Als Hurrikan „Sandy“ Ende Oktober Teile der amerikanischen Ostküste verwüstete, wurden die „Crisis Maps“ von Google für viele vom Hurrikan Betroffene zum wichtigsten Informationsdienst in der tagelang andauernden Krisensituation. Die Karte zeigte den Verlauf des Wirbelsturms in Echtzeit und viele aufrufbare zusätzliche Informationen wie die Lage der Schutzräume, lokale Warnungen, Fotos, Videos etc. Für New York enthielt sie auch Evakuierungszonen und -zentren.
Auch die sozialen Netzwerke wurden zum Nachrichtenticker: Bei der Bilderplattform Instagram wurden zeitweise zehn neue Sturmfotos pro Sekunde hochgeladen. Der ortsbasierte Dienst Foursquare verdeutlichte mit einer Vorher-nachher-Visualisierung von Check-Ins (eine Art Meldung, wo man sich gerade befindet), wie das öffentliche Leben in Lower Manhattan nach den Stromausfällen zum Stillstand kam. Über die hyperlokale Datenplattform Everyblock informierten sich Anwohner in New York und Philadelphia gegenseitig, welche Geschäfte geöffnet waren, wo es Benzin gab, und organisierten freiwillige Aufräumdienste. Und via Twitter und Facebook flossen lokale Informationen, die Medien häufig erst Stunden später veröffentlichten.
Solche nutzwertigen Infos statt der unzähligen nacherzählten Sturmschicksale hätte sich der New Yorker Journalismusprofessor und Medienberater Jeff Jarvis auch von „seinen“ lokalen Medien gewünscht, als er nach „Sandy“ eine Woche lang in New Jersey ohne Strom, Heizung, Benzin und Nahverkehr festsaß – und sich schlecht informiert. „Journalisten stützen sich immer noch zu sehr auf den linear erzählten Bericht. Aber was wir in Krisensituationen wirklich brauchen, sind Daten und Beziehungen“, fordert Jarvis. Von Medien bereitgestellte Plattformen, auf denen Menschen in Echtzeit über Stromausfälle oder Kontaktmöglichkeiten zur Stadtverwaltung würden und Rat und Hilfe austauschen könnten, nützten der lokalen Gemeinschaft mehr als „Berichte, die immer dazu neigen, uns entweder zu wenig mitzuteilen oder zu viel von dem, was wir ohnehin schon wissen“, sagt Jarvis auch aus eigener Erfahrung.
Lokale Lücken
Doch nicht nur in Ausnahmesituationen wie Naturkatastrophen werden soziale Netzwerke und Tech-Unternehmen immer häufiger zur ersten Anlaufstelle für dringend benötigte Informationen. So bietet in den USA die Wohnungsbörse AirBnB (das Vorbild für das deutsche 9flats) Reisenden nicht nur die Vermittlung einer privaten Unterkunft, sondern auch nutzergenerierte Ausgehtipps für die nächste Umgebung, ähnlich wie die ortsbasierten Dienste Yelp, Qype oder Foursquare.
Über die Website FixMyStreet können Briten und Kanadier ihren Kommunen Straßenschäden oder defekte Parkbänke mitteilen und ihre Verwaltungen öffentlich unter Druck setzen, sich um Missstände im öffentlichen Raum zu kümmern. In London bietet das Nonprofit-Projekt „Bomb Sight“ Karten mit genauen Einträgen, wo im Zweiten Weltkrieg Fliegerbomben einschlugen, ergänzt mit Zeitzeugenberichten.
Das Portal „Frankfurt Gestalten“ lässt Nutzer in der Mainmetropole lokalpolitische Vorhaben verfolgen und eigene Anliegen einstellen. Und die Stadt Wien stellt über ihr Webportal „Offene Daten Wien“ Servicedatenbanken (wie z. B. einen Schwimmbadkostenrechner) bereit und gibt die Daten auch für programmierte Anwendungen Dritter frei (so entstand beispielsweise eine Mobil-App für kostenlose Kurzzeitparkzonen).
Solche Angebote boomen – und sie haben eins gemeinsam: In der Regel werden sie ohne Medienbeteiligung betrieben. Dabei hat keiner mehr angehäuftes lokales Wissen als Lokalmedien, von Stadtarchiven mal abgesehen. „Redaktionen sitzen auf Bergen von Datensätzen, die schlecht genutzt verkümmern“, sagt der Berliner Datenjournalist Lorenz Matzat (s. Interview Seite 50) und bestätigt damit eine fundamentale These, die Everyblock-Gründer Adrian Holovaty schon 2006 formulierte: Lokalredaktionen sollten über Ortsdaten nicht bloß berichten, sondern Datenbanken damit füttern und Daten zum Mittelpunkt eines stärker nutzerorientierten Angebots machen.
