Das Jahr der Schurken und Tölpel

Das Medienjahr 2011 zeichnet sich durch eine ganz besondere Garde an Hauptdarstellern aus. Den Schurken. Nicht so sehr von der Medienmacherseite her, sondern eher von der der Protagonisten. Die zwölf Monate waren reich an Unholden, Verbrechern, Tölpeln und Scharlatanen aller Couleurs. Besonders ihnen ist es zu verdanken, dass es nicht langweilig wurde und auch die Medien sich unerlässlich neu befeuern konnten, anstatt wie sonst üblich das immer Gleiche aus der Schleife der unendlichen Wiederholungen herauszufischen, um mit den immer gleichen Worten das Publikum in die Bräsigkeit zu tragen.

Das Jahr begann sehr schön mit der Vertreibung des tunesischen Diktators Zine el-Abidine Ben Ali durch sein eigenes Volk. Kurz danach musste auch der ägyptische Staatspräsident Mubarak vor seinen Leuten fliehen – der arabische Frühling war in voller Blüte.

Jetzt zahlte sich die Investition aus, Korrespondenten in dieser Region zu haben, denn alle die, die nur im Ansatz die Bilder, Stimmen und Stimmungen erklären konnten, waren von jetzt an eben sehr gefragt. Die Redaktionen, die im Zuge der Sparmaßnahmen ihre Leute von dort abgezogen hatten, durften sich mit Recht gekniffen fühlen.

Doch die eigentlichen Nachrichten kamen aus anderen Kanälen. Nicht nur, dass die Bevölkerung ihre Protestbewegung über Social Media organisierte, sie schickte auch Filme, aufgenommen mit dem Mobiltelefon, zu einer Zeit in die Welt, als die offizielle Version noch hieß, die Machthaber hätten alles im Griff, es handele sich nur um einzelne Randalierer und die Staatsmacht ginge friedlich mit den Demonstranten um. Die Filme, die in journalistischer Vollendung von den Nachrichtenredaktionen stets begleitet von dem Wort „angeblich“ ausgestrahlt wurden, zeigten andere Bilder. Und waren maßgeblich für die Blüte und die späteren Früchte des arabischen Frühlings: Sie entzogen sich jeder staatlichen Definitionsmacht und gaben der Welt die Möglichkeit zu verstehen, was passiert. Dass dort Menschen gegen Unrecht und Unterdrückung und für eine demokratische Zukunft auf die Straße gehen. Unter Einsatz ihres Lebens. Hier und jetzt.

Zu Googleberg

Gleich im zweiten Monat wurde es laut um einen Herren, den man juristisch gesehen vielleicht nicht als Schurken bezeichnen darf, mit Sicherheit jedoch als Scharlatan. Als einen Täuscher und Blender, Karl-Theodor zu Guttenberg. Die Geschichte, die wie ein Ruck durch Deutschland ging, ist bekannt, und auch sie hat die schönsten Blüten getrieben. Wie selten haben sich Zeitungen, Zeitschriften und Onlineportale ins Zeug gelegt, tolle Überschriften zu finden. Und toll heißt hier: inhaltlich auf dem Punkt und originell formuliert. Allerlei Wortspiele machten das Lesen zum Vergnügen, von „der Plagiator“ über „Kopieren geht über Studieren“, „Googleberg“ und „Schmarotzer cum laude“ bis hin zu „Guttenberg schreibt Doktortitel vorerst ab“. Am trefflichsten aber benennt sicherlich „Spiegel Online“ den Fall des Lügenbarons: „Copy. Paste. Delete.“

Wochenlang zog sich die Causa des – wie wir heute wissen – „Überforderten“ und zeigte deutlich, was Kreativ-Dozenten schon lange klar ist: Haben die Journalisten Spaß an dem, was sie tun, laufen sie zu großer Form auf. Die FAZ, die es schaffte, die größte Demonstration in der Bundesrepublik seit mindestens einem Jahrzehnt, im Sommer zuvor die Anti-Atomkraft-Demo, als dpa-Meldung auf der Länge von sieben Zeilen im Innenteil abzuhandeln, wurde nun für ihre Haltung in der Berichterstattung über zu Guttenberg vom Netzwerk Recherche mit dem Leuchtturmpreis ausgezeichnet.

