Es war eines der selten wahrhaftigen Interviews, die der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker über seine Not mit der Wahrheit dem „Spiegel“ gab: „Wir tun uns angesichts der Nervosität der Finanzmärkte schwer, die Öffentlichkeit stets adäquat und korrekt zu informieren. Das ist bedauerlich, aber leider unvermeidlich.“
„Spiegel Online“ berichtete über ein geplantes Geheimtreffen der EU-Finanzminister zur Lage in Griechenland. Und obwohl die schwarzen Limousinen der Minister bereits auf dem Weg nach Luxemburg waren, dementierte Juncker das Treffen: „Ich hatte zehn Sekunden Zeit, um zu entscheiden, wie ich auf die Meldung von ‚Spiegel Online‘ reagiere. Mal angenommen, ich hätte gesagt: ‚Okay, wir sitzen zusammen, aber ich sage nicht, worüber wir reden wollen‘, hätte das an den Finanzmärkten einen Tsunami ausgelöst. Da habe ich mich lieber dafür entschieden, eine kleine Empörungswelle über eine Notlüge zu produzieren.“
Die Sache mit der Doppelmoral
Gewissensnöte plagen den Chef der Euro-Gruppe dabei nicht, jedenfalls renne er deshalb nicht sofort zu seinem Beichtvater. Und dem „Spiegel“, durchaus eine Glaubwürdigkeitsinstanz im Journalismus, hat er dabei gleich noch dezent eine mitgegeben: „Der liebe Gott versteht von den Finanzmärkten mehr als viele, die darüber schrei-ben.“
Für die Rechtfertigung einer Lüge den lieben Gott zu bemühen, das ist schon höhere Dialektik. Der einfache Kirchgänger muss das nicht verstehen. Und trotzdem blieb Juncker keine andere Wahl: Die Lüge gehört zum Geschäft. Ehrlich ist, wer dazu steht.
Klaus Kocks, der frühere Kommunikationschef von Volkswagen, wurde innerhalb seiner Zunft heftig angegriffen, als er aussprach, was gängige Meinung ist: „PR-Berater lügen.“ Diejenigen, die das Mantra der reinen Wahrheit vor sich her tragen, bezichtigte er der Doppelmoral. Man mag darüber streiten, was „Lüge“ ist und was normale Konversation. Wer seinem Gegenüber wahrheitsgetreu sagt, dass ihn seine Befindlichkeiten nicht interessierten oder dass er wie das Leiden Christi aussehe, gilt in aller Regel als unhöflich, im schlimmsten Fall als asozial. Also lügen wir – und wahren Anstand und Sitte.
Für den Publizisten Roger Willemsen ohnehin eine Selbstverständlichkeit: „Eine Gesellschaft, die allein auf Wahrheit bauen würde, wäre kaum denkbar. Wesentliche Teile unserer Kultur basieren auf Lügen. In der Oper singt der Sterbende noch mit dem Dolch im Herzen.“ Der italienische Schriftsteller Umberto Eco spielt die gleiche Partitur: „Die Lüge ist etwas zutiefst Menschliches.“
Sie schweigen, sie lügen nicht
Wenn die Lüge also Ausdruck der Intellektualität ist, fragt man sich unwillkürlich, warum dieses menschliche Verhalten überhaupt diskreditiert wird? Angeblich lüge jeder zivilisierte Mensch 200 Mal am Tag, mimische Verdrehungen der Wahrheit eingeschlossen. Es scheint überhaupt das Schmiermittel gesellschaftlichen Zusammenlebens zu sein.
Dennoch traut man Pfarrern, Ärzten, Richtern und zum Teil auch Journalisten eine größere Wahrheitsliebe zu als beispielsweise Politikern, Bankern, Börsenmaklern oder PR-Experten. Alle diese Berufsgruppen machen ihre Geschäfte und leben von ihrer Glaubwürdigkeit. Und obwohl man weiß, dass es auch die Edelsten dieser Spezies mit der Wahrheit nicht immer so genau nehmen, stehen die einen unter dem Generalverdacht zu lügen, die anderen weniger.
PR-Leuten wird schon im ersten Semester ihrer Ausbildung beigebracht, dass sie zwar nicht immer alles sagen müssten, doch niemals lügen dürften. Aber ist das Weglassen von Fakten nicht auch schon eine Lüge? Journalisten wiederum, vor allem solche, die sich investigativ der Aufklärung verschrieben haben, interpretieren Zurückhaltung bei Pressesprechern oft als Versuch, die Wahrheit zu vertuschen. Es ist das Geschäft der PR, so zu kommunizieren, dass für das Unternehmen, den Minister oder für die Finanzmärkte kein irreparabler Schaden entsteht. Das einzugestehen, so wie es Juncker tat, hat etwas mit Redlichkeit zu tun.
Über den moralischen Aspekt dieses Handelns urteilen andere. Es sind im allgemeinen Journalisten, die beim Niederschreiben die Einteilung in Gut und Böse vornehmen – unabhängig vom Wahrheitsgehalt ihrer eigenen Geschichten. Und bei dieser journalistischen Klassifizierung fallen eben die PR-Leute durch den Rost. Auch wenn höhere Dialektik im Spiel ist – und der liebe Gott ein Auge zudrückt.
„Die Wahrheit“, sagt der Tübinger Medienprofessor Bernhard Pörksen, „ist die Erfindung eines Lügners.“
Anton Hunger (63) ist Journalist und war 17 Jahre Pressechef bei Porsche. Heute betreibt er das Kommunikationsbüro „publicita“ in Starnberg.
Er ist u. a. auch Mitgesellschafter von „brand eins“.
Erschienen in Ausgabe 12/2011 in der Rubrik „Praxis“ auf Seite 76 bis 76 Autor/en: Anton Hunger. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.