Heimatstunde

Es wird ihm nie gelingen. Immer wird das �Grüß Gott� ein wenig zu spitz klingen. Zu klar das �ü�, zu hart das �t�. Manche in der Redaktion des �Südkurier� in Konstanz glauben sogar, dass sie einen ironischen Unterton hören, wenn Chefredakteur Stefan Lutz mit dem süddeutschen Gruß den Raum betritt. Lutz stammt aus Hannover (moin,moin), spricht dialektfrei und ist seit einem Jahr Chef einer Redaktion, deren Credo lautet: �Heimat geht vor.� Der �Südkurier�, eine der großen regionalen Tageszeitungen im Südwesten, wurzelt tief in der badischen Provinz. Und an den Wurzeln, das weiß Stefan Lutz, darf man nicht ungestraft herumschneiden.

Es ist windstill über dem Bodensee, das kann Stefan Lutz an diesem Tag riechen. �Bei Westwind weht es vom Faulturm der Kläranlage direkt in mein Büro�, sagt er und deutet Richtung See auf einen Betonklotz: das Konstanzer Klärwerk. Kein schlechter Orientierungspunkt für einen Mann, der mit seinen 39 Jahren gerade so etwas wie einen Klärungsprozess eingeleitet hat. Lutz und sein Vorgänger, der inzwischen als Verleger zur �Pforzheimer Zeitung� gewechselte Thomas Satinsky, formten aus einer eher bieder gemachten eine über die Landesgrenzen hinaus beachtete Tageszeitung. In der Begründung für die Auszeichnung als �beste Regionalzeitung Deutschlands 2010� durch die Jury der Konrad-Adenauer-Stiftung sagte deren Sprecher Dieter Golombek, das Konzept der Zeitung ruhe auf zwei Säulen: Heimatpflege und Welterklärung.

Stefan Lutz hat an diesem Vormittag schon 16-mal vor allem Heimatpflege genossen. So viele Unter-Ausgaben des �Südkurier�, den eigenständigen �Alb-Bote� noch gar nicht mitgezählt, hat Lutz durchgeblättert, von Friedrichshafen im Osten bis ins 200 Kilometer weiter östlich gelegene Rheinfelden. Und er hat vor allem Blumenteppiche entdeckt. In Kadelburg und Dobern und in Blumberg sowieso � fast jedes Dorf hat im traditionell katholischen Verbreitungsgebiet an Fronleichnam die Straßen mit Blüten gepflastert, �und das wollen die Leser am nächsten Tag auch in der Zeitung sehen�, sagt Lutz. Eine ganze Seite Blumenteppiche. Wer das für piefig hält, stößt bei Lutz auf erbitterten Widerstand. �Anders als in der Großstadt wollen unsere Leser sich in ihrer Zeitung wiederfinden.�

Arschbomben-Wettbewerb in Unterkirnbach, Springkrautbekämpfung in Dachsberg: wer den �Südkurier� auf provinzielle Merkwürdigkeiten seiner Lokalteile reduziert, liegt völlig falsch. Mit dem 1. März vergangenen Jahres, an dem der Verlag durch einen weitreichenden Relaunch seine Erscheinungsform änderte, hat er auch die Inhalte konsequent auf �Heimat� getrimmt. Die Welt irgendwo da draußen, weit weg hinter Schwarzwald und Bodensee, wird seither täglich auf lokales Niveau heruntergezoomt. Wenn die Bundesregierung die Hartz-IV-Sätze erhöht, dann steht am nächsten Tag im �Südkurier�, was das für Familie Maier in Singen bedeutet. Die Themen der zweiten und dritten Zeitungsseite, die fast in allen anderen Blättern der großen Weltbühne gehört, werden in Konstanz, wann immer es geht, mit regionalen Beispielen angereichert.

Das ist anstrengend. Nur merkt man das der Redaktion nicht an. �Spaß haben�, ist ein Wort, das Stefan Lutz häufig benutzt. �Spaß� soll es den 100 Redakteuren machen, die Welt nach Hintertupfingen zu übersetzen, und �Spaß� soll es den Lesern machen, wenn sie morgens ihre Zeitung aufschlagen und bemerken, wie überraschend nah sie am Nabel der Welt wohnen. Vielleicht musste erst ein Springer-Mann wie Stefan Lutz kommen, der zwar nicht astrein �Grüß Gott� sagen, dafür aber eine neue Lust auf das Zeitungsmachen wecken konnte. Bei �Bild� und �Hamburger Abendblatt� hatte Lutz zuvor gearbeitet, ehe ihn Thomas Satinsky 2009 an den Bodensee lockte. Dass Lutz� Frau aus dem Schwarzwald stammt, wird dabei zumindest geholfen haben. Zuletzt war Lutz als CvD für den Online-Auftritt des �Abendblatt� verantwortlich, davor als Lokalchef bei �Bild�-Hamburg und, was ihn möglicherweise am meisten für den neuen Job qualifizierte: als Leiter des Ressorts �Leser-Reporter� bei �Bild�. Das ist dort, wo Freibadbesucher ihre Fotos hinschicken, wenn übermütige Jugendliche den Bademeister ins Becken schubsen.

