„Brüssel ist wichtig“

Immer mehr Menschen wenden sich von Europa ab, weil ihnen die Geschehnisse zu komplex oder zu abstrakt sind, manch einer empfindet Europa mittlerweile gar als Bedrohung. Wer trägt die Schuld daran: Medien oder Politik?

Rolf-Dieter Krause: Weder die Medien, noch die Politik in erster Linie. Die tragen schon auch dazu bei, aber das Problem ist ein anderes. Meine Erfahrung ist, dass Europa nur die besonders scharfe Form einer Abwendung von der Politik allgemein ist. Europa macht es den Menschen in einer Hinsicht schwerer als die nationale Politik. In Europa sind die Akteure nicht so greifbar wie in Berlin, wo sie Daumen hoch, Daumen runter jederzeit urteilen können, weil sie die Leute im O-Ton hören und damit unmittelbare Eindrücke erhalten. Die meisten Akteure in Brüssel müssen wir übersetzen, Barroso spricht in meinen Berichten mit meiner Stimme. Das ist fremd.

Warum begnügen sich so viele Journalisten damit, die O-Töne ihrer heimischen Politiker wiederzugeben, statt die Ereignisse durch Kommentare und Hintergrundberichte einzuordnen?

Was Sie machen wollen als Journalist, entscheiden Sie immer auch selbst. Zum Teil jedenfalls. Die Tatsache, dass gerade bei Zeitungen die Verleger viele Jobs gestrichen haben, hat die Arbeitsverdichtung zum Teil so erhöht, dass viele zu einer gründlichen Recherche gar nicht mehr kommen. Das ist ja das Gemeine: Der Unterschied zwischen gutem und sehr gutem Journalismus ist für den Leser, Zuschauer oder Hörer gar nicht so groß wahrnehmbar. Aber der Unterschied macht sehr viel Mühe. Vor diesem Hintergrund verstehe ich auch, dass überlastete Kollegen es dabei bewenden lassen, korrekt zu berichten, was ihnen gesagt wird. Aber so ein Journalist wollte ich nicht werden. Das bedeutet natürlich, dass man manchmal mehr arbeitet als andere.

Was reizt Sie am Korrespondentenjob in Brüssel?

Sie können nirgendwo sonst in einem internationaleren Umfeld arbeiten, das Ihnen auch täglich begegnet. Sie haben ständig mit wechselnden Menschen aus anderen Ländern zu tun – das ist einfach ein intellektuelles Vergnügen. Das biegt Ihnen den Horizont auf. Und, last but not least, ist Europa immer noch ein unglaublich spannendes Projekt – weil es durchaus schwierig ist, diese verschiedenen Kulturen zusammenzubringen, es aus meiner Sicht aber nötig ist, diesen Versuch zu machen, und es dabei überhaupt nicht sicher ist, ob er letztlich von Erfolg gekrönt sein wird.

Muss ein EU-Berichterstatter heute einen BWL- oder VWL-Abschluss haben?

Ich habe keinen. Trotzdem habe ich die Schwierigkeiten, die wir heute mit dem Euro und in der Eurozone haben, sehr viel genauer vorhergesagt als viele, mit denen ich damals gestritten habe. Was Sie brauchen, ist wirtschaftliches Verständnis, Offenheit, Logik und gute kommunikative Skills, denn alleine sind Sie hier in Brüssel als Korrespondent nichts. Sie müssen mit Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen eine kommunikative Ebene finden. Dann brauchen Sie die journalistischen Tugenden: Fragen stellen, nicht Ruhe geben, bis Sie es verstanden haben, sich nicht begnügen mit den Auskünften im ersten Anlauf, den Kontakt zum Publikum nicht verlieren. Dann kann man den Job in Brüssel immer gut machen.

Die EU-Kommission hat ihre Kommunikation deutlich professionalisiert und bietet Redaktionen unter anderem kostenloses Footage-Material. Was halten Sie davon?