Hamburger Straßenprojekt
In Deutschland gibt es erste Ansätze von Lokalzeitungen, Ortsdaten systematischer zu nutzen. Im November 2012 startete das „Hamburger Abendblatt“ einen kartenbasierten Straßenratgeber. Für ihren neuen Straßenratgeber (künftig umbenannt in „Alles über ihre Straße“) recherchierte und bewertete die Redaktion zwei Monate lang über 8.000 Hamburger Straßen und hinterlegte in einer Onlinedatenbank zu jeder Straße Texte über verschiedene Kriterien wie Zustand, Wohnqualität, Familienfreundlichkeit etc. Nutzer können die Angaben bewerten und kommentieren. Der Straßenratgeber ist online, auf Smartphones und Tablets verfügbar, per Klick können die Nutzer nach Straßen suchen, einzelne Bewertungen abrufen, Kommentare einsehen und selbst über die Straßen abstimmen.
„Der Straßenratgeber ist der Anfang eines langfristig gedachten Projekts“, sagt Chefredakteur Lars Haider. Es sei vor allem vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Wohnungsmarkt in Hamburg die Nutzer stark interessiert. Den einzelnen Straßen im Ratgeber sollen künftig zunehmend Lokalnachrichten, Service- und Veranstaltungsinformationen zugeordnet werden. „Unser mittelfristiges Ziel ist es, dass man über die Eingabe eines Straßennamens alles Wissenswerte aus einem Umkreis von zwei Kilometern erfährt.“ Zu den 25 am häufigsten geklickten Straßen plant die Redaktion eine Themenseite auf abendblatt.de. Am gefragtesten waren in den ersten Wochen Osterstraße, Reeperbahn und Elbchaussee. Allerdings stellt sich die Frage, ob solche Anwendungen als geschlossene Silos konzipiert werden sollten (das Angebot des „Abendblatt“ steckt hinter der Paywall) oder alternativ als offenes vernetztes Projekt, an dem Medien und Nutzer per Crowdsourcing zusammen arbeiten. Die Fülle der Informationen in der Datenbank wird dadurch reichhaltiger, allerdings braucht es dann eine Kontroll- oder Bewertungsinstanz für die Eingaben. Eine Alternative bieten White-Label-Plattformen wie „Lokaler GIS“, damit nicht jede Lokalredaktion eigene Entwicklungsredakteure braucht.
Kooperation statt Einzelgänge
Das Beispiel Nahraum zeigt, dass es gerade für kleinere Redaktionen schwierig sein kann, Plattformen allein mit eigenen Ressourcen nicht nur zu starten, sondern auch am Laufen zu halten. Die 2009 gestartete Fotodatenbank der „Ruhr Nachrichten“ in Dortmund, auf der alle Bilder räumlich und zeitlich verortet sind, wächst nach hoffnungsvollem Beginn nur noch sehr langsam und wird nach Angaben von Philipp Ostrop, Leiter der Stadtredaktion Dortmund, derzeit nicht weiter forciert.
Ein Ressourcen schonenderer Weg liegt in der Nutzung vorhandener Bilderplattformen. Die Koblenzer „Rhein-Zeitung“ lässt alle Fotos, die Instagram-Nutzer mit dem Kürzel #rheinstagram markieren, automatisch auf einer Unterseite ihrer Homepage (www.rheinstagram.de) einlaufen. Weitere Kürzel sorgen für eine genauere örtliche und thematische Differenzierung.
Lokalredaktionen sollten gerade bei personeller Knappheit der Versuchung widerstehen, das Rad stets neu erfinden zu wollen, und ihre Ressourcen lieber für Anwendungen einsetzen, die ihre Nutzer ohnehin schon nutzen.
Dass dies keine Notlösung ist, beweist nicht nur die „Rhein-Zeitung“, sondern auch die erheblich größere „New York Times“. Sie reaktivierte ihre 2011 beim Hurrikan „Irene“ gestartete Unterseite #instacane umgehend für „Sandy“ und profitierte so von der (Bilder-)Flut.
Link:Tipps
Google Crisis Map: http://google.org/crisismap/sandy-2012
Jeff Jarvis (buzzmachine): Journalism as service – Lessons from Sandy: http://bit.ly/RkFLvM
Adrian Holovaty: A fundamental way newspaper sites
need to change: http:// www.holovaty.com/writing/fundamental-change/
Das Projekt nahraum.de, „medium magazin“ 06/2010: http://bit.ly/TZwju6
Praxis Datenjournalismus von Christina Elmer in „medium magazin“ 12/2012, s. a. Online-Archiv:
www.mediummagazin.de
Werkstatt „Datenjournalismus“, Ulrike Langer, „medium magazin“ 2011, 4,99 Euro, zu bestellen über: vertrieb@mediummagazin.de
Erschienen in Ausgabe 01-02/202013 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 50 bis 51 Autor/en: Ulrike Langer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.