Skandale sind wie die Fieberkurven der Demokratie. Immer weiter ansteigend können sie irgendwann wieder abebben – oder sie fordern am Ende ein Opfer. Christian Wulff hatte gehofft, seine Affäre als Fieber ausschwitzen zu können, mit Krisenkommunikation und Krisen-Anwälten als Gegenmitteln.
Doch er, der es mit geschickter Öffentlichkeitsarbeit vom ewigen Schröder-Verlierer bis ins höchste Staatsamt geschafft hatte, agierte auf einmal unbeholfen, beleidigt und aggressiv auf vermeintlich mediale Gegner. Dass er sich nicht nur bei „Bild“, sondern auch der FAZ im Ton vergriff, zeigt bereits den ersten Fehler seiner Amtszeit: Medien aus dem eher bürgerlich-konservativen Spektrum hat er als Jubelperser gesehen, die den Kurs eines CDU-Bundespräsidenten unterstützen sollten. Kritik von dieser Seite war Majestätsbeleidigung und wurde abgestraft.
Doch zur Erklärung der Tragödie Wulff reicht dies nicht aus. Was ist wirklich schiefgelaufen, dass eine Affäre, oder besser: eine Multiplikation von Affärchen, zu einer medialen Groß-Schlacht führte und außerdem das Verhältnis von Politik, Medien und Wirtschaft tiefer verändert hat als Skandale vorher?
Auch wenn sich wohl niemand hat vorstellen können, dass ein Spitzenpolitiker sich auf so profane, teils dämliche Art Geld, Vorteile, Upgrades und Urlaube beschafft. Auch wenn die Inflation seiner Schnäppchen-Jagd Quantität in Qualität hat umschlagen lassen: Grund genug für einen Rücktritt?
Wulffs engster Mitarbeiter hat Grenzen überschritten: Pressechef Olaf Glaeseker hat für Veranstaltungen mit Wulff die Event-Agentur von Manfred Schmidt ohne Ausschreibung beauftragt, private Urlaube Glaesekers bei Schmidt erweckten den Verdacht der Vorteilsnahme. Aber auch hier: Grund genug für einen Rücktritt Wulffs?
Dann aber die Berichte über den vom Unternehmerfreund bezahlten Sylt-Urlaub und die Vertuschungsversuche, seine Aussage, das Geld angeblich bar, mit Hilfe der Schwiegermutter, bezahlt zu haben: Damit brachte sich Wulff selbst um den letzten Kredit in der Bevölkerung – und veröffentlichte und öffentliche Meinung zur Deckung.
Gute Krisenkommunikation widerlegt Vorwürfe mit Fakten. Da die Fakten aber vielfach gegen ihn sprachen, hätte Wulff Demut und Einsicht zeigen müssen – aber er reagierte mit trotzigem Unverständnis und wollte mit einem vor-demokratischen Verweis auf die „Würde des Amtes“ kritische Berichterstattung unterbinden. Dadurch reizte er gerade zu weiteren Recherchen und löste einen fatalen Mechanismus aus: Denn einige Medien waren bis dahin zurückhaltend und wussten nicht, ob sie ausgerechnet – oder wieder einmal – einer investigativ-hartnäckigen „Bild“-Zeitung folgen und auf eine Geschichte einsteigen sollten, die zunächst vor allem als Duell von Wulff und Diekmann wahrgenommen wurde. Mit seinem Verhalten aber solidarisierte der Präsident die Presse selbst. Jetzt wurde jeder Stein umgedreht.
Auf Milde brauchte Wulff dann nicht mehr zu hoffen. Es gibt sogar eine Affäre 2.0: Beendete früher ein Rücktritt einen Skandal – war also das „Opfer“ gebracht –, so gibt es mit Wulff erstmals den Skandal nach dem Skandal, also den Streit darüber, ob er seine lebenslange Apanage oder den „Großen Zapfenstreich“ bekommen soll. Als ob der Mann nicht genug bestraft wäre – seine bürgerliche Existenz ist bereits so gut wie vernichtet, die Familie stigmatisiert.
Doch nicht nur Wulff trägt weiter an den Folgen seines Versagens. Ihm ist zuzuschreiben, dass künftig wohl jeder Kontakt eines Politikers zu Unternehmen unter Generalverdacht steht. Trifft sich demnächst ein Politiker mit einem Unternehmer in halb-privatem Rahmen, hängt dem Ganzen rasch der Ruch des Illegalen an. Veranstaltungen, bei denen sich außerhalb der Büroräume Vertreter aus Politik, Unternehmen und Medien treffen, gelten als Bühnenstücke der Mauschelei. Da, wo Unternehmen aus gesellschaftlicher Verantwortung (ja, das soll es geben) unterstützen, ist schnell von Korrumpierung die Rede.Aus berechtigter Kritik an möglichen Grenzüberschreitungen Wulffs wird Bigotterie.
Die Gefahr dieser Entwicklung: eine weitere Versäulung der Eliten unserer Republik. Dialog unterbleibt, jeder schmort im eigenen Saft. In anderen Ländern gibt es wegen des globalen Wettbewerbs eine Verantwortungspartnerschaft von Politik und Wirtschaft – in Deutschland wird aus Sorge vor der Infektion mit angeblich unlauteren Interessen Zusammenarbeit auf Sparflamme reduziert. Unternehmen fahren ihre Sponsoring-Aktivitäten bereits zurück und Bund, Länder und Kommunen können sehen, wie sie künftig Wissenschaft und Kultur aus immer knapperen öffentlichen Kassen finanzieren.
Verhindern kann man diese Entwicklung nur mit neuen, transparenten Spielregeln für Sponsoring. Dazu gehört allerdings auch, dass Journalisten Gepflogenheiten überprüfen: Presserabatte, bezahlte Vorträge für Unternehmen und politische Organisationen sind zwar nicht ganz ausgeschlossen – aber in jedem Einzelfall zu hinterfragen. Und wer das Sponsoring des Nord-Süd-Dialogs Wulffs bemängelt, der müsste konsequenterweise den Bundespresseball in seiner gesponserten Form absagen. Die Affäre Wulff hinterlässt dann wirklich Katerstimmung.
Michael Inacker (48) war nach verschiedenen Positionen in Medien und Unternehmen bis Ende 2011 Kommunikations- und Politikchef der Metro Group und kehrt am 1. April als stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Hauptstadtbüros des „Handelsblatt“ in den Journalismus zurück.
Erschienen in Ausgabe 03/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 27 bis 27. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.