Bilder mit Explosionsstoff

Goran Tomasevic steht an der Straße zwischen Benghazi and Ajdabiyah. In Sichtweite Fahrzeuge der Streitkräfte des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi. Plötzlich erschüttern Detonationen die Libysche Wüste. Geistesgegenwärtig fängt der Reuters-Fotograf den Feuerball der Explosionen mit seinem Teleobjektiv ein.

Tomasevic hatte ein ganz seltenes Bild im Kasten, eines vom Luftangriff der Koalitionsstreitkräfte. Weil die Medien bereits über die Bombardierungen der Nato-Flieger berichtet hatten, Bildbeweise aber rar waren, wurde das Foto am nächsten Tag weltweit massenhaft publiziert – oft als Titelfoto. „Da habe ich einfach Glück gehabt“, sagt Goran Tomasevic schlicht. Reporterglück. Es war das im Jahr 2011 am häufigsten veröffentlichte Foto der Agentur Reuters. Michael Leckel, verantwortlicher Redakteur News Pictures Germany bei Reuters, sieht darin „das Glück des Tüchtigen“, denn Tomasevic gehöre zu den besten Kriegsfotografen der Welt.

Ortsrecherche über Twitter

Doch was machen die Tüchtigen, wenn sie – wie im Falle von Syrien – nicht vor Ort sein können? „In solchen Fällen werden Amateurbilder heute eher akzeptiert als früher“, meint Isabelle Wirth, Leiterin des Bilderdienstes für Deutschland bei Agence France-Presse (AFP). Ein Amateurfoto wurde bei Reuters zum absoluten Quotenbringer des Jahres. Ein Foto vom zerstörten Hubschrauber im Garten des getöteten Osama Bin Laden war – auch aufgrund mangelnder Bildalternativen – „ein ziemlicher Scoop“, wie Michael Leckel urteilt: „Das Exklusivmaterial haben wir den exzellenten Kontakten unserer pakistanischen Kollegen zu verdanken.“

Die Bedeutung der sozialen Netzwerke in der Nachrichtenwelt wächst. Das offenbarte sich sehr deutlich bei der Berichterstattung über die Revolutionen in der arabischen Welt. Allerdings berichten leitende Bildredakteure aus News-Agenturen, dass private Internetmeldungen in erster Linie der Recherche dienen und nur nebensächlich der Bildbeschaffung. Ein klassisches Beispiel dafür, warum dies heute aus dem Redaktionsalltag nicht wegzudenken ist: Während der Castor-Transporte ins Wendland informierten sich die meisten Fotoprofis über Twitter darüber, wo gerade Aktionen liefen. So konnten sie nah am Geschehen sein.

„Wir greifen nur ganz selten auf Amateurbilder zurück und verbreiten sie nur, wenn sich die Authentizität und die Rechte hundertprozentig verifizieren lassen“, so beschreibt Peer Grimm, Chef vom Dienst in der Bildredaktion bei DPA, die bei Nachrichtenagenturen gängige Praxis. Als nach der Ermordung von Osama Bin Laden Fotos des Getöteten im Internet auftauchten, funktionierte diese Kontrolle. AFP konnte mit Hilfe der speziellen Software „Tungstene“ feststellen, dass das Foto manipuliert war. Das Programm analysiert, wo Partien unterschiedlicher Bilder zusammengefügt wurden.

49 Beschwerden

Ein anderes von AFP verbreitetes Foto sorgte auch für Diskussionsstoff, obwohl es authentisch ist. Das Bild des Leichnams von Muammar al-Gaddafi, das ein Fotojournalist von dem Kameradisplay eines Beteiligten ablichtete, brachte es beim Deutschen Presserat auf insgesamt 49 Beschwerden. Trotzdem stufte der Beschwerdeausschuss solche Fotos als zulässige „Dokumente der Zeitgeschichte“ ein. Wegen „unangemessen sensationeller Darstellung“ sprach der Presserat allerdings zwei Boulevardblättern eine Missbilligung aus. Sie hatten Ausschnitte vom blutverschmierten Gesicht Gaddafis groß abgebildet.