Ich bin ein heftiger Kritiker dieser Praxis. Die Kommission macht Dinge, die unanständig sind: Sie finanziert einen Fernsehsender zu großen Teilen – „Euronews“ – mit einem zweistelligen Millionenbetrag im Jahr, was nach deutschem Verfassungsverständnis unmöglich wäre. Sie hat einen Vertrag mit dem Sender, der „Euronews“ verpflichtet, über bestimmte Dinge zu berichten, womit die erste redaktionelle Entscheidung, nämlich „Worüber berichte ich?“, schon gekauft ist. Und die Kommission stellt haufenweise Material, sogar ganze Filme in jeder EU-Sprache kostenlos zur Verfügung, wobei die Kommission als Produzent und Adressat nicht kenntlich ist. Das finde ich verwerflich. Bei dem ganzen Material, auch dem von „Europe by Satellite“(EbS), kommt es natürlich immer darauf an, wie es benutzt wird. Mir ist es so lange als Ergänzung willkommen, wie ich mein Kamerateam in die Pressekonferenz schicken kann. Wir haben aber immer wieder erlebt, dass die Kommission wie auch der Ministerrat mit Hinweis auf EbS und dessen Material versucht hat, unseren Kamerateams den Zutritt zu verwehren. Das haben wir oft auch nur mit politischer Unterstützung verhindern können. Es hat immer wieder solche Vorstöße gegeben, unsere Arbeit zu behindern und die Herrschaft über die Bilder zu gewinnen. Bei den Fotografen ist das übrigens fast schon gelungen.

Was heißt das?

Die EU bietet von jedem Event kostenlose Bilder zum Download an. Das sind natürlich alles 08/15-Fotos, die den wenigen freien Fotografen das Leben aber wirklich schwer machen. Die freien Kollegen können von den wenigen Anfragen nach abseitigen, originellen Motiven allein nicht leben, sie brauchen auch das Schwarzbrot der Alltagsfotografie, und diesen Markt hat die Kommission fast schon kaputt gemacht.

Ist der Sprecherdienst so ausgestattet, dass Journalisten ihre Arbeit gut machen können?

Die Kommission hat einen relativ kleinen Sprecherdienst. Mit um die 30 Leute sieht der nur auf den ersten Blick groß aus. Selbst das unwichtigste deutsche Ministerium ist mit bis zu sechs Sprechern ausgestattet, um alle Anfragen schnell beantworten zu können. Ein bedeutender Kommissar wie etwa Olli Rehn, der jetzt für die Währungskrise zuständig ist, hat nur einen Sprecher, der befugt ist, vor Kameras Auskunft zu erteilen. Die nachgeordneten Press Officer können vielleicht mal eine Sachauskunft geben, für Statements braucht man die aber gar nicht anzurufen, weil sie meistens auch nicht so viel wissen.Wir als Triple-A-Medium – das gilt für die BBC, für die „Financial Times“, für die FAZ, die „Süddeutsche“, das ZDF, für „Le Monde“, „El País“ genauso – werden dabei noch einigermaßen gut behandelt. Der Politikredakteur der „Nürnberger Nachrichten“ oder der „Neuen Westfälischen“ hat da gar keine Chance. Bis der seinen Rückruf kriegt, sind seine Gebeine vermutlich schon vermodert. Also die Auskunftsfähigkeit leidet: Die aber muss eine politische Institution gewährleisten, weil sie rechenschaftspflichtig ist. Da fehlt’s, und auf der anderen Seite läuft die Propagandamaschinerie auf vollen Touren.

Sind die kostenlosen Bilder und Filme oder der Sparzwang in den Verlagen schuld daran, dass es laut International Press Association immer weniger Journalisten in Brüssel gibt?

