Das Internet ist nicht gut. Es ist nicht schlecht. Es ist auch nicht neutral, es verändert Dinge. Es verändert die Art, wie wir kommunizieren. Und: wie wir Medien nutzen.
Die Musikindustrie, die Presse, jetzt also das Fernsehen – die „people, formally known as audience“ lassen sich nicht länger von Chefredakteuren und Programmverantwortlichen diktieren, was sie zu sehen, zu hören oder gar zu denken haben. Sie diskutieren Tag und Nacht miteinander in Blogs, in Foren oder Bewertungsportalen über die Themen, die sie wirklich interessieren. Das ist im Prinzip nichts Neues, denn geredet haben die Leute immer schon, ob morgens am heimischen Frühstückstisch oder am Abend beim Bier in der Kneipe. Neu ist: Die Menschen reden heute öffentlich, und das völlig unabhängig von den klassischen Gatekeepern.
Das Analogzeitalter ist vorbei
Noch immer gibt es Programmverantwortliche, die offen die Meinung vertreten, der Fernsehzuschauer sei per se passiv, weil er das so wünsche. Fernsehen sei ein Leanback-Medium, heißt es in den Führungsetagen, kein Mensch wolle sein eigener Programmdirektor sein. Ich frage: Wenn dem wirklich so ist, wozu dann überhaupt eine Fernbedienung? Oder ist es nicht vielmehr so, dass dem Fernsehzuschauer über all die Jahre nichts anderes übrig blieb, als mit dem Vorlieb zu nehmen, was gerade lief – schlicht und ergreifend aus Mangel an Alternativen?
Wenn Sie einen Teenager in Ihrer Familie haben, wissen Sie, dass die Zeiten der „rivers of gold“, wie Rupert Murdoch das glorreiche Zeitalter der Presse einmal bezeichnete, lange vorbei sind. Menschen, die mit dem Internet groß geworden sind, lassen sich nicht länger vorschreiben, wann oder wo sie etwas sehen wollen. Sie holen sich ihre Wunschinhalte aus dem Netz; wenn es sein muss, auch illegal. Wer so aufwächst, der wird auch später, wenn er älter ist, nicht freiwillig zurückkehren wollen ins Analogzeitalter. Wer das denkt, glaubt sicher auch, die Digital Natives würden im vorangeschrittenen Alter wieder anfangen, Briefe zu schreiben oder mit einer Wählscheibe zu telefonieren.
Sender hier, Empfänger dort
Die Fernsehsender haben reagiert und Mediatheken entwickelt. Doch ist das die Antwort? Befriedigen Video-on-demand-Angebote tatsächlich den Wunsch der Menschen nach mehr Mitbestimmung und Teilhabe? Noch immer fehlen bei den meisten TV-Angeboten Kommentarfunktionen oder Bewertungsmöglichkeiten. Eine Verlinkung zu Webseiten, auch außerhalb der eigenen Programme, ist die Ausnahme. Das Problem der früheren Deutungs-Monopolisten: Das Netz lebt von der Vernetzung, nicht von der Abschottung. Bis heute haben die Programmchefs lediglich ein paar neue Gucklöcher in ihre Elfenbeintürme gehämmert, am Sender-Empfänger-Prinzip jedoch trauen sich nur die Wenigsten zu rütteln.
Schauen wir zurück auf die Anfänge der Massenmedien, dann könnte man die These aufstellen: Die Medien, so wie wir sie heute kennen, haben den gesellschaftlichen Diskurs im Keim erstickt. So wenig Kommunikation wie in den alten Medien war noch nie; Rundfunk und Presse haben, qua ihrer Größe, einen wahrhaften Austausch von Ideen oder Meinungen der Menschen untereinander unmöglich gemacht. Partizipation wird in ritualisierter Form allenfalls vorgegaukelt, sei es durch Call-Ins, Straßenumfragen oder Leserbriefseiten (natürlich alles redaktionell bearbeitet). Für uns Fernsehmacher dient das Studiopublikum auch heute noch vor allem als eines: als Klatschkulisse.
Durch das Web entdeckt der gemeine Bürger gerade wieder etwas, das ihm vor langer Zeit abhandengekommen war: seine Stimme. Blogs als moderne Form von Pamphleten oder Flugschriften, Facebook als digitale Weiterentwicklung der Speakers’ Corner. Wir Medienmacher betrachten diese Entwicklung mit Skepsis, nicht selten sogar mit Argwohn. Keine Medienkonferenz, auf der nicht vor den Gefahren des Internets gewarnt wird. Macher, Mächtige und Gelehrte tun dabei noch immer so, als ob es eine Alternative gebe zu mehr Partizipation. Dabei haben selbst die größten Bremser und Blockierer inzwischen einsehen müssen: Das Internet ist da – und es ist gekommen, um zu bleiben.