Dass ausgerechnet das Netzwerk Recherche im Verlauf des Jahres Gegenstand in einem Fördermittelerschleichungs-Skandal wurde und einer der profiliertesten investigativen Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Thomas Leif, das Netzwerk als auch sich selbst um seinen Ruf brachte, tönt wie ein Treppenwitz in der Medienwelt.

Sex und Macht

Wie zu Guttenberg so stolperten auch die Herren Kachelmann und Strauss-Kahn über ihr Ego, wenn auch eher über dessen körperliche Auswüchse, und lieferten den Medien alles, was diese für eine gute Story brauchen: Sex und Gewalt. Schließlich ging es in beiden Fällen um durch Gewalt erzwungenen Sex. Beiden gelang es, mit Hilfe der Medien sich selbst – zumindest zwischenzeitig – als das eigentliche Opfer darzustellen. Opfer einer Verschwörung, Opfer einer Frau, die mit der Realität (Liebesverlust) nicht klarkommt. Beide Herren konnten als freie Männer das jeweilige Gerichtsgebäude verlassen. Und beide haben offenbart, wohin die Hybris der Prominenz führen kann: in eine gestörte Persönlichkeit, die entweder meint, mehrere Beziehungen gleichzeitig führen zu können, oder die eine Frau nur als zu begattendes Objekt wahrnehmen kann und Untertan der Triebe ist. Selten bekommt man einen solchen Blick hinter die erbärmliche Fassade der Chauvinisten – hier hat die Presse mal einen guten Dienst getan. Die Entlarvung war nötig. Ansonsten war die Figur, die die Presse abgab, eher zweifelhaft: Allen voran Sabine Rückert von der „Zeit“ spielte sich als Justitia auf und versuchte, mit „Empfehlungen“ das Geschehen zu formen. Die Diskussion über ihre Grenzüberschreitung schien sie so wenig zu erreichen wie Kachelmann.

Spanische-Gurken-Zeit

Anders als zu Guttenberg, Kachelmann und Strauss-Kahn, die zwischenzeitig so gar nichts mehr unter Kontrolle hatten, erging es dem Ehec-Erreger. Diesem nämlich gelingt, wovon Politiker und Promis träumen: Die Medien munter vor sich her zu treiben. Und einmal mehr fragt sich der geneigte Konsument von Funk, Fernsehen und Internet, ob es nicht günstig wäre, es würde erst berichtet, wenn es Erkenntnisse gäbe. Was heute das Radieschen, ist morgen die tote Taube, und die Hilflosigkeit, mit der die Wissenschaftler in den Gurken Europas herumstocherten, konnte sich ungehindert auf all jene Journalisten übertragen, deren Aufgabe es ist, Fakten zu sammeln und vor der Verbreitung zu prüfen. Die dumpfe Erinnerung an das letzte Mahl vor dem Kollaps – mühevoll kramt der entkräftete Ehec-Patient in seinen Erinnerungen –, das reichte vielen schon für die ein oder andere Sendeminute aus. Und wenn die Kranken zu schwach waren, dann nahm man eben die Ansicht des Spitals von außen.

Wie wenig die Medien jene Themen im Griff haben, die nicht über Gefühle zu beschreiben sind, zeigte auch die Atomkatastrophe von Fukushima. Während die Tepco-Schurken eine Nebelkerze nach der anderen zündeten, gingen um Ranga Yogeshwar die Lichter gar nicht mehr aus. Seine Dauerpräsenz legte den Verdacht nahe, dass es versäumt wurde, sich Fachjournalisten heranzuziehen, Experten kamerafit zu machen.

Bevor Deutschland jedoch von bösen Hasardeuren, sesshaft in dänischen Radieschen, nein, spanischen Gurken beziehungsweise Bienenbüttler Sprossen, heimgesucht wurde, konnte ein anderer Schurke unschädlich gemacht werden, dessen Karriere mit den Medien unweigerlich verknüpft ist: Osama Bin Laden.

