 48 f.).
Lernstoff für Medien
Die etablierten Medien dagegen haben bisher noch zu wenig das Potenzial erkannt, das in den mit mobilen Geräten ausgestatteten Nutzern liegt. Menschen lassen sich gerne in spannende und sinnvolle Projekte mit einbeziehen – dies ist speziell für Regionalzeitungen ein lohnenswertes Feld.
Dass deutsche Traditionsverlage oft Schwierigkeiten mit der Anpassung ans digitale Zeitalter haben, zeigt sich auch in unterschiedlichen Debatten, wie aktuell zum Leistungsschutzrecht. Karsten Wenzlaff, Gründer und Geschäftsführer des Instituts für Kommunikation in sozialen Medien, analysiert die Problematik auf ikosom.de wie folgt: „Die Debatte um das Leistungsschutzrecht, aber auch um die Haushaltsabgabe werden so gut wie nie im Hinblick auf die Innovationsfähigkeit geführt, sondern immer nur um die angebliche gesellschaftliche Verantwortung für die Medienvielfalt, die de facto in eine gesellschaftliche Verantwortung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk der jetzigen Form und der Printzeitungen in ihrer jetzigen Form uminterpretiert wird.“
Was also können Medien von Start-ups lernen? Außer konkreten Ideen ist es vor allem die Unternehmenskultur des Ausprobierens, die es ermöglicht, kreativ und flexibel auf neue Einflüsse zu reagieren. Dazu gehören allerdings auch entsprechende Rahmenbedingungen – wie beispielsweise Teilzeitmodelle, flexible Arbeitszeiten und -orte. Jenseits der Medienbranche versuchen bereits einige Großkonzerne auf verschiedenen Wegen, sich etwas von der Start-up-Welt in die eigene Firmenwirklichkeit zu holen. So lässt zum Beispiel die Otto Group eigene Mitarbeiter in Coworking Spaces arbeiten, wo die Angestellten auf Kreative, Gründer und Freiberufler treffen und so neue Einflüsse mit ins Unternehmen bringen.
TUI hat aufgrund positiver Erfahrungen gleich selbst einen Coworking Space gegründet: Das Modul 57 befindet sich in Hannover und heißt neben den TUI-Mitarbeitern auch Start-ups und Freiberufler willkommen – so wie zum Beispiel den Energieberatungs-Dienstleister blueContec, der hier entstanden ist. Das Ziel: Zugang zur Kreativszene bekommen, nah dran sein an den digitalen Veränderungen, neue Projekte initiieren.
Manchmal ist es allerdings einfacher, sich Start-ups einzukaufen und auf diese Weise von ihrer Kultur, dem Wissen und der Kreativität zu profitieren – große US-Firmen machen es vor (so strebt aktuell zum Beispiel LinkedIn an, die News-App Pulse zu kaufen).
Einen ganz neuen Weg geht nun Axel Springer, indem der Verlag in Kooperation mit der im Silicon Valley ansässigen Gründerschmiede Plug and Play Center ein spezielles Förderprogramm für deutsche und europäische Start-ups initiiert. „Axel Springer Plug and Play“ will Gründer bei der Entwicklung und Umsetzung digitaler Geschäftsideen unterstützen und dabei natürlich auch selbst profitieren – sowohl finanziell als auch in puncto Innovation.
Ein weiterer Punkt ist, dass offenbar viele Medien bis heute nicht die Bedeutung der sozialen Medien und den Siegeszug der mobilen Endgeräte begriffen haben. Erfolgreiche Start-ups sind hingegen Social-Media-affin und nutzen die sozialen Medien als Marketing- und Kundenbindungskanal. Medienhäuser sollten nicht denken, dass „jeder“ eine Facebook-Seite pflegen oder über das Unternehmen twittern könnte. Wichtig ist auch die Investition in eigene Apps, die das Angebot nicht nur responsiv an kleinere Bildschirmgrößen anpassen, sondern d
ie Besonderheiten der mobilen Nutzung mit einbeziehen.
Abschauen sollten sich Medien auch eine gewisse Technikverliebtheit. Start-ups sind heute mehr denn je technikgetrieben. Lars Hinrichs, Xing-Gründer und Betreiber der Start-up-Gründerschmiede HackFwd, bezeichnet Entwickler gar als „Künstler des 21. Jahrhunderts“. Was dies für Medien und Journalisten bedeutet, beschreiben die drei renommierten Journalisten C. W. Anderson, Emily Bell und Clay Shirkey in ihrem Buch „Post-industrial journalism: Adapting to the present“: „Journalisten sollten lernen zu programmieren. (…) jeder Journalist sollte Basiskenntnisse darüber besitzen, was Code ist, was er kann und wie man mit denen kommuniziert, die darin kompetent sind.“ Der Mangel an technischem Verständnis sei eine der Hauptbarrieren für Nachrichtenorganisationen, um sich weiterzuentwickeln. Doch was passierte? Florian Nöll, Vorstandsmitglied des Bundesverbands Deutsche Startups e.V., drückt es so aus: „Medien haben in den letzten Jahren leider häufig versucht, heutige Jobs zu sichern – auf Kosten der Jobs, die in Zukunft entstehen müssen“ (s. a. Interview S. 50).
Tatsächlich finden sich in Medienhäusern meist geballte geschäftsmännische und redaktionelle Kompetenzen, aber wenig technisches Know-how. Genau dies ist aber die Voraussetzung für neue Konzepte, zukunftsträchtige Lösungen und spannende Anwendungen. Ein positives Beispiel ist „Zeit online“ mit seinem Newsroom-Konzept, bei dem die räumliche Trennung von Redaktion und Programmierern aufgelöst wurde.
Ziel sind gemeinsame Projekte, eine neue Wertschätzung der Techniker und das verstärkte Einbeziehen ihrer kreativen Impulse. Zusätzlich suchte „Zeit online“ im vergangenen Jahr gezielt nach Entwicklungsredakteuren, die „technisch orientierte Projekte vom kleinen Twitter-Widget bis zum komplexen Tablet-Relaunch“ (s. „medium magazin“-Interview mit Wolfgang Blau von 2012: http://bit.ly/11NQYHw) umsetzen – eine klare Investition in die Zukunft.
Yvonne Ortmann ist freie Journalistin in Kiel.
y.ortmann@gmx.de
Erschienen in Ausgabe 04/202013 in der Rubrik „Special“ auf Seite 54 bis 55 Autor/en: Yvonne Ortmann Center.Tv. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.