Die meisten Journalisten würden wohl sagen, dass erst ihre Rechercheleistung und Formulierungskunst schnöde Daten zu Journalismus veredelt. Adrian Holovaty sieht das genau umgekehrt: In Rohdaten stecke meistens viel mehr als die Information, die ein Journalist für einen Beitrag auswählt. Holovaty ist Journalist und Webprogrammierer in Chicago und hat 2007 die hyperlokale Plattform Everyblock aufgebaut. Sie gilt als ein wichtiger Prototyp des Datenjournalismus, ist mittlerweile für 16 US-Städte verfügbar und enthält nach vielfältigen Kriterien durchsuchbare Informationen. Beispielsweise über Kriminalität, die Qualität örtlicher Schulen und Restaurants und mehr. Es sind Daten, die bis zu einzelnen Häuserblocks heruntergebrochen werden können. Verbraucher ebenso wie Journalisten finden hier eine Fülle von Informationen. In welchen Straßen brennt es besonders häufig oder wird andauernd eingebrochen? Warum dauert es im Ortsteil XY immer besonders lange, bis die Feuerwehr oder die Polizei vor Ort ist? Hat das strukturelle Ursachen? Für Journalisten kann diese Frage der Beginn einer vielleicht lohnenden Recherche sein. Eine Recherche, an deren Anfang nicht der Tipp eines Informanten, sondern eine gut gefüllte Datenbank steht.
Journalismus, der Daten nicht bloß kursorisch, sondern systematisch auswertet, sie in interaktiven Grafiken visualisiert und die Originärquellen transparent macht, nennt sich Datenjournalismus. In den USA treiben vor allem die „New York Times“ und in Großbritannien der „Guardian“ das Thema voran (vgl. mm 9/2010 „Freie Daten für alle“).
Die bittere Pille: der Aufwand
Hierzulande fragen sich noch viele Journalisten, warum Rohdaten plötzlich so wichtig sein sollen, schließlich arbeite man doch schon lange mit Infografiken und betreibe somit Datenvisualisierung. „Datenjournalismus ist, sich nicht mit selektiv vorgefertigten Daten zufriedenzugeben, sondern möglichst alle Rohdaten auszuwerten und diese auch den Lesern zur Verfügung zu stellen“, betont Sebastian Mondial. Er ist Redakteur beim „Stern“ im Team Investigative Recherche und an der Henri-Nannen-Schule Trainer für Datenjournalismus, Computer-Assisted-Reporting und Online. Der dazu nötige oft hohe Aufwand sei die bittere Pille, „die wir momentan erst mal schlucken müssen“, so Mondial. Allerdings sei nicht alles, was derzeit unter dem Begriff Datenjournalismus präsentiert wird, eine komplett neue Erfindung, sondern oft nur eine Umwidmung. Mondial belegte 2003/2004 am Dortmunder Institut für Journalistik auch Soziale Empirie, „das sind die Grundlagen für Datenjournalismus, nur ohne die digitalen Werkzeuge“.
Einige deutsche Medien betreiben inzwischen durchaus einigen Aufwand und experimentieren mit verschiedenen Formen des Datenjournalismus. Die taz startete im Oktober 2010 ein „Data Blog“ nach dem Vorbild des „Guardian“. Wie ihre Londoner Kollegen veranschaulichen auch die Berliner Daten mithilfe von kostenlosen Werkzeugen (s. dazu auch Kasten „Nützliche Werkzeuge“) und machen ihre Daten frei verfügbar. Ein Beispiel: Berichte über den Ersatz von Postfilialen durch Serviceagenturen (Print und Online) wurden auf der Webseite mit einer angereicherten Google-Karte und einer Grafik ergänzt. Die Rohdaten kann man sich für eigene Anwendungen herunterladen.
Im September 2010 veröffentlichte „Zeit Online“ ein Dossier über die Todesopfer rechter Gewalt. Die Beiträge sind in erster Linie das Ergebnis einer aufwendigen investigativen Recherche – den 47 offiziell dokumentierten Fällen von Mord oder Totschlag von 1990 bis 2010 stehen frappierende 137 von „Zeit Online“ belegte Fälle gegenüber. Eine interaktive Karte mit einer Zeitleiste, in der sich die markierten Orte der Übergriffe sukzessive anhäufen, setzt einen deutlichen Akzent: Sie zeigt, dass rechtsradikale Gewalt ein manifestiertes gesamtdeutsches Phänomen ist. Alle recherchierten Detailinformationen zu den 137 Fällen stehen als frei zugängliche Online-Tabelle zur Verfügung. Laut Sascha Venohr, Entwicklungsredakteur bei „Zeit Online“, war es das erste Mal, dass die Redaktion bei der Datenvisualisierung und -dokumentation einen so hohen Aufwand betrieb. „Uns war schnell klar, welche Brisanz in diesem Thema steckt. Daher war uns wichtig, dass wir diese Zahlen ganz konkret und nachvollziehbar benennen wollten.“
Die Ansprüche steigen
Nicht viele Redaktionen können sich solchen Aufwand aus eigener Kraft leisten, weshalb beim Datenjournalismus auch externe Dienstleister gefragt sind. Birgit Wahrenburg-Jähnke, Ex-Chefredakteurin der dpa-Tochtergesellschaft dpa-Infografik, hat im Herbst nach vorübergehender Kooperation mit dem neuen Web-Kartenanbieter Stepmap, bei dem sich Redaktionen ihre Online-Karten schnell und einfach selbst erstellen können, ihre eigene Agentur namens Infomap gegründet. Sie will sich auf Infografiken für Printredaktionen spezialisieren. Ebenso wie Mondial sagt auch sie, dass das neue Genre nicht auf das Internet beschränkt sei (Lorenz Matzat ist anderer Meinung, s. Interview). Allerdings habe sich die Darstellung von gedruckten Landkarten in der Presse durch das Internet gewandelt. „Die Ansprüche an Genauigkeit sind enorm gewachsen“, sagt Wahrenburg-Jähnke, „die Leser können bei Google Maps jederzeit nachschauen, ob Details stimmen.“
Schon seit 2007 beliefert die dpa-Infografik mit ihrem Dienst RegioData Redaktionen mit anfangs bis zu drei, inzwischen aber nur noch einem großen Datenpaket pro Woche. „Wir haben den Eindruck, dass damit die Aufnahmefähigkeit des Marktes momentan schon mehr als ausgereizt ist“, sagt Christoph Dernbach, Geschäftsführer der dpa-Infografik. Er gibt zu bedenken, dass Datenjournalismus in Deutschland noch am Anfang steht. „Die Szene in Deutschland ist noch relativ klein“, bestätigt auch Sebastian Mondial. Doch Sascha Venohr glaubt, dass auch Mut in den Redaktionen dazugehöre, Geschichten nicht wie bisher auf sechs Seiten Text, sondern mit den neuen Darstellungsformen zu erzählen. Auch dann, „wenn ein mit Daten gefülltes Google-Spreadsheet das eigene IVW-Zählpixel unberührt lässt“ und somit die werbevermarkteten Page Impressions niedriger ausfallen.
