Relative Experten

Die Wahrheit? Es gibt eigentlich gar keine al-Qaida-Experten, jedenfalls nicht außerhalb al-Qaidas. Schon bei den Taliban existieren widersprüchliche Einschätzungen, was das bei al-Qaida für Leute sind. Es gibt sogar al-Qaida-Mitglieder, die keine al-Qaida-Experten sind. Kürzlich schlug ich befreundeten al-Qaida-Experten vor, zusammen ein Buch zu machen: 101 Things we do NOT know about al-Qaida. Die Resonanz war positiv.

Sagte ich gerade befreundete al-Qaida-Experten? Ja. Aber hatte ich nicht geschrieben …? Ja. Experte ist man eben immer im Verhältnis zum Publikum. Aiman al-Sawahiri würde meinem Vortrag über al-Qaidas Ideologie schätzungsweise acht Minuten lang zuhören, ohne die Brauen zusammenzuziehen, obwohl ich tausende Seiten arabischer al-Qaida-Papiere gelesen habe, Bücher dazu geschrieben und auf internationalen Konferenzen darüber gesprochen habe.

Der Rechercheaufwand: immens

Ein Journalist, der CDU-Experte ist, könnte Angela Merkel gewiss länger beeindrucken. Warum ist das so? Weil wir al-Qaida & Co. kaum je wirklich nahekommen können. Jedenfalls nicht so nahe wie ein FAZ-Korrespondent der Union. Terroristen trifft man nicht im Café Einstein. Unsere Quellen sind fragwürdiger, unsere Möglichkeiten, Informationen zu verifizieren, gering. Selbst diejenigen unter uns, die verhältnismäßig viel über al-Qaida & Co. wissen, wissen weniger als ein Sportreporter über den FC Bayern. Das mag banal klingen aber es ist wichtig, es nicht zu vergessen. Das heißt nicht, dass wir nichts wissen. Wir wissen mehr über Dschihadisten als die meisten unserer Zuhörer, -schauer oder Leser. Aber Experten sind wir vor allem relativ zu ihnen.

Natürlich ist ein journalistischer Experte kein akademischer Experte. Wir opfern Tiefe der Breite, und das muss so sein, weil wir sonst nicht verstanden und bis zum Beginn der heute-Sendung oder dem Redaktionsschluss für die Seite zwei nicht fertig würden.

Breite bedeutet aber in der Praxis, dass die meisten journalistischen Terrorexperten eine viel zu breite Palette abdecken sollen. Sie sollen nicht nur Fachleute zu al-Qaida & Co. sein. Sie sollen außerdem Kontakt zu Sicherheitsbehörden halten, juristische Verfahren covern, Meta-Prozesse wie den War on Terror interpretieren und regionale Konflikte ausdeuten, wenn es einen Terrorbezug gibt. Dabei erfordert jeder dieser Aspekte eigene (journalistische) Techniken und (Vor-)Kenntnisse. Terrorexperten, die auch Militär-, Rechts-, Regional- und Außenpolitikexperten sein und zudem investigativ arbeiten sollen, sind am Ende Experten für gar nichts.

Diese imposante Aufgabenstellung hat mit 9/11 zu tun: Vor zehn Jahren gab es kaum Redaktionen, die sich Terrorexperten leisteten. Heute hat jede größere Redaktion welche und weil sich Irakkrieg, Afghanistankrieg, Guantánamo etc. in der Tat als Folge von 9/11 beschreiben lassen, beobachteten diejenigen, die Terroristen beobachten sollten, bald auch Terrorbekämpfer, -opfer und -verdächtige.

Die Besten dieser Zunft sind meiner Ansicht nach jene, die dennoch klare Schwerpunkte setzen (was einfacher ist, wenn die Redaktion das unterstützt). Peter Bergen etwa, der Osama Bin Laden schon vor 9/11 interviewte, hat eine einmalige oral history al-Qaidas zusammengetragen. Auch Steve Coll, Jane Mayer und Lawrence Wright haben mit Langzeitrecherchen Wichtiges ans Licht gebracht.

Recherche, jenseits aller Grenzen

Im Westen kaum wahrgenommen werden hingegen ebenso hartnäckige arabische, pakistanische oder afghanische Kollegen. Abu Musab al-Sarkawi, den Ex-Chef al-Qaidas im Irak, hat etwa der Jordanier Fuad Hussein entschlüsselt. Sein Buch überwand die Sprachbarriere zum Westen trotzdem nicht. Zehn Jahre nach 9/11 existiert diese Barriere weiter Teil eines größeren Problems.

Woher beziehen wir als journalistische Experten unsere Informationen? Es ist weder per se verwerflich, Kontakte zu Sicherheitsbehörden zu pflegen, noch wie es auch einige Sicherheitsbehörden tun Übersetzungen von Terror-Kommuniqués von Firmen wie IntelCenter oder SITE im Abonnement zu beziehen. Aber es reicht nicht.

