Fit für digitalen Journalismus

„Der Journalismus wird durch das Internet gerade neu erfunden“, sagt Stefan Plöchinger, Chef von sueddeutsche.de, und hat damit natürlich recht. Wie dieser neue Journalismus aussehen kann, ist immer mal wieder auf „Zeit Online“ zu bewundern, das für Projekte zum Datenjournalismus wie „Verräterisches Handy“ oder den „Bundesliga-Effizienzrechner“ viel gelobt und diverse Male auch schon ausgezeichnet wurde. Er blitzt auf, wenn das „Handelsblatt“ in einem Feature auf handelsblatt.com multimedial über „Die Piratenjagd am Horn von Afrika“ berichtet oder die „Stuttgarter Zeitung“ die neue Stadtbibliothek mittels interaktiver Grafik auf ihrer Website begehbar macht. Und er zeigt sich bei „Chip Online“, einem Angebot, das nur noch zur Hälfte journalistischer Natur ist: Mit seiner Mischung aus klassischer Technikberichterstattung, Downloadangeboten und aktiver Community gehört es zu den erfolgreichsten Projekten im deutschen Onlinejournalismus.

Verändertes Berufsbild

Aktualität, Multimedialität, Interaktivität: Alles Dinge, mit denen Medien online punkten können, wie auch die Diplomarbeit von Pierre Gehmlich am Lehrstuhl für Journalistik der Uni Leipzig kürzlich erst wieder ergab. Journalistische Online-Nachrichten sollen laut seiner Studie „vor allem schnell, permanent und zugleich mit möglichst viel Hintergrund informieren“. Darüber hinaus wünschten sich die Nutzer Geschichten, die mit multimedialen Elementen erzählt werden. Schlechte Zeiten also für Onlineredaktionen, die die Stärken des Internets nicht nutzen, Online weiter nur als Beiboot laufen lassen, was im Lokalen oft der Fall ist. Und schlechte Aussichten auch für Journalisten, die meinen, auch in Zukunft noch ohne digitale Fähigkeiten auszukommen. Zwar prognostiziert selbst Sueddeutsche.de-Chef Plöchinger (s. Interview S. 54) Spezialisten für jeden Kanal. Was alle Journalisten darüber hinaus jedoch bräuchten, sei „ein Verständnis, wie digitale Kommunikation funktioniert, und ein selbstverständlicher Umgang mit ihr. Weil sie inzwischen eine grundlegende Kulturtechnik auch in unserem Land geworden ist“.

Mit den neuen Möglichkeiten im Netz haben sich also auch die Anforderungen an Onlineredakteure verändert. Reichte es früher einmal aus, Texte in Content-Management-Systeme füllen und Links setzen zu können, muss ein Onliner heute wenn schon nicht alles selbst produzieren, so doch alles denken können. Kai N. Pritzsche, verantwortlicher Redakteur für faz.net, sagt zum Anforderungsprofil in seiner Redaktion: „Unsere Onlinejournalisten müssen in erster Linie gute Journalisten sein. Dazu kommt ein ausgeprägtes Verständnis für die im Internet möglichen Erzählformen und das Wechselspiel von Texten, Bildern, Videos und interaktiven Elementen. Grundkenntnisse der Social-Media-Landschaft sowie die Bereitschaft, sich daran aktiv zu beteiligen, setzen wir voraus. Bei der Produktion komplexerer Multimedia-Elemente wie Slideshows, Videos und interaktiver Elemente sind Grundkenntnisse sehr von Vorteil, auch wenn es im Arbeitsalltag eines Onlineredakteurs eher um die konzeptionelle Integration dieser Elemente als um deren fachgerechte Produktion geht.“ „Unsere Redakteure müssen keine Programmierer sein“, erklärt auch Thomas Rebbe, Chefredakteur der Onlineportale web.de, gmx.de und 1&1, „aber sie verstehen technische Zusammenhänge und gehen zunehmend auch mit Mikrofon und Kamera um. Social Media ist grundlegendes Handwerkszeug: zur Recherche, aber auch zur Interaktion mit den Nutzern. Denn nirgends ist man den Lesern so nah wie im Onlinejournalismus!“