Für Christoph Dernbach ermöglicht Datenjournalismus den Zeitungen und ihren Websites, unterscheidbarer zu werden, Kompetenzen aufzubauen, sich von vorgegebenen Agenden und vom Terminjournalismus zu lösen. Er äußert aber Verständnis dafür, dass die ausgedünnten Redaktionen derzeit nicht mehr Themen interaktiv, visuell und mit zusätzlichen Rohdaten aufbereiten. Die wöchentliche Grafik von RegioData und ein dazugehöriger Rahmentext sind als Steinbruch gedacht, aus dem sich die Verlage für ihre Region bedienen können. Das Herunterbrechen von Daten auf lokale Gegebenheiten mit zusätzlicher Recherche und Berichterstattung erziele stets die größte Resonanz. Aber nicht alle Themen sind für alle Regionen gleich spannend. Wer im Mittelfeld einer Statistik liegt, ist weniger geneigt, ein Thema intensiv aufzubereiten als statistische Ausreißer. „Deshalb machen wir die Redaktionen von uns aus auf auffällige Abweichungen vom Mittelfeld aufmerksam“, so der dpa-Infografik-Chef. 2008 konnte die Nachrichtenagentur beim Thema Schulabbrecherquoten punkten. Ein Landkreis in Bayern brüstete sich mit besonders niedrigen Quoten, doch die dpa fand heraus, dass der Landrat die Statistik zurechtgebogen hatte.
Vor gut einem Jahr deckte dpa-Infografik auf, dass einige Bundestagsabgeordnete ihre Mitarbeit in der Rüstungslobby entgegen ihrer Verpflichtung nicht offen darlegten. Grundlage war ein Vergleich zweier im Internet frei zugänglicher Datensätze: einer mittels Roboter generierten Liste aller Bundestagsabgeordneten und den extrahierten Namen aus der sogenannten Lobbyliste des Bundestages. Besonders au
ffällig war das Engagement einiger Volksvertreter in Interessensvertretungen der Rüstungslobby. Im Idealfall liegen hieb- und stichfest recherchierte Daten schon vor einer öffentlichen Präsentation vor und die offiziellen Stellen können mit den recherchierten Fakten konfrontiert werden, sagt Dernbach. Mondial rät dazu, bei investigativen Recherchen die offiziellen Stellen vor der Veröffentlichung mit den Daten zu konfrontieren. Sei es, um eine Stellungnahme zu erhalten, sei es, um Fehlinterpretationen zu vermeiden, oder auch, um sich mit neuen Erkenntnissen zu bedanken, die auch für die betreffende Behörde wichtig sind.
Und jetzt wird ausgebildet
Für Lorenz Matzat liegt Datenjournalismus im Schnittfeld zwischen Infografiken, interaktivem Storytelling und investigativer Recherche. Das sehen auch andere Experten so. Und alle sind sich einig, dass spezielle Programmierkenntnisse weitaus weniger wichtig sind als der richtige Umgang mit dem Tabellenkalkulationsprogramm Excel. „Es geht darum, wie man nach Daten sucht und diese Daten dann befragt. Wie man Statistiken aus dem Hidden Web herauslöst und Google so nutzt, dass man zumindest die Startseiten dieser Informationen findet“, sagt Sebastian Mondial, der ab 2011 an der Henri-Nannen-Schule den neuen Lehrbereich Datenjournalismus aufbaut. In New York hat in diesem Herbst die Columbia Journalism School damit begonnen, erstmals 15 Studenten in einem neuen Studiengang zu Datenjournalisten an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Informatik auszubilden.
Für Deutschland ist das noch eine ferne Vision. Hier steht vor allem der Abbau von bürokratischen Hürden beim Umgang mit dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) auf der Wunschliste der Datenjournalisten. Für den 10. Februar 2011 hat das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung in Sachen IFG angesetzt. Geklärt wird, ob die dpa Anspruch auf den Zugang zu Dokumenten aus dem Bundesverkehrsministerium hat, um belegen zu können, wo Deutschlands baufälligste Brücken stehen. Es könnte ein bedeutender Tag für den deutschen Datenjournalismus werden.
Erschienen in Ausgabe 01+02/2011 in der Rubrik „Special“ auf Seite 40 bis 40 Autor/en: Ulrike Langer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.