Falsche Freude

Das Attentat 9/11 ohne Bilder – es wäre ein Massenmord in der Geschichte. Durch die millionenfache Wiedergabe erst ist es zu einem globalen Akt geworden. Die Amerikaner brauchten die Bilder, damit wir mitziehen mit ihrem Hass und ihrem von Schlichtheit geprägten Aktionismus. Osama Bin Laden brauchte die Bilder, um als Märtyrer in die Geschichte eingehen zu können. Und um Anhänger zu rekrutieren.

Am 2. Mai dann gehen Bilder jubelnder Amerikaner um die Welt: Menschen, die sich versammeln und feiern, weil einer tot ist. Osama Bin Laden. Angela Merkel vergisst, weil sie schnell was sagen muss, dass sie Christin ist, und sagt, sie freue sich. Als das Unwort bemerkt wird, geht eiligst eine Entschuldigung über den Ticker – wozu hat man die Medien denn? Und die haben die schönen Aufnahmen von Bin Ladens Unte
rschlupf: eine Messiehöhle, die das Publikum noch einmal staunen lässt. Ein Horror-Haus für Tine Wittler.

Und das nur ein paar Monate vor dem zehnten Jahrestag des Anschlags auf das World Trade Center. Auf ihre Art weiß die „Bild“ die Tragik dieses Jahrestages zu nutzen und fliegt die gesamte Redaktion in die USA, um dort „zum Gedenken“ die „Bild New York“ zu produzieren. Wieder einmal zeigen die „Bild“-Leute ihre besondere Qualität: mit dem Samariter-Mantel getarnt Unglück für sich nutzbar zu machen.

Der tote Mann

Die Frage, ob auch das Böse Menschenwürde genießt, kommt nur ein paar Monate nach Osamas Ermordung erneut auf: Rebellen haben Gaddafi getötet und weil, was behauptet wird, auch bewiesen werden muss, gehen Aufnahmen eines toten Mannes, später dann eines verwundeten, sterbenden Mannes um die Welt. Den ganzen Tag überschlagen sich die Meldungen, jeder will ihn erschossen haben. Einzelpersonen, Einheiten, in einem Luftschacht habe man ihn erledigt, dann wieder lebend von der Ladefläche eines LKWs gezogen.

Schnelligkeit ist die Währung der Stunde, die Wahrheit kommt später dran. Gesendet wird, was da ist, als könne man den Wust hinterher noch sortieren. Die schnellen Medien kommen an die Grenze ihrer Glaubwürdigkeit. So, das ist klar, geht es nicht. Aber wie dann?

„Darf man diese Bilder zeigen?“, ist die Frage bei denen, die sich noch Gedanken über Ethik im Journalismus machen. Der „Spiegel“ geht bei der Beantwortung einen eigenen Weg: Er zeigt seine Redakteurin, wie sie neben der am Boden liegenden Leiche Gaddafis steht (s. Seite 35). Die Würde des Menschen, das macht das Bild deutlich, ist auch im Tode antastbar.

Der Boulevard hört ab

Die britischen Medien handeln ebenfalls nach ihren eigenen Gesetzen der Menschenwürde. Sie blenden diese einfach aus und hören Prominente, Politiker, Verbrechensopfer und deren Familien ab. Hundertfach. Ganz ohne Skrupel. Er sei auf der Suche nach der Wahrheit, sagt im Prozess einer der beteiligten Journalisten aus. Dafür höre er Telefone von Prominenten ab. Um erzählen zu können, was diese verbergen würden. Die Wahrheit. Er verstehe nicht, warum er dafür vor Gericht sitze. „Eigentlich müsste man uns applaudieren.“

Der Skandal um die Abhörpraxis in den britischen Blättern des Rupert Murdoch ist eine der wichtigsten Mediengeschichten im Jahr 2011. Nicht umsonst spielt sie auf den Medienseiten der Zeitungen eine zentrale Rolle. Sie zeigt, was es heißt, für etwas, das sich „eine Story“ nennt, den Pakt mit dem Teufel einzugehen. Verführbar zu sein, das Gefühl für die Grenzen zu verlieren. Sie erschreckt und beruhigt im gleichen Augenblick, immerhin ist der britische Boulevard bekannt für Skrupellosigkeit, Grenzverletzungen und schlechten Geschmack. Man denkt sich, so schlimm ist es bei uns schließlich nicht. Doch im gleichen Augenblick fällt einem die „Bild“-Zeitung ein oder die „Bunte“, mit ihren perfiden Praktiken, an Geschichten zu kommen, und man mag sich nicht mehr so sicher sein, ob derlei Machenschaften nicht vielleicht auch hier Praxis sind.

