Irgendwann an diesem Nachmittag in der Redaktion der „Thüringer Allgemeinen“ (TA) fällt mich der Gedanke an: Diese Geschichte kannst du nur falsch machen. Egal wie du schreibst, egal, wen du zitierst, die Kollegen hier werden es zerpflücken und ablehnen. Du bist ein Eindringling, du wirst vom Chefredakteur geduzt, der wiederum selbst ein Eindringling ist. In der Psychologie nennt man das Projektion: Die Kollegen stecken mich in die Schublade, weil sie selbst in eine gesteckt werden. Aber vielleicht hat das alles gar nichts mit mir zu tun, sondern mit dem Zustand, in dem sich die Redaktion der TA befindet.
Wir sitzen im Glashaus. Fünfter Stock des TA-Druckzentrums am Rand von Erfurt. Im November ist die Redaktion hier hoch gezogen. Die 30 Kollegen, die zuvor drei Stockwerke tiefer in kleinen Einzelbüros an einem langen Flur aufgereiht waren, sitzen jetzt in zwei ballsaalgroßen, rundumverglasten Lofts. Das Büro von Chefredakteur Paul-Josef Raue ist nur durch eine Glaswand von den Desks getrennt. Er wirkt einsam im Vergleich zum vollen Großbüro. Und das ist er auch. Bis heute hat er nur einen kleinen Teil der Mannschaft hinter sich gebracht. Wenn die Redakteure vom Desk zu ihrem Chef schauen, sehen sie ihn im Gegenlicht. Der Schattenriss eines Chefredakteurs. Das scheint er auch in den Köpfen der meisten Kollegen zu sein. Ein Schatten, der über sie kam, der Veränderung brachte.
Auch heute, 14 Monate nach Raues Dienst-antritt, begegnen ihm mehr oder weniger offen viele Redakteure mit Argwohn.
An dieser Stelle müssen wir von Locht-hofen sprechen. Sergej Lochthofen, Mitbegründer der TA, 20 Jahre deren Chefredakteur. Der Mann mit dem Kürzel S. L., der das Blatt prägte und repräsentierte. Er wurde im November 2009 von der Konzernzentrale der WAZ-Mediengruppe in Essen vor die Tür gesetzt.
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, Lochthofens Ablösung und den darauf folgenden Tumult nicht mehr aufzuarbeiten. Das ist mehr als ein Jahr her, und damals wurde überall darüber geschrieben. Aber das geht nicht. Lochthofen weht noch immer als Geist durchs Haus. Er sitzt unsichtbar bei Gesprächen mit am Tisch. Bei der TA herrscht eine eigene Zeitrechnung: vor S. L. und nach S. L.
Selbst Paul-Josef Raue, der im November 2009 über Nacht die Chefredaktion übernahm, kann sich davon nicht frei machen. Er weiß, dass er bei allem, was er tut oder lässt, an seinem Vorgänger gemessen wird. Aber er ist auch selbstbewusst genug, sich nicht aus der Bahn bringen zu lassen. In dem gut einen Jahr seiner Amtszeit hat Raue der Redaktion viel zugemutet. Einige sagen, er habe keinen Stein auf dem anderen gelassen. Er hat zwei Desks eingeführt, einen für die 14 Lokalredaktionen und einen für den Mantel. Sie heißen – Raue mag keine Anglizismen – Thüringen-Tisch und Nachrichten-Tisch. Er hat die Mantel-Ressorts aufgelöst und überall die Trennung in Producer und Reporter eingeführt. Er hat die tägliche Mittagskonferenz abgeschafft und über den Tag verteilte Stehkonferenzen eingerichtet. Er hat die Parole ausgegeben, dass Lokales und Regionales Vorrang haben sollen.
Vorwurf: Sparmodell
Das ist noch nicht alles: Geplant ist ein Service-Tisch, der die gesamte Kommunikation zwischen Lesern und Redaktion übernehmen soll. Und noch in diesem Jahr soll ein neues Redaktionssystem eingeführt werden. Dann wird am Nachrichten-Tisch auch der Mantel der „Ostthüringer Zeitung“ (OTZ) produziert.