Der Tag, an dem Lutz von seinem Interims-Vorgänger André Uzulis die Verantwortung für den �Südkurier� übernahm, hätte symbolischer nicht sein können. Im Stuttgarter Schlosspark klopften sich an jenem denkwürdigen 30. September 2010 Polizei und Demonstranten, und die Meldung �Stefan Lutz neuer Chefredakteur� ging neben Fotos von Wasserwerfern und verletzten Demonstranten fast unter. Es war die Zeit, in der in der Redaktion des �Südkurier� eine gewisse Unruhe herrschte, nachdem Gerüchte durchgesickert waren, der Verlag wolle sich von seinen Regionalzeitungen trennen. Tatsächlich verkaufte die Holtzbrinck-Gruppe denn auch im Dezember 2010 die �Main-Post� an die �Augsburger Allgemeine�. Mitarbeiter des �Südkurier� sondierten vorsorglich mit Banken, ob sie nicht selbst in der Lage wären, den Verlag zu übernehmen.

Dass sich die Aufgeregtheiten legten, ist nicht das Verdienst von Lutz. Vielmehr hielt sich der Verlag mit weiteren Verkaufs-Ankündigungen zurück, und die im Raum schwebende Zahl eines angeblich 80 bis 120 Millionen hohen Kaufpreises entfaltete ihre übrige, narkotisierende Wirkung. Inzwischen beschäftigt die Redaktion viel mehr die Frage: Könnte es sein, dass trotz Auflagenschwund und Anzeigenrückgang die Lokalzeitung eine Zukunft hat, wenn sie nur konsequent das tut, was sie kann: den Leser dort zu packen, wo er sich wiedererkennt? Das Durchschnittsalter der �Südkurier�-Abonnenten liegt knapp unter 60 Jahren. Die Auflage sinkt, wenn auch weniger dramatisch als in den Jahren zuvor, noch immer kontinuierlich. �Wenn wir es schaffen, den, Südkurier� als Nachrichtenmarke zu etablieren, die sowohl für guten Online-Journalismus wie auch für Printjournalismus steht, dann werden wir in den etablierten, gutverdienenden Haushalten immer unsere Abonnenten finden�, glaubt Lutz.

Den Ausbau der Online-Redaktion sieht man beim �Südkurier� daher eher unter strategischen Gesichtspunkten. Kurzfristig Geld ist damit nicht verdient, doch Glaubwürdigkeit als Nachrichtenhändler ist auch eine Währung: Internet-Nutzer würden in späteren Jahren zur gedruckten Ausgabe zurückfinden. Immerhin ist das Portal suedkurier.de mit mehr als 24 Millionen Seitenabrufen im Jahr und 590.000 einzelnen Nutzern im Monat eines der meistgenutzten Nachrichtenportale im Südwesten. 80 Prozent des Traffics entfällt auf regionale Inhalte. Nach Seitenaufrufen gerechnet ist es sogar das größte Nachrichten-Portal Baden-Württembergs. Sieben Online-Redakteure stemmen das Portal, auch wenn es eigentlich keine Trennung mehr gibt: �Die gesamte Redaktion arbeitet vollständig für Print und Online�, sagt Lutz. Dennoch: Online sieht er noch �Luft nach oben�, für ihn deshalb ein �Schwerpunkt in diesem Jahr�.

Morgenkonferenz um 10.30 Uhr im Medienhaus: Um einen massiven alten Holztisch sitzt ein gutes Dutzend Redakteure, die den Mantelteil der Zeitung produzieren. Die echten Lokaljournalisten, diejenigen, die �die Heimat pflegen�, trifft man hier nicht. Die sind draußen in Gottmadingen oder in Rotzingen, wo Meldungen an manchen Tagen so beginnen: �Die Feuerwehr Rotzingen hatte am vergangenen Samstag keinen Löscheinsatz …�. Sie sitzen dort, wo es keine rettende Agenturmeldungen gibt, keine Pressekonferenzen oder professionelle Zuarbeit. Und viele von ihnen sitzen ga
nz alleine in ihren Außenredaktionsstuben. Selbst in Konstanz, mit über 80.000 Einwohnern und seiner Universität immerhin eine veritable Stadt, müssen vier Redakteure reichen, um täglich vier Seiten zu füllen.