Die Kunst, sich neu zu erfinden

„Jedes Medium muss seine eigene Strategie entwickeln“, sagt Jochen Wegner, Ex-„Focus Online“-Chef und bis Februar CEO der Mag10 Publishing GmbH. „Es nützt nichts, auf Teufel komm raus ‚Zeit Online‘ kopieren zu wollen, weil die das Glück haben, eine besondere Zielgruppe beackern zu können. Andere können und dürfen so gar nicht arbeiten. Selbst ‚Spiegel Online‘ kann das nicht machen, muss wegen der enormen Reichweite viel bedenken und in eine andere Richtung gehen.“ (s. auch Wegners Text über Publizieren fürs iPad auf S. 55ff.) Worauf er im Netz Wert legt, beschreibt „Spiegel Online“-Chefredakteur Rüdiger Dietz dann auch so: „Zuallererst auf guten Journalismus! Bei Nachrichten geht es uns zudem darum, so schnell und so akkurat wie möglich zu berichten – mit dem Schwerpunkt: akkurat.“

Was Jochen Wegner für die überregionalen Medien formuliert hat, gilt für die regionalen und lokalen erst recht. Springers „Hamburger Abendblatt“ und „Berliner Morgenpost“ sind dank eigener Digitalisierungsstrategie mit multimedial aufbereiteten sublokalen Inhalten und Kooperationen im Netz sehr erfolgreich. Auch die „Rheinische Post“ eroberte sich mit einem Mix aus Welt- und Regionalthemen, Videos und Serviceangeboten einen Spitzenplatz unter den Nachrichtenwebsites. Damit das so bleibt, erteilte die Mediengruppe Rheinische Post einer Projektgruppe aus leitenden Redakteuren der Zeitung und des Online-Portals kürzlich erst den Auftrag, „sich über rasche Maßnahmen zur weiteren Erhöhung der journalistischen Relevanz des Portals zu verständigen“. Darüber hinaus soll eine bereichsübergreifende Arbeitsgruppe mittelfristig eine „digitale Strategie für journalistische wie weitere digitale Produkte erarbeiten“, wie das Branchenmagazin „Kress“ berichtete. Auch der Verlag DuMont Schauberg will durch neue Konzepte online künftig schwarze Zahlen schreiben, wie Vorstand Franz Sommerfeld gegenüber dpa erklärte.

„Online first“ gilt ebenso bei der „Rhein-Zeitung“ – zumindest für alle Themen, „die die Region betreffen und entweder woanders schon zu lesen sind, auch bei Twitter, oder vom Leser eines Online-Dienstes erwartet werden können“, erklärt Marcus Schwarze, Mitglied der Chefredaktion und Leiter Digitales. „Wenn auf der Bundesstraße ein Stau ist, soll der Leser, wenn er ins Büro kommt, bei uns erfahren, was da los war. Aktualität zählt auch, wenn er eine Frage via Twitter stellt wie: Warum wird hier gerade der Jahrmarkt evakuiert? Oder: @rheinzeitung, war das gerade ein Erdbeben?“ Bei allen anderen Themen, für die es keine Notwendigkeit einer schnellen Veröffentlichung gibt, gilt bei den Koblenzern auch weiterhin „Print first“. Wobei es sich bewährt habe, das entlarvende Hintergrundstück des Landeskorrespondenten „komponiert“ zu veröffentlichen, wie Schwarze sagt: „Über Twitter kündigt unser Korrespondent an, ein Interview zu führen. Eine Agenturfassung davon geht zum Abend hin an die Agenturen und die örtliche Konkurrenz. Über Facebook und die Website veröffentlichen wir am Abend passend zum Redaktionsschluss der Konkurrenz einen Anreißer. Das komplette Interview und den Hintergrundbericht behalten wir uns künftig zunehmend einem Premiumbereich vor, den wir hinter einer zu entwickelnden Schranke veröffentlichen wollen – und zwar ausschließlich für unsere besten Kunden, die Abonnenten.“ Und noch ein neues Projekt stellt Schwarze in Aussicht: ein multimediales E-Paper, bei dem „wie bei Harry Potter aus dem Foto eines bockbieranstechenden Bürgermeisters ein 15-Sekunden-Video wird. Das setzt natürlich voraus, dass unser Lokalkollege vor Ort mit dem HD-Handy eine solche Sequenz aufgenommen und ins Web hochgeladen hat und wir in der redaktionellen Verarbeitung der Printseite die notwendigen Schritte fürs Einbetten des Videos ins digitale Papier vornehmen. Und das sechs Tage die Woche, zu passenden Gelegenheiten für solche Videos, aber auch für Bilderstrecken, ergänzende Links und PDF-Dokumente, die wir künftig ans E-Pa
per anhängen.“