Dieses neue System soll auch die Umsetzung der Print-Inhalte für Online erleichtern. Bisher sei der technische Aufwand hierfür noch sehr hoch, so Jan Hollitzer, der seit zwei Jahren den TA-Online-Auftritt leitet. Eine eigene Online-Redaktion gibt es bei der TA nach wie vor nicht. Zudem gilt Raue im Haus nicht als Vorreiter in Sachen Online. Raue selbst verweist auf den Relaunch des TA-Auftritts vor einem Jahr, bei dem die Navigation und Übersichtlichkeit verbessert worden seien. Überdies werde derzeit an einer iPad-App für die drei Thüringer Zeitungen gearbeitet. Als Hauptziel der Desk-Lösung nennt Raue: die Arbeit soll professioneller werden. Natürlich auch effizienter. Man kann getrost annehmen, dass Sparen zu Raues Auftrag gehört. Lochthofen erzählt in dem Zusammenhang gerne, dass das Blatt unter seiner Führung eine zweistellige Rendite einfuhr. Wir können das nicht nachprüfen. Der WAZ-Konzern nennt keine Zahlen. Die Zeitungsgruppe Thüringen (ZGT) mit TA OTZ und der „Thüringischen Landeszeitung“ (TLZ) gilt als eine der profitabelsten in der WAZ-Mediengruppe. Raue sagt, wie viel Rendite das Haus macht, sei Sache der Geschäftsführer. Der Chefredakteur sei für die Inhalte zuständig. Sein Richtmaß ist die Auflage. Ein Blick auf die Zahlen: Die TA hat in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich an Auflage verloren. Zwischen 2001 und 2009 lag der jährliche Verlust zwischen drei und fünf Prozent, 2010 lediglich 2,9 Prozent. „Wir waren lange das Schlusslicht, sind jetzt im oberen Mittelfeld der östlichen Bundesländer“, sagt Raue (s. Info S. 44). Der Sinkflug scheint sich tatsächlich zu verlangsamen.
Klar ist aber auch: Wenn weniger Redakteure beschäftigt werden, weniger Honorare für freier Mitarbeiter gezahlt werden, weniger Platz verbraucht wird, fördert das die Rendite. Kritiker sagen, dass Raues Handeln genau davon bestimmt sei. Der Desk: ein Sparmodell. Die Einteilung in Blattmacher und Reporter: ein Sparmodell. Die Hinwendung zum Lokalen: ein Sparmodell.
Bodo Ramelow, Fraktionsführer der Linken im Thüringer Landtag, kennt die TA von der ersten Stunde an. Er beklagt, dass die Neustrukturierung zu einer publizistischen Verflachung führe. „Es ist verheerend, dass es drei Zeitungen in Thüringen gibt, die alle dem WAZ-Konzern gehören und die kein eigenes Profil mehr haben.“ Vor allem TA und OTZ verlören mehr und mehr ihren eigenen Stil: „Was wir erleben, ist Vermatschtes.“ Von einer lokalen Qualitätsoffensive der TA habe er nichts bemerkt, „abgesehen von einer gruseligen Leserbriefseite“.
