Am 31. März dieses bis zu diesem Zeitpunkt an Ereignissen nicht gerade armen Jahres stürzten sich Fernsehen, Zeitungen und Online-Kanäle auf spektakuläre Bilder, die ein hässlich verschrobenes, kopfähnliches Monster in gelben und roten Farben zeigten. Das knollenähnliche Gebilde entpuppte sich als die Erde, aufgenommen mit Hilfe einer speziellen Technik von einem Satelliten.
Abgebildet wurden die Schwerefelder des Globus‘, und weil die Erdanziehung nun mal unterschiedlich stark wirkt, hat der Planet auf den Bildern Beulen und Senken, kurz: Er sieht aus wie eine Kartoffel. Viele Tageszeitungen druckten das Bild der deformierten Kugel auf der ersten Seite, auch weil es einfach eine nette Zeile ist, wenn man die Erde mit einem Erdapfel in Verbindung bringen kann.
Einige Leser hätte es wohl nicht verwundert, wenn – wie die Schwerkraft-Aufnahme auf den ersten Blick suggeriert – die alte Kugel-Erde tatsächlich deformiert wäre. Wenige Tage zuvor nämlich hatten geodätische Messungen ergeben, dass die Beben von Japan die Erdachse verschoben hatten und alles nun nicht mehr an dem Platz zu finden war, wo es sich noch Wochen zuvor befand. Vielleicht war die Erde inzwischen auch zur Scheibe mutiert oder Teile davon während der Revolution in der arabischen Welt implodiert. Vielleicht hatte sich der Jemen bereits aufgelöst – es soll sich doch um einen zerfallenden Staat handeln, ähnlich wie Somalia. Die Zeiten waren nach großen Ereignissen, nichts schien unmöglich in diesem Frühjahr 2011. Wer auch immer Nachrichten konsumiert, er war auf alles gefasst – wenn auch offenbar nicht mehr willens, alles zu verarbeiten.
In unserem Büro in der „Süddeutschen Zeitung“ riefen Leser an und schimpften über die Revolutions- und Japan-Berichterstattung: „Ihr seid katastrophengeil.“ Eine in Deutschland lebende Japanerin schrieb einen höflichen Brief, ob man nicht auch mal gute Nachrichten aus ihrem Land drucken könne. Ihre Zeilen waren in wohltuender Freundlichkeit verfasst, gemessen an den Beschimpfungen, die es während der guttenberg‘schen Plagiatswochen hagelte.
Der neue Rhythmus.
Abgesehen davon, dass Heile-Welt-Nachrichten nicht unbedingt zum journalistischen Geschäftsmodell gehören – sie hätten angesichts der globalen Turbulenzen ihren Weg nicht in die Zeitung gefunden. Selten hat die Welt eine derartige Ereignisdichte erlebt wie in den ersten Monaten des Jahres 2011, selten konnte das Attribut „historisch“ mit so blinder Sicherheit gestreut werden: die Euro-Krise, der nahe Kollaps der Währung, Wahl-Dramatik, Führungswechsel in der FDP, Tunesien, Ägypten, Jemen, Syrien, Bahrain, Verhaftungen in China und ein richtiger Krieg in Libyen, gerade wo man den in Afghanistan ein bisschen verdrängt hatte.
Dann das Beben, der Tsunami, die Nuklear-Katastrophe, pünktlich zum Jahrestag von Tschernobyl. Globale Ereignisse sind dies, weil sie weltweit gleichermaßen Beachtung finden, Mega-Events der Nachrichtengebung, singuläre Großereignisse. Ähnliches gab es vor zehn Jahren, bei 9/11. Aber so viele auf einmal? Gab es diesen Druck, diese Dichte je zuvor? Wie viel davon kann man ertragen?
Bernd Ulrich listet in der „Zeit“ Hypes und Schocks des vergangenen Jahres auf, mediale Großthemen und tatsächliche politische oder natürliche Katastrophen – eine passende Kategorisierung für die hausgemachte und die tatsächliche Ereignisflut. Ulrich hält sich zurück, schreibt lediglich, dass sich „grundsätzlich“ etwas ändere – das Politische, das Journalistische: Die Taktgeber der Geschichte haben ihren Rhythmus verschoben. Mehr nicht.
Gabor Steingart vom „Handelsblatt“ hingegen wird zum Propheten des Niedergangs, schreibt apokalyptisch: „Das Ende der Normalität – ein Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war.“ Das hört sich an nach Armageddon, dem Jüngsten Gericht, weshalb die Rezensenten gar nicht gut zu sprechen sind auf das Buch. Zu viel heißes Herz, zu wenig kühler Verstand – aber immerhin wohl ein emotionaler Blattschuss, der die Grundbefindlichkeit der Leser da draußen trifft.