Beides. Dass sich freie Fotografen aus Brüssel verabschiedet haben, hat eindeutig mit dem Verhalten der Kommission zu tun. Dass die Zeitungen zum Teil ihren Korrespondentenstab zurückgefahren haben, hat sicher damit zu tun, dass die Zeitungen sparen müssen. Dass die Privatsender in Brüssel praktisch nicht mehr mit Korrespondenten vertreten sind, hat damit zu tun, dass sie den Eindruck haben, mit Brüssel selbst in den Nachrichten keine Quote machen zu können. Die Gründe sind also völlig verschieden. Dass aber die sogenannten deutschen Nachrichtensender, N-TV oder N24, hier nicht vertreten sind, wundert mich schon. Brüssel ist politisch ein Platz, der für das Leben unserer Zuschauer mindestens so wichtig ist wie Berlin und wo täglich Entscheidungen fallen, die das Leben der Bürger in Deutschland beeinflussen. Es gibt Medien, die meinen, dass vom Heimatbüro aus gut machen zu können und die sich die Mittagskonferenz der Kommission zum Beispiel über Satellit anschauen. Manche Verlage wollen sich den teuren Korrespondenten vor Ort nicht mehr leisten.

Kann man Brüssel aus der Heimatredaktion adäquat featuren?

Das vordergründige Nachrichtengeschäft können Sie mit einer guten Nachrich
tenagentur an der Hand und ein paar Schnittbildern, die Ihnen über die Eurovision oder den EbS geliefert werden, sicher betreiben. Die Frage ist doch aber, ob Sie die Politik so wirklich beurteilen und einordnen können und die Hintergründe dazu ausleuchten. Und das können Sie nicht. In Brüssel wie in jeder anderen Hauptstadt kriegen Sie offiziell natürlich immer nur die glänzende Seite der Medaille hingehalten und die andere eben nicht so gerne. Von der erfahren Sie nur, wenn Sie Kontakte haben. Und Kontakte machen ist in Brüssel schwerer als etwa in Berlin, weil die Interaktion zwischen Politik und Journaille hier eine andere ist.

Wie wichtig ist der Austausch mit den Kollegen aus anderen Ländern?

Es ist das Wichtigste. Ohne das geht es hier überhaupt nicht. Wenn ich beispielsweise wissen will, wie die Krankenversicherung in Dänemark organisiert ist, kann ich bei der Botschaft anrufen und habe am Ende 200 Seiten Papier auf dem Fax. Wenn ich meine Kollegen vom dänischen Fernsehen frage, erfahre ich in fünf Minuten das, was ich wissen muss. Außerdem kann ich mich mit den Kollegen hervorragend darüber austauschen, was die einzelnen Regierungen z. B. bei einem Gipfel erreichen wollen, da jeder von seiner Botschaft oder seinem Regierungssprecher Informationen erhält, die für die Einordnung wichtig sind. Dieser Austausch ist auch kein Vertrauensbruch, weil die Briefings unter zwei, „aus Regierungskreisen“, laufen. Um einigermaßen vorhersagen zu können, wo die Konfliktlinien und Interessenlagen liegen, sind solche Informationen unerlässlich.

Sie sind auch wegen Ihres Buchs als Euro-Skeptiker bekannt. Fühlen Sie sich durch die Krise in Ihren Einschätzungen bestätigt?

Leider ja. Und leider noch schlimmer, als ich es befürchtet hatte. Ich bin kein Rechthaber. Ich hätte mich gern geirrt. Wenn man historisch auf das schaut, was hier passiert, glaube ich, dass Europa zur Zusammenarbeit verdammt ist, weil wir uns sonst in der globalisierten Welt nicht behaupten werden. Deswegen glaube ich, dass wir in Europa zusammenarbeiten müssen. Der Euro sollte eine Klammer sein. Leider erweist er sich im Moment eher als ein Sprengsatz. Was damals übersehen wurde, ist die unterschiedliche Kultur in den Ländern. Die Politik ist bis heute bei diesen Fragen nicht angekommen. Nehmen Sie einfach die Kultur der Lohnfindung, wie Tarifverhandlungen in Deutschland und in anderen Ländern verlaufen. Das sind fundamentale Unterschiede, die man mit ihren Auswirkungen aber nicht negieren kann. Meine Skepsis gegenüber der politischen Klasse ist da schon auch gewachsen im Laufe der Zeit.

Medium:Online

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Erschienen in Ausgabe 04+05/202012 in der Rubrik „Special“ auf Seite 54 bis 55 Autor/en: Interview: Katy Walther. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.