Ähnlich sieht das der Thüringer DJV-Geschäftsführer Ralf Leifer. Er befürchtet sogar, dass die Desk-Lösung die Lokalteile weiter schwächt.Denn die Kollegen, die nun am Thüringen-Tisch in der Zentrale arbeiten, wurden aus den Lokalredaktionen abgezogen. Leifer: „Dadurch wird das Ziel ins Gegenteil verkehrt; die Präsenz vor Ort wird geringer.“
Lokaler Umbruch
Fragen wir den, der den Tisch leitet. Mirko Krüger, zuvor Chef vom Dienst, sitzt 16 Kollegen vor, die 14 Lokalausgaben und den Thüringen–Teil produzieren. Zehn Redakteure am Desk sind aus den Lokalredaktionen abgezogen (oder geschickt) worden. Krüger gibt zu, es gebe Lokalchefs, die unter der neuen Struktur leiden. „Aber die Mehrheit ist froh.“ Er betont: „Wir sehen uns nicht nur als Produktionseinheit, sondern als Hüter der Qualität.“
Der Tisch bringe Synergien, der Informationsfluss sei viel besser als früher. „Es herrscht ein permanenter Austausch von Geschichten und Informationen.“ Dazu gehört für Krüger auch, nicht nur Forderungen an die Außenredaktionen zu stellen, sondern ihnen auch Inspiration und Hilfe zu geben. Ein Beispiel: Die Berichterstattung über die kommunalen Haushalte sei in vielen Außenredaktionen „schlecht gemacht“. Nun wurden zwei Volontärinnen geschult und auf den Erfurter Stadthaushalt angesetzt. Heraus kam eine Serie, die die städtischen Finanzen nach allen Regeln der Kunst auf 24 Seiten erklärt. Das Drehbuch dieser Arbeit wird nun allen Redaktionen zur Verfügung gestellt.
Raue ist sicher, dass durch die Desk-Lösung die Verwurzelung der Lokalredaktionen in der Region eher gestärkt wird. „Die Redakteure draußen haben mehr Zeit zu recherchieren. Wir haben viel mehr Kontakt zur Leserschaft.“
Lochthofen sieht das, selbstredend, anders: „Die Blaupause für den Umbau der Redaktion war offenbar ein Call-Center“, sag
t der Ex-Chef. „Es geht nicht um Kreativität oder Produktivität, sondern darum, Einsparungen zu kaschieren.“ Im vergangenen Jahr seien fast zehn Kollegen gegangen. Zu ihnen zählt auch seine Frau Antje-Maria Lochthofen, die langährige stellvertretende Chefredakteurin der TA. Ursprünglich sollte sie zusammen mit ihrem Mann ihren Platz räumen. Diese Entscheidung wurde aber schnell wieder zurückgenommen. Sie blieb Vize-Chefin unter Raue, war aber 2010 lange krank und verließ die TA Ende des Jahres.
Raue nimmt die Kritik gelassen. Die Mannschaft werde nun mal nicht größer, die Etats auch nicht, sagt er. „Wir werden einen Teil der Stellen, die frei werden, nicht nachbesetzen.“ Aber er betont zugleich: „Es gab keine betriebsbedingte Kündigung.“ Das Auslaufen von ein paar Zeitverträgen sei „harmlos“ im Vergleich zu den bitteren Einschnitten, die andere Häuser erlebten. Da stehe die TA mit 130 Redakteuren noch ganz gut da. Der Chefredakteur macht auch keinen Hehl daraus, dass die geplante Zusammenlegung der Mantelproduktion von TA und OTZ „eine Sparvariante“ sei. Aber die Gleichung „Einsparung = Qualitätsverlust“ lässt Raue nicht gelten. Er verspricht: „Die Thüringen-Berichterstattung wird größeren Raum einnehmen – und damit werden wir das Profil in beiden Zeitungen schärfen.“
Zuzutrauen ist ihm das. Das Konzept der Regionalisierung hielt der heute 60-Jährige schon 1984 hoch, als er bei der „Oberhessischen Presse“ seine erste Stelle als Chefredakteur antrat. Er richtete die Blätter, die er leitete, konsequent regional und lokal aus. Bei der „Frankfurter Neuen Presse“ scheiterte er damit, wurde 1997 entlassen. Bei der „Braunschweiger Zeitung“ hingegen, seiner jüngsten Station, wurde seine Arbeit mit zahlreichen Preisen für sein Konzept der „Bürgerzeitung“ belohnt.