Während man hierzulande noch den guten, alten Zeiten hinterhertrauert, hat man in den USA den Blick bereits nach vorne gewendet. Schon vor Jahren haben die Networks damit begonnen, die Strahlkraft ihrer Marken durch zusätzliche Angebote in den Online-Netzwerken zu verlängern. Social TV oder auch Social Viewing ist das neue Zauberwort. Programm-Highlights wie „American Idol“, die Oscar- oder auch die Emmy-Verleihung werden mit großem Aufwand via Facebook und Twitter flankiert. Für die mit Spannung erwartete Ausstrahlung der Kultsendung „The Roast“ mit Stargast Charlie Sheen hat Comedy Central ein eigenes Webtool („Dashboard“) programmiert und exklusives Videomaterial vorab über Blogs verbreitet.
Das Prinzip, doppelt zu sehen
Laut Marktforschungsinstitut Nielsen verwenden inzwischen zwei Drittel der US-Amerikaner während des Fernschauens ein Smartphone oder ein Tablet. Jeder siebte der 111 Millionen Fernsehzuschauer, die dieses Frühjahr das Superbowl-Finale im Fernsehen verfolgt haben, war parallel zur Live-Übertragung online. Ein Trend, der auch vor Deutschland nicht haltmacht. Wer wissen will, wie sehr sich die Fernsehgewohnheiten bereits geändert haben, der braucht nur mal an einem gewöhnlichen Sonntagabend ins Netz zu gehen und bei Twitter den Suchbegriff #tatort einzutippen.
Zaghaft haben wir Fernsehleute damit begonnen, Twitter und Facebook in unsere Workflows zu integrieren. Dabei wirken manche dieser Mitmach-Elemente reichlich bemüht, oft sogar unfreiwillig komisch, etwa wenn TV-Granden wie Ulrich Deppendorf im ARD-Sommerinterview plötzlich anfangen, Facebook-Fragen vom Blatt zu lesen. Sehr viel konsequenter hingegen macht es das ZDF. So hat der Digitalableger ZDFneo beispielsweise jüngst seine Zuschauer über zehn verschiedene Piloten im Netz abstimmen lassen. Auch mit der Polit-Diskussionssendung ZDFlogin beweisen die Mainzer Mut für Neues.
Auch wir vom Bayerischen Rundfunk wollen mit einem neuen TV-Format (Arbeitstitel: „Rundshow“) Neuland betreten. Ein Angebot, das Fernsehen, Internet, Programmacher und Publikum zusammenbringt, sprich: die Quadratur des Kreises (deshalb auch Rund-Show). Das Konzept zu dieser Programmidee entsteht nicht etwa streng geheim hinter verschlossenen Redaktionstüren, sondern ganz offen im Netz. In einem Blog, über Facebook, aber auch über Twitter diskutieren wir dort parallel zu unseren Teambesprechungen Fragen wie zum Beispiel die Auswahl der Themen, die Rubriken oder auch den Look des Studios. Auch über den aktuellen Stand unserer technischen Pläne geben wir unter der Adresse rundshow.tv regelmäßig Auskunft.
So entwickeln wir zum Beispiel gerade eine App für iPhone und Android-Telefone, mit der man von Zuhause aus in das Live-Programm eingreifen kann. Diese „Fernbedienung zur Sendung“ (Arbeitstitel: „Die Macht“) soll es dem Zuschauer ermöglichen, vom Wohnzimmersessel aus zu applaudieren oder auch „Buh!“ zu rufen. Per Knopfdruck können die Zuschauer an Abstimmungen teilnehmen oder Kommentare loswerden. Wer will, darf uns natürlich gerne auch ein Fax schicken!
Der Umstand, dass uns die Zuschauer schon während der Konzeptionsphase über die Schulter schauen, bringt uns immer wieder auf neue Ideen. So wünscht sich beispielsweise US-Medienexperte Jeff Jarvis („What would Google do“) in einem Kommentar bei uns die Einbeziehung von möglichst vielen Zuschauern via Skype. Andere Blogbesucher ermahnen uns regelmäßig, dass wir vor lauter Technik-Begeisterung nicht die Inhalte aus dem Blick verlieren sollen.
Ob die Rechnung aufgehen wird, und am Ende dabei tatsächlich eine brauchbare Sendung herauskommen wird, kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Entscheidend ist es, überhaupt etwas zu probieren. In Zeiten des Wandels ist Stillstand die denkbar schlecht
este Option.
LINKS
Richard Gutjahrs „Rundshow„-Projekt: rundshow.gutjahr.biz.
„Mashable“-Text über die Social-TV-Ideen der Sendung „The Roast“: http://on.mash.to/qRwe1x
Das Schweizer Fernsehen versuchte sich mit „Treffpunkt Bundesplatz“ im September 2011 trimedial: www.bundesplatz.srf.ch
„Spiegel Online“ bindet die Twitter-Timelines zum sonntäglichen Tatort auf einer eigenen Seite ein: www.spiegel.de/kultur/tv.
Erschienen in Ausgabe 10-11/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 34 bis 35 Autor/en: Richard Gutjahr | Foto: Mathias Vietmeier. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.