Die Aushungerungsstrategie

Erst noch durfte er jubeln – und mit ihm ganz Brasilien. Doch der Sieg gegen Argentinien in einem dramatischen Elfmeterschießen rettete ihn auch nicht mehr: Mano Menezes musste als Coach der Seleção abtreten. Jetzt soll Luiz Felipe Scolari die Nationalmannschaft bei der Heim-WM 2014 zum Titel führen. Diese Story treibt die Sportjournalisten um. Die Medien im fußballverrückten Land berichten täglich über die Hintergründe, recherchieren Exklusivgeschichten. Viele davon sind auf den Webseiten der Zeitungen zu finden. Nicht jedoch auf Google News.

Denn Google News ist für die brasilianischen Verleger das, was Argentinien für die Seleção ist: ein Erzfeind. Gestritten wird seit bald zwei Jahren, im Oktober 2012 kam es bei einem internationalen Branchenkongress in São Paulo zum öffentlichen Showdown: Die Direktorin der Grupo Folha, eines der mächtigsten Medienhäuser des Landes, und ein Vertreter von Google gaben sich bei einer Podiumsdiskussion Saures. Wenig später wurde bekannt: 154 brasilianische Zeitungen hatten sich schon lange aus Google News zurückgezogen – still und heimlich. Sie waren einer Empfehlung des nationalen Zeitungsverbands ANJ gefolgt, die bereits Mitte 2011 herausgegeben worden war.

Pionierrolle

Während die europäischen Verleger im Kampf gegen Google den Staat um Hilfe anflehen, schwören die Brasilianer auf Eintracht: Mit vereinten Kräften wollen die Medienhäuser dem Suchmaschinenriesen Paroli bieten. Und sie fühlen sich wohl in ihrer Pionierrolle: „Wir freuen uns über das internationale Interesse an unserer Strategie und sind gerne bereit, unseren Kollegen in aller Welt in dieser Auseinandersetzung zu helfen“, sagt Carlos Fernando Lindenberg Neto. Der Präsident des ANJ erläuterte gegenüber dem „Schweizer Journalist“, warum der Massenexodus aus Google News für die brasilianischen Zeitungen ein kluger Schritt sein soll: „Unsere Verhandlungsposition gegenüber Google hat sich mit der Aktion deutlich verbessert, wir sind überzeugt, dass es in dieser Angelegenheit zu einer Einigung kommen wird.“

Doch Google hat sich noch nirgendwo in die Knie zwingen lassen. Die Kalifornier beten unbeirrt ihre Argumente herunter: Weltweit leite die Suchmaschine pro Minute 100.000 Klicks auf Medienseiten weiter und helfe den Verlegern mit diesem Traffic, ihre Online-Inhalte zu vermarkten. Es sei rechtlich erlaubt, Textausschnitte von Presseartikeln (sogenannte Snippets) anzuzeigen. Und jeder Verlag könne mit einem kurzen Textcode auf seiner Webseite selbst entscheiden, ob er bei Google gelistet wird. Die Medienkonzerne hingegen stellen sich auf den Standpunkt: Google verdient mit unserem Content Geld und muss uns an diesem Erlös beteiligen. „Wir müssen unsere Inhalte und unsere Marken schützen“, sagt Lindenberg Neto. Die 154 Zeitungen, die 90 Prozent der brasilianischen Tagespresse repräsentieren, hätten alle freiwillig beim Rückzug mitgemacht. „Jede einzelne kann wieder zu Google News zurückkehren, wenn sie das will. Aber ich erwarte nicht, dass dies geschieht.“

Kaum Trafficverlust

Der Exodus hat den Zeitungen laut ANJ bisher nicht geschadet. Zunächst hätten die Webauftritte der Zeitungen eine Trafficeinbuße von weniger als fünf Prozent hinnehmen müssen. Aber mittlerweile hätten die User gelernt, dass sie auf Google News nicht mehr finden, was sie suchen. Darum würden sie nun direkt die Zeitungswebseiten ansteuern. Dass man dem mächtigen Nachrichtenaggregator den Rücken gekehrt hat, habe mittelfristig keinen Trafficverlust zur Folge gehabt, heißt es. „Google News hingegen ist jetzt völlig irrelevant, da die guten Geschichten dort nicht mehr angeboten werden“, sagt ANJ-Sprecher Carlos Müller.

