Wenn Staatsanwälte mit Reportern plaudern

Der Fall

Es ist schon einige Jahre her: Ein hübscher TV-Kommissar schnupfte weißes Pulver vor einem Oktoberfestzelt, ein paar Polizisten fiel das auf und die folgende Überprüfung ergab, dass es sich nicht um Brausepulver handelte. An der Geschichte vom koksenden Kommissar kam die (mit Kamera anwesende) „Bild“ natürlich nicht vorbei – und ließ sich zur Sicherheit noch einmal vom Sprecher der Münchner Staatsanwaltschaft bestätigen, dass es sich wirklich um eben jenen TV-Kommissar handelte, der da erwischt wurde. Gedruckt wurde die Geschichte dann mit voller Namensnennung und Fotos. Der betroffene Schauspieler zog vor das Landgericht Hamburg und gewann, auch in der Berufungsinstanz vor dem Oberlandesgericht: Die „Bild“ wurde sogar zu einer Geldentschädigung verurteilt. Bundesgerichtshof (BGH) und Bundesverfassungsgericht lehnten ab, sich mit der Sache zu befassen. Die „Bild“ wollte das nicht auf sich sitzen lassen und rief den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) an.

Das Urteil

Der EGMR gab der „Bild“ überraschenderweise recht und verurteilte die Bundesrepublik Deutschland: Die Hamburger Gerichte hätten zwischen der Privatsphäre und dem Recht auf Berichterstattung über Strafverfahren gegen Prominente nicht korrekt abgewogen. Das Gericht hob einen Aspekt besonders hervor, der in den Urteilen zuvor nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte: Laut EGMR sei maßgeblich, dass der Sprecher der Münchner Staatsanwaltschaft gegenüber der Zeitung und anderen Medien die Identität des Betroffenen bestätigt hatte. Die „Bild“ habe nach der Bestätigung durch die Behörde nicht mehr davon ausgehen müssen, dass sie die Anonymität des Betroffenen schützen müsse.

Die Folgen

Der EGMR ist weder der BGH noch der Europäische Gerichtshof. Seine Urteile richten sich gegen Staaten, nicht gegen einzelne Parteien. Sie sind dennoch bindend aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarung; Abweichungen müssen von den nationalen Gerichten ausführlich begründet werden. Die Urteile haben deshalb gewichtige Auswirkungen auf Rechtsprechung und Gesetzgebung. Die vorliegende Entscheidung legt den Finger in eine Wunde, die der Gesetzgeber eigentlich schon lange hätte schließen müssen: die Öffentlichkeitsarbeit der Behörden – und ihre Grenzen. In jüngster Zeit wurde gerade Staatsanwaltschaften häufig vorgeworfen, dass sie zur eigenen Profilierung (und zur Manipulation laufender Verfahren über die Presse) die Rechte der Betroffenen opfern und großzügig Informationen herausgeben. Wehren sich die Betroffenen, argumentieren die Behörden reflexartig, dass die Presse selbst prüfen müsse, was sie veröffentlichen darf und was nicht. Der EGMR hat nun die Verantwortung zulasten der Staatsdiener verschoben – und die Presse etwas von der Last der eigenen Bewertung befreit. So könnte es künftig erfolgversprechend sein, gegen Behörden zu klagen statt gegen die veröffentlichende Presse. Dennoch: Redaktionen sollten sich vorerst nicht darauf verlassen, dass eine Behördenaussage ein Freibrief zur Veröffentlichung ist – auch wenn die Position im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung nun deutlich besser sein dürfte.

Stephan Zimprich ist Rechtsanwalt im Hamburger Büro der internationalen Sozietät Field Fisher Waterhouse.

stephan.zimprich@ffw.com

Erschienen in Ausgabe 03/202012 in der Rubrik „Praxis“ auf Seite 60 bis 60 Autor/en: Stephan Zimprich. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.