Die neuen Schulen

Doch wo lernt man diese neue Art zu denken und Themen aufzubereiten? Darauf gibt es mehrere Antworten. Anhänger der reinen Lehre empfehlen einen der beiden einschlägigen Online-Studiengänge: „Onlinejournalismus“ in Darmstadt oder die Ausbildung zum „Online-Redakteur“ in Köln. Wer hier studiert, beschäftigt sich nach Aussage der Fachbereiche neben dem journalistischen Handwerkszeug auch mit den neuesten Techniken und Erzählformen. Diplomand Andreas Grieß hat sich genau deswegen für Darmstadt entschieden: „Das Studium hier ist praxisnah, projektbezogen und bietet Raum zur freien Entfaltung. Es ist nicht so theoretisch wie ein Fachstudium in Journalistik oder Publizistik und nicht so stark an ein konkretes Medium und dessen finanzielle Interessen gebunden wie ein Volontariat“, erklärt er. Außerdem bietet es seiner Einschätzung nach auch deutlich stärker noch als Journalistenschulen Raum, selbst Schwerpunkte zu setzen: egal ob thematische oder technische wie etwa Video, Fotografie, Layout oder Datenjournalismus.

Neben den Hochschulen in Darmstadt und Köln bieten auch andere Journalismus-Studiengänge Spezialisierungen im Onlinebereich an, etwa die private Dekra-Hochschule in Berlin. Artverwandte Fächer wie „Multimedia Production“ oder „New Media Journalism“ kann man seit einigen Jahren an der Fachhochschule Kiel oder berufsbegleitend an der Leipzig School of Media belegen (siehe auch Tabelle S. 48).

Fragt man die Chefredakteure großer Onlineredaktionen, wo man ihr Metier am besten lernt, unterscheiden sich die Antworten naturgemäß: Jens Nähler, Ressortleiter bei „HNA Online“, hat nichts gegen Learning by Doing: „So bin ich selbst in den Beruf gekommen“, sagt er. „Andererseits sind wir da nicht festgefahren, denn Journalisten müssen sich heute so oder so in viel mehr Themen auskennen und in viel mehr Bereichen mitarbeiten“, so Nähler. „Sie sind alle Content-Manager, die neben textlicher Arbeit auch Video, Foto, Audio beherrschen und denen natürlich auch Angebote wie Facebook, Twitter, Youtube & Co nicht fremd sein sollten.“ Hier könne man sich enorm viel in Eigeninitiative beibringen und sich dadurch für eine Mitarbeit empfehlen, so seine Erfahrung.

Für den praktischen Ansatz plädiert auch Markus Hofmann, Onlinechef von „Badischer Zeitung“ und „fudder.de“: „Der Besuch einer Journalistenschule oder ein Volontariat sind eine sehr gute Grundlage, aber Onlinejournalismus, also multimedialen Nachrichtenjournalismus unter hohem Zeitdruck, lernt man am besten am lebenden Objekt.“

Der Meinung sind nicht alle: So raten „Spiegel Online“-Chefredakteur Rüdiger Ditz, Kai N. Pritzsche von faz.net und Frank Mares von abendblatt.de dringend zur grundständigen journalistischen Ausbildung, also einem Volontariat oder dem Besuch einer Journalistenschule, um erst anschließend in einer Onlineredaktion zu arbeiten.