Nicht das umstrittene Foto vom Todestag Gaddafis, sondern eines, das später bei der Zurschaustellung des Leichnams in Misrata vom Profi fotografiert wurde, war 2011 eines der meistgedruckten Bilder von AFP. Die Leiterin der Bildredaktion Isabelle Wirth schätzt die Diskussion um solch heikle Bilder: „Zum Glück findet eine breite öffentliche Debatte statt, die nicht nur das große Interesse an der Fotografie als Zeitdokument offenbart, sondern auch uns Redakteure immer wieder daran erinnert, dass im Redaktionsalltag eine ordentliche Bildauswahl nicht der Sensationalität geopfert werden darf“, sagt sie. „Dennoch dürfen Journalisten nicht darauf beschränkt werden, Geschehnisse auszublenden.“

Mittendrin, statt nur dabei

„2011 war eine besondere Häufung internationaler Top-Themen zu beobachten“, sagt Peer Grimm. Die DPA reagierte – ebenso wie andere Agenturen – mit der Entsendung eigener Fotografen. So konnte der DPA-Fotograf Hannibal gleich nach seiner Ankunft in Kairo eines der erfolgreichsten Bilder des Jahres der Nachrichtenagentur schießen: Reiter, die auf Kamelen in die Menge friedlicher Regime-Kritiker preschen, um die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz zu bedrohen und zu verletzen – so etwas hatte man bislang nicht für möglich gehalten.

„Zusätzlich zu der Versorgung mit Auslandsbildern durch die AP schicken wir gerne auch eigene Fotografen zu Ereignissen mit besonderer Relevanz für Deutschland – und werden dies in Zukunft, besonders im Sport, noch verstärken“, sagt Dirk von Borstel, Chefredakteur des DAPD-Bilderdienstes.

Ein Grund ist der gesellschaftliche Erfahrungshorizont eines Fotojournalisten und sein Instinkt für die Bedürfnisse deutscher Medien. Von Borstel führt das Beispiel eines Foto-Bestsellers an, das Bild von Karl-Theodor zu Guttenberg auf dem Weg zum International Security Forum in Halifax: „Selbst unser deutscher Fotograf hätte den Ex-Verteidigungsminister bei dessen verändertem Aussehen fast nicht erkannt.“ Der Fotograf vor Ort und die Redaktion, die ihn dort hinbeorderte – noch bevor der neue Guttenberg-Hype losbrach –, bewiesen ein gutes Gespür, welches ihnen stattliche Veröffentlichungszahlen bescherte. „Außerdem unterstreicht und interpretiert ein solches journalistisches Bild aktuelle Aspekte, die hierzulande in der Diskussion sind“, erklärt von Borstel: „Solche Einsätze in Kooperation mit AP sind also ganz im Sinne der Interessen unserer Kunden.“

Ein gutes Beispiel für eine speziell deutsche Perspektive ist ein Foto des DPA-Cheffotografen Michael Kappeler von Guido Westerwelle in einem Pekinger Museum: der deutsche Außenminister vor einem Gemälde mit sich geißelnden Männern – eine freche Interpretation, die oft gedruckt wurde.

Aus französischer Sicht sind zudem noch kulturelle Unterschiede zu entdecken. „Fotografen und Redaktionen in Deutschland pflegen eine hohe Fotokultur. In Zeitschriften nimmt die Fotografie einen wichtigen Platz ein. Und die kommt nicht nur streng journalistisch daher, sondern auch als unterhaltsames Feature-Bild“, sagt AFP-Bildchefin Wirth. „Außerdem werden Fotografen als richtige Journalisten anerkannt – stärker als in anderen Ländern.“

Überall auf der Welt gleich scheint der stärkere Zeitdruck zu sein, den Bildredakteure aushalten müssen. Die steigende Relevanz der schnellen Onlinemedien erzeugt eine Erwartungshaltung nach Bildlieferungen möglichst in Echtzeit.

So wurden die Reuters-Fotografen technisch in die Lage versetzt, direkt aus der Kamera in die Redaktion zu senden. Zur Papst-Rede im Bundestag, wo keine für die Übertragung üblichen Laptops erlaubt waren, konnten sie in der Kamera editieren und erste Bilder noch während der Rede hinausfunken.

Die DPA hielt da mit vielen unterschiedlichen Standpunkten dagegen. Den Besuch von Benedikt XVI. begleiteten 15 Fotografen der Agentur. So landete auf der Hitliste der meistverbreiteten Bilder der DPA sogar ein ganz stilles Alltagsbild einer Pilgerin auf dem Weg zur Papstmesse.

„Für die Bildstrecken der Onlinemedien besteht neben den klassischen Nachrichtenfotos immer häufiger auch der Bedarf an optischen Randnotizen“, hat Peer Grimm erkannt: „Optische Vielfalt ist eindeutig im Trend“.

medium:online

Fotogalerie: Die Top fünf der meistnachgefragten Nachrichtenfotos der vier Agenturen sind dokumentiert unter www.mediummagazin.de

Manfred Scharnberg

(59) ist Chefredakteur des „Freelens Magazin“. Als Fotograf und Autor betreut er außerdem einige Kundenmagazine.

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Erschienen in Ausgabe 01+02/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 42 bis 47 Autor/en: Manfred Scharnberg. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.