Diese Befindlichkeit weckt Sehnsüchte, die sich prompt auf den Covern der Magazine und in unendlichen Programmfolgen im Fernsehen spiegeln: „Wenn der Job das Leben frisst“, titelt der „stern“, oder: „Wie die Seele das Herz krank macht“. Der „Spiegel“ macht Auflage mit der „Heilkraft des Fastens“ oder „Ausgebrannt“, einer Story über „das überforderte Ich“. Auch die „Süddeutsche“ nähert sich am Wochenende dem Bedürfnis nach Erholung. „Zeit“, FAS, die Fernsehmagazine allemal – überall wird der Drang zur neuen Innerlichkeit entdeckt: hin zur Ruhe und Geborgenheit. Exerzitien-Wochenenden in Klosterzellen sind ausgebucht, bärtige Mönche machen Auflage mit Natur-Ratgebern und Geschichten aus dem Kräutergarten, die Alpen werden durchkreuzt und bewandert wie nie zuvor, es wird gehungert und entsagt, gedehnt und gestreckt, in Leinen und Hanf, geschmiert von ätherischen Ölen und aufgeweicht in biologisch einwandfreien Emulsionen. Die Botschaft von draußen tönt immer lauter: „Zu viel los in diesem Leben, geht es auch etwas einfacher, bitte?“
Warum das Journalisten etwas angeht?
Weil Journalisten ein gutes Stück dafür Verantwortung tragen, welche Welt bei den Lesern und Zuschauern ankommt. Deswegen drei Beobachtungen:
1. Cool it.
Runterfahren heißt die Devise. Die Welt ist nervös genug, der Journalismus muss nicht zu neuer Aufgeregtheit beitragen. Als Ulrich Wilhelm mit einem stöhnenden Lächeln das Regierungssprecher-Amt in Berlin verließ, entwich ihm eine seltene Journalistenkritische Bemerkung, hinter der sich sehr viel Wahrheit verbirgt: Keiner könne am Morgen ahnen, wer am Mittag von der Meute gejagt werde. Übersetzung: Der Berliner Medienbetrieb unterliegt dem Gesetz des Zufalls. Und kaum einer kann sich dem Drama entziehen. Guttenberg, das war in all seinen Kapiteln vom Aufstieg und Niedergang auch ein Medienphänomen mit teils hysterischen Zügen.
Übrigens: Was für Berlin gilt, gibt es auch in Washington oder London oder Stuttgart. Gefragt sind also nicht die Marktschreier, sondern Händler mit einwandfreier Ware.
2. Die Welt ist keine Kartoffel, sie ist vermutlich eine Schüssel – eine Satelliten-Schüssel nämlich.
Übersetzung: Die Ereignisse sind auch deshalb so dicht, weil wir sie alle wahrnehmen können. Die Revolution in der arabischen Welt trägt das Logo von Al Jazeera. Wir sehen Bilder aus Misrata und Sanaa, wir lesen Blogs und sehen den Wüstenclown Gaddafi in Echtzeit durch die Straßen flitzen. Das erhöht das Gefühl der Dringlichkeit und Betroffenheit. Aber nicht immer sind wir wirklich betroffen. In Deutschland kam keine radioaktive Wolke an, auch wenn Jodtabletten offenbar guten Absatz fanden. Trotzdem erschütterte die Katastrophe von Japan die deutsche Politik.
3. Mehr Selbstvertrauen, bitte.
Und mehr Verantwortungsbewusstsein.
Die Medien in Deutschland sind, verglichen mit der Konkurrenz etwa auf der anderen Seite des Atlantiks, gar nicht so schlecht dran. In Japan gibt es immer noch ein gutes Schock Korrespondenten, die auch Japanisch sprechen und das Land in all seinen Eigenarten übersetzen können. Das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Und selbst wenn alle Redaktionen nun ihre Korrespondenten-Büros in Kairo stärken: Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass die Auslands-Netze der deutschen Medien noch nicht zu Tode gespart wurden. Es sollte eine Lektion sein: Wer glaubt, er kommt mit ein paar guten Reportern und Wortdrechslern aus der Zentrale aus, der wird bei der nächsten Groß-Katastrophe in Saudi-Arabien oder Bolivien die Welt plötzlich nicht mehr erklären können. Er wird grandios scheitern. Der Journalismus braucht Übersetzer der
Global-Ereignisse, Fachleute für Jemen und Libyen mit Sitz in Kairo. Für manche Nabelschau-Deutschen mögen das journalistische Schläfer sein. Irgendwann sind sie unendlich wertvoll.
Und schließlich: Stoppt den Hype.
1998 gab es die ersten Knollen-Berechnungen. 2004 wurden die ersten Bilder des Geoforschungszentrums Potsdam gedruckt. 2007 wieder. Und nun, 2011, erliegen wir demselben simplen Reflex, nur in noch besserer Auflösung. Die Erde ist schon lange eine Kartoffel und sie wird es noch lange bleiben.
Erschienen in Ausgabe 04+05/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 30 bis 31 Autor/en: Stefan Kornelius. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.