An den wichtigsten Journalistenschulen sind Online-/Crossmedia-Inhalte bereits fester Bestandteil der Lehre. Die Axel-Springer-Akademie zum Beispiel wurde für ihren innovativen Crossmedia-Ansatz 2008 bereits als Ort im „Land der Ideen“ in der Kategorie Bildung ausgezeichnet. „Kraftwerk D“, eine Multimedia-Zeitschrift fürs iPad, oder das Webspecial „Little Berlin. Ein Dorf deutscher Geschichte“ sind nur zwei einer Reihe prämierter Projekte, die an der Journalistenschule entstanden sind, die Axel Springer zugleich als Think Tank nutzt. Direktor Marc Thomas Spahl bezeichnet seine Absolventen denn auch gern als „digitale Botschafter“, die „vollgepumpt werden mit Know-how“(s. Interview S. 53).

Eine Menge Geld in die Crossmedia-Ausbildung ihrer Journalistik-Studenten investiert derzeit auch die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt. Hier wird in Kürze ein 300.000 Euro teures Crossmedia-Labor in Betrieb genommen. Es verfügt über zwölf Arbeitsplätze, an denen alles an Technik zur Verfügung steht, was man für medienübergreifendes Produzieren braucht, wie Klaus Meier erläutert: einen Avid-Schnittplatz für Video, eine Audioschnitt-Software und ein Printlayout-Programm, das eine multimediale Ausspielmöglichkeit fürs iPad bietet. Er rät: „Als Web-CMS soll WordPress zum Einsatz kommen, damit die Studenten merken, dass sie die Technik auch selbst formen können.“ Es komme heute darauf an, „Online nicht als Medium zu begreifen, wo man Texte abfüllt oder Videos einstellt, sondern zu lernen, dass es neue Arten des Erzählens gibt, die es zu entwickeln gilt“.

„Wo man seine Ausbildung absolviert, ist heute weniger wichtig als Leidenschaft für den Beruf“, sagt Jochen Wegner, der seine Festanstellung bei „Focus Online“ selbst gegen die Selbstständigkeit eingetauscht hat. „Wer mit Leidenschaft dabei ist, wird auch in Zukunft sein Auskommen haben, egal ob in einer Redaktion, einem Software-Unternehmen oder bei einem der zahlreichen Start-ups, die etwas völlig Neues ausprobieren.“

WEITERLESEN

Lernstoff

Christian Jakubetz, „Zehn Thesen zur Zukunft der Zeitung“: http://tiny.cc/xdx0q

Stefan Plöchinger, „Lehren aus der Revolution“: http://tiny.cc/4qdyf

NR-Werkstatt „Online-Journalismus. Zukunftspfade und Sackgassen“: http://tiny.cc/lxgp8

„medium magazin“-Werkstätten zu „Datenjournalismus“, „Social Media“, „Multimedia-Reportage“, „Texten für Online“: http://tiny.cc/idamq

Blogs zum Thema

www.digitalerwandel.de

www.medialdigital.de training.dw-world.de/ausbildung/blogs/lab

Buchtipps

Christian Jakubetz, Ulrike Langer, Ralf Hohlfeld: „Universalcode: Journalismus im digitalen Zeitalter“, Euryclia 2011. universal-code.de

Christian Jakubetz: „Crossmedia“, UVK 2011.

Gabriele Hooffacker: „Online-Journalismus: Texten und Konzipieren für das Internet“, Econ 2010.

Thomas Holzinger/Martin Sturmer: „Die Online-Redaktion: Praxisbuch für den Internetjournalismus“, Springer-Verlag 2009.

Online-Projekte

„Zeit Online“: „Verräterisches Handy“: http://tiny.cc/1b6bt

„Bundesliga-Effizienzrechner“: http://tiny.cc/6zisf

„Handelsblatt Online“: „Die Piratenjagd am Horn von Afrika“: http://tiny.cc/pt84e

„Stuttgarter Zeitung“: Interaktive Stadtbibliothek: http://tiny.cc/4×757

MEDIUM:ONLINE

Zusätzlich haben wir online ein Interview mit Dozent Klaus Meier und eine vergleichende Übersicht über Ausbildungsangebote von Hochschulen und Journalistenschulen für Onlinejournalismus.

www.mediummagazin.de/?p=12500

Katy Walther ist Redaktionsmitglied von „medium magazin“ und freie Journalistin.

redaktion@mediummagazin.de

Erschienen in Ausgabe 03/202012 in der Rubrik „Special“ auf Seite 48 bis 50 Autor/en: Katy Walther. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.