Journalisten müssen gelieferte Informationen hinterfragen können. Dazu müssen sie eigene, unabhängige Zugänge aufbauen, wo immer es möglich ist, die als Korrektiv dienen. Was wenn die Zusammenfassung des BND oder des IntelCenter etwas Wichtiges in Sawahiris Wortwahl übersehen hat? Wenn der Verfassungsschutz oder SITE über Drohungen in Internetforen berichten, und die Originalquelle bei genauer Betrachtung nicht standhält? Wenn die Familie eines Terrorverdächtigen ein anderes Bild zeichnet als BKA oder GBA? Für all das gibt es Beispiele.

Ein Thema, das kostet

Eigene Zugänge aufzubauen ist mühsam und kostet Ressourcen. Wir arbeiten nicht alle beim New Yorker, und mit drei Anrufen ist es meistens nicht getan. Wie viel Zeit bekomme ich, um mich ergebnisoffen über eine 300 Seiten lange al-Qaida-Fatwa zu beugen? Wer zahlt mir den Flug nach Kairo, um mich ergebnisoffen mit dem Informanten zu treffen, dem das Telefon nicht behagt? Darf ich einen Übersetzer engagieren auf Verdacht?

Im Idealfall stellt die Redaktion die Mittel; im Normalfall wohl eher nicht. Aber auch dann gibt es Wege, die man beschreiten kann. Online-Recherchen können wichtige Puzzlestücke liefern. Und anders als vor 9/11 gibt es heute eine Schar spezialisierter akademischer Terrorexperten, die unabhängiger sind als Sicherheitsbehörden oder Firmen. Fast alle twittern übrigens anders als die meisten journalistischen Experten.

Ressourcen sind wichtig. Aber Terrorberichterstattung wirft auch moralische Fragen auf. Letztes Jahr fand ich spätabends auf einer dschihadistischen Website die Mitteilung, dass ein Kämpfer aus Deutschland im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet ums Leben gekommen war. Ich habe die Nachricht nicht gebracht, weil ich nicht wissen konnte, ob die Familie schon Bescheid wusste. Ich gebe offen zu, dass das nicht mein erster Gedanke war; ich bin aber froh, dass er mir rechtzeitig kam. Es wäre schlimm gewesen für die Familie, über den Tod des Sohnes aus den Nachrichten zu erfahren. Ich fände es gut, wenn solche Fragen diskutiert würden. Das muss nicht auf Medienseiten geschehen. Anderswo gibt es lose Verbände von Sicherheits-Reportern. Das ist keine schlechte Idee (aber unabhängig müssen sie sein!).

Dann könnte man auch über Oslo reden. Eines ist klar: Wer sich an jenem Tag festlegte, dass es ein islamistischer Anschlag war, hat einen Fehler begangen. Haben aber auch jene versagt, die vermuteten, dass es sich um einen islamistischen Anschlag handeln könnte? Nicht unbedingt. Es gab Gründe für diese Vermutung. Und es liegt in der Natur einer (hoffentlich als solche gekennzeichneten) Annahme, dass sie falsch sein kann. Fragwürdig ist hingegen der Vorwurf, dass, wer al-Qaida verdächtigte, einem Reflex erlegen sei, alle Bomben Muslimen in die Schuhe zu schieben. Was bitte schön hat die Terrorgruppe al-Qaida mit gewöhnlichen Muslimen zu tun?

Trotzdem ist Oslo Anlass zum Innehalten und zum Nachdenken über Reflexe. Die Gleichung Bombe = Dschihadisten ist ja ebenfalls nicht richtig. Islamhasser, tja, also ich denke, das ist dann doch eher was fürs Feuilleton, sagt ein Journalist in Radikal, dem diese gedankliche Herausforderung zu groß ist. Das Gegenteil stimmt: Jede Redaktion sollte sich (spätestens jetzt) fragen, wer künftig die militante islamophobe Szene im Blick behält.

Wir wandeln auf einem schmalen Grat. Wir sind relative Experten. Keine absoluten.

ZUM AUTOR
Yassin Musharbash
(*1975) ist Redakteur im Hauptstadtbüro von Spiegel Online und schreibt vor allem über dschihadistischen Terrorismus. 2006 erschien sein Sachbuch „Die neue al-Qaida. Innenansichten eines lernenden Terrornetzwerks“. Im August 2011 folgte mit dem Politthriller Radikal sein fiktionales Debüt, das auf geradezu unheimliche Weise die medialen Reflexe und islamophoben Realitäten rund um das Attentat von Anders Behring Breivik in Oslo und Utøya im Juli 2011 spiegelt. Musharbash schrieb es vorher.


DAS BUCH

Yassin Musharbash: „Radikal
KiWi 2011, 400 Seiten, 14,99 Euro.

 

 

Erschienen in Ausgabe 09/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 34 bis 35 Autor/en: Yassin Musharbash. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.