Natürlich bleiben auch im neuen „Spiegel“-Gebäude die Hierarchien sichtbar. Ganz oben, in der 13. Etage, sitzt die Geschäftsführung um Ove Saffe. Ganz unten die Poststelle. Und selbstverständlich sind Saffes Büro und das des direkt unter ihm sitzenden Chefredakteurs Georg Mascolo die schönsten. Mit einer Fensterfront, die sich zu einer extremen Spitze verengt und einen spektakulären Blick über Hamburg bietet. Weit hinaus über die Elbphilharmonie, die als westlicher Gegenpol die Hafen-City einrahmt.
Endlich frische Luft
Ein schicker Tischkalender für die Mitarbeiter, aufwendig gestaltet, hatte seit dem Sommer die Tage bis zum Umzug heruntergezählt, Heft 38 war dann die letzte an der Brandstwiete erstellte „Spiegel“-Ausgabe. Ende September waren schließlich alle Mitarbeiter an die Ericusspitze umgezogen, fünf Gehminuten vom alten Haus entfernt. In den ersten Tagen wähnte sich mancher wie nach einem Jobwechsel, so ungewohnt war die neue Umgebung mit dem haushohen, eher zu einem Konzern als zum „Spiegel“ passenden Atrium, den vielen Treppen und Brücken und lichten Fluren. Endlich, endlich, sagen manche, kann man jetzt Fenster öffnen, frische Luft hereinlassen, ist nicht mehr auf eine Klimaanlage angewiesen.
Ericusspitze 1 ist die nunmehr vierte Redaktionsadresse in der 64-jährigen Geschichte des Nachrichtenmagazins – nach seiner Gründung in Hannover, der Zeit im Pressehaus am Speersort und den 42 Jahren an der Brandstwiete, wo früher ein Schwimmbad im Keller und bis vor kurzem noch eine Sauna dazugehörten.
Aber es war eben alles zu eng geworden, die Spiegel-Gruppe auf mehrere Standorte verteilt: Das „manager magazin“ saß längst gegenüber im schwarzen IBM-Gebäude, Spiegel TV residierte im Chilehaus und um die Kollegen von „Spiegel Online“ zu besuchen, musste die vielspurige Willy-Brandt-Straße überquert werden. Jetzt sind alle 1.100 in Hamburg angesiedelten Mitarbeiter der Spiegel-Gruppe vereint: ganz unten Spiegel TV mit einem Studio gleich neben dem Eingang, in der Mitte des Gebäudes der Kern der Marke Spiegel, die Redaktion des gedruckten Magazins, und die Onliner ganz oben, weil das die einzige durchgehende Etage ist, in der es möglich war, einen Newsroom einzurichten. Auch wenn der schon jetzt zu klein sein soll für die Online-Redaktion, wie aus verschiedenen Ecken zu hören ist: Sie ist zwischen Planung und Umzug einfach schneller gewachsen, als gedacht.
Erstaunlich schnell scheinen manche die Vergangenheit abgestreift zu haben, an der sie zuvor beharrlich festgehalten hatten. Vielleicht fiel es gerade deshalb leicht, weil so gar nichts mehr an früher erinnert: die Kantine im Erdgeschoss zum Beispiel, die in hellem Grün gestaltet ist, während der alten, in psychedelischem Rot-Lila-Orange gestalteten nur noch in der kleinen Snackbar im fünften Obergeschoss gehuldigt wird.
Immerhin: Auch in der neuen Kantine muss der „Spiegel“-Redakteur nicht wie anderswo Schlange stehen und sich sein Essen selbst holen. Er wird bedient, selbstverständlich. Ansonsten scheinen die auf allen Fluren zu findenden Kaffeeküchen für den Koffeinschub zwischendurch großen Anklang zu finden. Der „Spiegel“-Marotte, sich von eigens engagierten Servierdamen bedienen zu lassen, wurde in den vergangenen Jahren ohnehin kaum noch gefrönt.
Das sind freilich Petitessen gegen das eigentliche Signal, das die Spiegel-Gruppe mit dem Umzug aussenden will: ein integriertes Medienhaus der kurzen Wege, lautet die Botschaft. Denn: Alles ist unter einem Dach, von Print über TV bis Online, vom „Spiegel“ über seine diversen Ableger bis zum „manager magazin“, von der Produktion, dem Vertrieb und der Vermarktung bis zum Leser-Service.
Nicht zu vergessen die Hausdokumentation – und damit zu einer der wichtigsten organisatorischen Neuerungen: Während „die Dok“, wie sie sie alle nennen, früher im Pavillon neben dem Redaktionsgebäude saß, ist sie im neuen Haus an der Ericusspitze auseinandergerissen und über die diversen Ressorts verteilt. Die Deutschland-Dok befindet sich oben im 12., die Auslands-Dok bei ihrem Ressort im 10., die Kultur-Dok entsprechend im 9. Geschoss. Das soll den Alltag erleichtern.
Und wo ist bei all dem Rudolf Augstein geblieben? Unten, im Atrium, gleich rechts auf Kopfhöhe wird an den „Spiegel“-Gründer erinnert. Dezent allerdings. „Sagen, was ist“, steht da in Metall eingefasst auf der Sandstein-Wand, unter dem Zitat Augsteins Unterschrift. Keine Büste, kein Symbol der Heldenverehrung. Das hätte nicht zu ihm gepasst.
Erschienen in Ausgabe 10-11/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 10 bis 11 Autor/en: Ulrike Simon | Foto: Noshe/Der Spiegel. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.