Die Trickkiste. Mehr Geld für die Redaktion, das wusste Stefan Lutz, als er kam, wird es nicht geben. Beim �Südkurier� wurde mit Einführung der Regionaldesks am Personal gespart. Seither wurde zwar nicht weiter abgebaut, aber auch nicht erweitert. Die Zahl der redaktionellen Mitarbeiter stagniert. Lutz, der Mann ohne dicke Hosentaschen, kannte aber ein paar Zaubertricks, um den Verbliebenen trotzdem wieder mehr Spaß an ihrer Arbeit zu verschaffen. Trick eins war simpel: er hörte ihnen zu. Täglich verbindet sich der Chefredakteur persönlich in einer Videokonferenz mit seinen Außenstellen. Das gilt in vielen Häusern noch immer als etwas Besonderes, wo Chefredakteure wie Wolkenreiter in großen Höhen schweben. Da kam Lutz seine �Bild�-Zeit voll zugute: ihn interessiert nichts anderes als die Nähe zum Leser. Der Regionalchef �Hochrhein� meldet in der Konferenz das drohende Aus des Männergesangsvereins in Stühlingen. �Die wollen keine Frauen in ihren Chor aufnehmen und lieber untergehen�, resümiert Lutz, �tolles Thema�. Eigentlich ein Thema für �Regional-Reporter� Sebastian Pantel. Seine Stelle ist der einzige redaktionelle Job, den Lutz neu schaffen konnte. Pantel ist ein Geschichtenerzähler, der mit der Nase kurz über dem Bodensee jeden Morgen die Witterung aufnimmt.

Trick Nummer zwei war schon komplizierter: den Redakteuren wieder mehr Zeit zum Schreiben und Recherchieren geben. Inzwischen kümmern sich vier Regionaldesk-Redakteure um Planung und Layout, die anderen sind dort, wo man das Schilfgras wachsen hört. Trick Nummer drei war vielleicht der beste: mit einer Layout-Reform wurde nicht nur das Gesicht des �Südkurier� aufgehübscht und auf allen Seiten mit Farbe versehen. Dem Blatt wurde durch seine neue Struktur quasi ein Korsett verpasst, das die Redaktion erst zwang und dann zunehmend dafür begeisterte, globale oder nationale Themen auf die Perspektive der Metzgergasse einzupassen. So muss jede Lokalausgabe täglich einen Kommentar enthalten, die �Themen des Tages� im Mantelteil sollen mit lokalen Beispielen angereichert werden und immer samstags wird im �Blickpunkt� ein lokales Thema auf einer ganzen Seite reportartig ausgeleuchtet. Und das auch noch in unterschiedlichen Erzählformen, die den schnellen Frühstücksleser genauso bedienen wie den nach Hintergründen suchenden Allesleser. Dazu kommt ein schon fast neurotisches Verlangen nach Lesernähe: Die Aktion �Der Südkurier gibt einen aus� ist unter allen anderen Elementen, die den Alltag erklären oder von Gartenarbeit bis Kinderstillen redaktionelle Hilfe anbieten, die konsequenteste aller Leser-Anmache. Man lädt die Leser regelmäßig in einen Gasthof der Region ein, zahlt ihnen ein Bier und hat im besten Fall Geschichten für den kommenden Tag in der Tasche.

Den Lesern nicht jeden Tag nur erzählen, wie schlimm die Welt ist�, will Lutz. Und: �In Hamburg passiert natürlich viel mehr, aber das ist ja gerade das Spannende hier.� Das Nichts in Worte fassen: keine Arbeitslosigkeit (oder eine kaum messbare), keine Kriminalität (oder eine kaum messbare) und eine Umwelt, die den Zusatz �Problem� nur vom Hörensagen kennt. In der Bodensee-Region die Welt zu bejammern wäre, wie im Supermarkt am Yoghurtregal herumzumäkeln. Deshalb will Lutz noch stärker als jetzt schon die lokalen Themen nach vorne drücken. �Wir müssen den Graben zwischen Mantel und Lokalteil weiter zuschütten�, sagt er und kritisiert in der Konferenz darum auf seine sanfte Art, dass das Thema Abschaffung der Grundschule in Baden-Württemberg nicht am andern Tag schon auf die Region heruntergebrochen in der Zeitung stand.

Die Mischung aus Wohlfühljornalismus und seriöser Aufklärung hat die Leser bei der Stange gehalten. In einer Allensbachumfrage erzielte die Zeitung vor kurzem geradezu Traumwerte: ein hohes Vertrauen in die Berichterstattung und Zufriedenheit über die moderne Gestaltung. Leserforscher Rüdiger Schulz urteilte: �Der, Südkurier� ist eine der modernsten und leserfreundlichsten Tageszeitungen in Deutschland.� Verleger Stefan von Holtzbrinck hat dazu ebenso gratuliert wie zur Verleihung des deutschen Lokaljournalistenpreises. Von Verkaufsabsichten war da keine Rede.

Erschienen in Ausgabe 07+08/2011 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 22 bis 22 Autor/en: Philipp Mausshardt. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.