Die Spur des Bösen

Und auch 2011 ist ein Massenmörder dank der Medien zum Star geworden: Anders Behring Breivik, der in Norwegen über 70 Menschen tötete. Wieder einmal ist kaum ein Medium dem Appell von Psychologen und Medienexperten gefolgt, das Konterfei eines solchen Mörders nicht zu veröffentlichen. Um ihn nicht zum Helden zu stilisieren, um nicht mögliche Nachahmer zu animieren. Zumal in diesem Fall der Mörder noch lebt. Anders als bei den Amokläufen der letzten Jahre, bei denen sich die Attentäter selbst richteten, erfreut sich der rechtsradikale Anders Behring Breivik großer, wenn auch verwirrter, Lebendigkeit. Nun gilt es, ihn während des Prozesses nicht noch größer werden zu lassen. Ihm nicht die mediale Plattform zu bieten, nach der er sich offensichtlich sehnt.

Nazi-Bräute und Döner

Die Opfer in den Blick zu bekommen ist Aufgabe der Medien, die sich seriös nennen. Mindestens zehn Menschen hat das Nazi-Trio aus Zwickau ermordet. Die Familien der Getöteten standen jahrelang unter Verdacht der Ermittler, am Ende hieß es, die Opfer seien in windige Geschäfte verwickelt gewesen. Selbst schuld, sozusagen. Kaum ein Journalist hat die Ermittlungsergebnisse hinterfragt. Das Selbst-schuld-Sein hat sich durchgesetzt, so wie ja auch die Juden irgendwie selbst schuld daran sind, dass sie so unbeliebt sind. Gestern und heute.

Noch eine Woche nach Bekanntwerden der Täter war von den „Döner-Morden“ die Rede, als seien hier ein paar Döner umgebracht worden. Aber so ist es in Deutschland 2011, da werden Menschen wegen ihrer Herkunft auf ein Gericht reduziert. Selbst dann noch, wenn sie tot sind.

Jetzt ist eine fast klebrige Beflissenheit da, mit der über die Rechten in Deutschland berichtet wird. Als hätte man nicht all die Jahre über schon berichten können. Aber keiner schickt seine Journalisten in die „befreiten Gebiete“, dorthin, wo die Rechten ganze Landstriche kontrollieren. Diesen Umstand zu benennen, dass es „befreite Gebiete“ gibt, kommt schon nicht gut an. Da wird gern so getan, als hätte man sie nicht mehr alle oder als wäre das alles nur halb so schlimm. Die „Bild“-Zeitung, die große Klappe für diejenigen, die ihre eigene nicht aufbekommen, ist sich wie so oft nicht zu schade, die rechtsradikalen Verbrecher dahin zu rücken, wo die Räuberpistolen warten. „Nazi-Braut im Bett mit dem Killer!“, titelte sie und treibt die Verharmlosung mit großen Schritten voran.

In den letzten Tagen des Jahres machte das Böse dann doch noch mal von sich reden: Kim Jong Il, nordkoreanischer Diktator, stirbt. Und während die Medien sich schon auf Lebkuchenmodus geschaltet hatten, werden sie noch einmal munter und präsentieren als Nachfolger seinen „bizarren Sohn“ („Bild“). Nach dieser Ankündigung ist klar, es geht munter weiter. Unholde, Verbrecher, Tölpel und Scharlatane werden uns erhalten bleiben. Und die Lust an ihnen auch.

Silke Burmester

ist freie Journalistin und Kolumnistin bei „taz“ und „Spiegel Online“. Im Februar erscheint ihr neues Buch „Beruhigt Euch!“ (Kiwi)

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Erschienen in Ausgabe 01+02/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 38 bis 41 Autor/en: Silke Burmester. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.