Google News soll also ausgehungert werden, während die Verleger von der Suchmaschine immer noch stark profitieren: Denn die Online-Artikel der Zeitungen erscheinen nach wie vor prominent in den allgemeinen Suchergebnissen von Google, wenn man mit Stichworten nach einem Thema sucht. Auf diese Visits, die bei jeder Mediensite einen beträchtlichen Teil des Gesamttraffics ausmachen, wollen auch die brasilianischen Zeitungen nicht verzichten. Außerdem liefern sich Medien- und Telekomkonzerne im größten Land Südamerikas einen Reichweitenwettbewerb mit Nachrichtenportalen, die vorwiegend mit Agenturcontent bewirtschaftet werden. Diese Sites wurden nie aus Google News entfernt. Konsequent ist das nicht. So kommt es zur merkwürdigen Situation, dass im Google-Nachrichtenangebot zahlreiche Geschichten des Newsportals www.globo.com präsentiert werden, aber von oglobo.globo.com, dem Online-Auftritt der Zeitung „O Globo“, jede Spur fehlt. Beide Webseiten stammen natürlich aus dem gleichen Haus, dem in Rio de Janeiro beheimateten Medienimperium Globo.

Einigung gescheitert

Bevor der Streit mit Google eskalierte, wollte man sich gütlich auf eine Lösung einigen. Das Projekt hieß „1 Linha“. Statt wie üblich drei Zeilen von jedem Artikel sollte Google News nur noch jeweils eine Zeile anzeigen. So sollten die Leser neugieriger auf die Inhalte werden und öfter auf die Artikel klicken. Im Dezember 2010 trafen sich Vertreter der Zeitungen und des Suchmaschinenkonzerns, um alle offenen Fragen und die technischen Details zu klären. Damals habe Google behauptet, die Reduktion der Snippets auf eine Zeile Text habe keinen Einfluss auf die Platzierung der Storys in Google News, heißt es heute beim ANJ. Doch dies habe sich als unwahr herausgestellt: „Plötzlich wurden Geschichten von unwichtigen Quellen viel prominenter dargestellt als die Storys der Zeitungen“, ist in einem Bericht des Zeitungsverbands zu lesen. Und die Kalifornier hätten dies auch nicht korrigiert, nachdem man sich beschwert habe. Im April 2011 analysierte das ANJ-Strategiekomitee die Zahlen und kam zum Schluss: Google News ist kein guter Trafficlieferant. Darauf folgte die Empfehlung zum Rückzug, die von den meisten Mitgliedern befolgt wurde.

Bei der hitzigen Podiumsdiskussion in São Paulo vor zwei Monaten bekräftigte die Direktorin der Grupo Folha, Judith Brito, erneut die Forderung nach einer Beteiligung an den Erlösen der Suchmaschine. Worauf Marcel Leonardi, Public-Policy-Chef bei Google, einen Lieblingsspruch seiner Firma bemühte: Das sei, als würde ein Restaurantinhaber Geld von einem Taxifahrer verlangen, der ihm Gäste bringe. Das Argument der Verleger, viele Leser würden ja gar nicht auf die Medienseiten kommen, weil sie sich bereits mit den Textanrissen auf Google News begnügten, konterte Leonardi keck: „Das heißt dann wohl, dass die Storys bei den Leuten einfach zu wenig Aufmerksamkeit wecken.“

Das Geschäft brummt

Seither sind die Fronten verhärtet, anscheinend herrscht Funkstille zwischen den beiden Kontrahenten. Die Verleger freuen sich derweil über ihren Geschäftsgang: Die Webauftritte der brasilianischen Zeitungen konnten innert Jahresfrist die Pageviews um 25 Prozent und die Verweildauer um rund 50 Prozent steigern, die gedruckte Auflage stieg um vier Prozent. ANJ-Präsident Lindenberg Neto erklärt dies mit der erstarkenden Mittelschicht im Land mit mehr als 190 Millionen Einwohnern. „Viele Konsumenten hier können sich jetzt erst Zeitungen leisten.“ Paywalls sind ebenfalls ein Thema: Mehrere Zeitungswebseiten wollen nächstes Jahr Bezahlschranken einführen.

In der Causa Google News ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Noch hofft man, dass Google am Verhandlungstisch Platz nimmt und den Geldhahn öffnet. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Brasilien Weltmeister wird.

Erschienen in Ausgabe 01-02/202013 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 48 bis 49 Autor/en: Bernhard Brechbühl. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.