Gepackte Koffer
Wir sitzen im Glashaus. Hier, im neugestalteten Redaktions-Loft, arbeiten die Kollegen, die lautstark gegen Lochthofens Ablösung protestierten; die in ihrer eigenen Zeitung öffentlich die Politik der WAZ-Verlagsleitung anprangerten. Vom Kampfgeist dieses Novembers 2009 ist nichts mehr zu spüren. Er hat sich in der Weite des Großraumbüros ebenso aufgelöst wie die alten Ressortgrenzen. Die Redaktion scheint verstummt. Lochthofen, der immer noch gute Kontakte in die Redaktion hat, nennt die Stimmung „bleiern“. Viele Kollegen säßen auf gepackten Koffern. Insider, die nicht genannt werden wollen, bestätigen das. Einer umschreibt das Klima so: „Ein Teil der Leute hat Angst, ein Teil ist unzufrieden, ein Teil will weg.“ Gekündigt hat bisher noch keiner.
Kulturredakteur Henryk Goldberg, der seit gut 18 Jahren bei der TA arbeitet, vergleicht dagegen die Stimmung in der Redaktion mit der im ganzen Land: „Allgemeine Unzufriedenheit bei individuellem Wohlbefinden“. Er sagt das ohne Ironie. Man dürfe nicht vergessen, dass auch Lochthofen anstrengend und manchmal schwierig war, dass viele Kollegen Angst vor ihm hatten, wenn sie in die große Konferenz gingen. Und jetzt? „Der Druck ist deutlich geringer geworden“, so Goldberg. Zumindest im Mantel. Aus den Lokalredaktionen höre man hingegen schon Klagen über größere Arbeitsbelastung.
Es gibt nicht schwarz oder weiß. Auch Goldberg findet die neue Leser-Seite schlimm, weil sie voller DDR-Nostalgie steckt. Aber er sagt auch: „Wenn man es ernst meint mit der Leser-Blatt-Bindung, dann geht das nur mit einer Verschlichtung.“ Verschlichtung. Wie passt das zur Qualitätsoffensive? Raue sagt: „Wir sind kein Eliteblatt, sondern ein Massenmedium. Aber wir glauben nicht, dass die Masse dumm ist.“
Er verweist darauf, dass die Leser-Seite in der Beliebtheitsskala des Publikums den zweiten Rang nach dem Lokalteil hat. Raues Credo heißt Nähe: „Wir müssen den Leuten das Gefühl geben, eure Meinung ist etwas wert. Eine Zeitung muss mitkriegen, wie das Volk tickt.“
„Vergiss das nie!“
Die Kollegen bei der TA sind der Meinung, dass sie das schon bisher wussten. Vielleicht, so mutmaßen einige, weiß der Chefredakteur nicht, wie seine Mannschaft tickt. Im Vergleich zur Omnipräsenz von Lochthofen ist Raue in der täglichen Zeitungsproduktion zurückhaltend, manche sagen abwesend. Eine Reihe von Kollegen beklagt, dass der Chef kaum regiert, sortiert, Themen verteilt. Andere sind froh drum. Sicher ist: Raue arbeitet leiser, unauffälliger als sein Vorgänger.
Ihm das als Schwäche auszulegen, wäre ebenso falsch wie das Vorurteil, Raue sei ein williger Erfüllungsgehilfe der WAZ-Zentrale. Natürlich will Raue erfolgreich sein, aber er denkt dabei durchaus journalistisch. In Braunschweig hat er als einziger WAZ-Chefredakteur der dpa nicht gekündigt. Auch in Sachen Volontärsausbildung ist er anderer Meinung als die Konzernchefs in Essen. Der Mann hat bewiesen, dass er auch gegenüber dem großen Hombach Nein sagen kann. Vielleicht tut er das nur leiser, diplomatischer als Lochthofen.
Raue weiß auch um die Grenzen seiner Macht. Er hat selbst erfahren, wie es ist, entlassen zu werden. Als wir das Glashaus am Rande von Erfurt verlassen, sagt er nachdenklich, mehr zu sich selbst: „Du bist Angestellter – vergiss das nie.“
Erschienen in Ausgabe 03/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 42 bis 43 Autor/en: Robert Domes. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.