Frau Vogel, als Supervisorin und Trainerin beschäftigen Sie sich seit Jahren mit den Ängsten von Journalisten. Wovor fürchten sich denn Journalisten?
Menschen haben individuelle Ängste: Nichts wert zu sein, ist eine der größten Ängste in unserer heutigen Zeit, auch bei Journalisten.
Ist diese Angst bei Journalisten stärker als in anderen Berufen?
Ja, weil man sich in diesem Beruf ständig exhibitionieren muss. Journalisten machen sich unter Zeitdruck öffentlich und können später nichts zurücknehmen. Der Artikel ist erschienen, die Sendung on air. Alles ist sichtbar und durch Quotendruck, Klickzahlen und Auflagenhöhen auch vergleichbar.
Wozu führt das nach Ihren Erfahrungen?
Viele denken: Man sieht mich nicht für das, was ich bin. Eigentlich habe ich gar keine Berechtigung, hier zu sein: Ich bin nichts wert und daher bin ich auch nichts. Dieses permanente Sich-infrage-stellen-Müssen, oder es zumindest so zu empfinden, ist ein Problem. Vielen fehlt es, diese Selbstverständlichkeit zu haben: Es ist schon gut so, wie ich bin. Das ist eine ganz zentrale, existenzielle Angst.
Klingt, als seien Journalisten programmierte Burn-out-Opfer?
Burn-out ist ein schleichender Prozess. Es beginnt zunächst meistens mit kleinen Anzeichen. Die vielen kurzen Krankheitsstände, Schnupfen, Heiserkeit. Morgens fühle ich mich nicht wohl, ich habe nicht genug Kraft, zur Arbeit zu gehen. Erschöpfung, Konzentrationsschwäche, der Mangel, sich auf irgendetwas einzulassen, dazu die stetig erlebte Überforderung, das sind dann Symtome von Burn-out.
Es gibt aber auch viele Journalisten, die sich nicht genug gefordert fühlen.
Dieses Phänomen nennt man Bore-out: sich ausgehöhlt zu fühlen. Es sind die gleichen Symptome, aber aus einer erlebten Unterforderung. Das erleben wir gerade bei hochkreativen Menschen, wenn sie sich nicht entfalten können. Dann müssen sie ständig unter ihren Möglichkeiten arbeiten und ihre Kreativität einsperren. Der Körper muss sich kontinuierlich ein Stück weit abschalten. Es kommt zu Unwohlsein, zu leichten Depressionen, zu Nicht-mehr-Können. Die betroffene Person merkt: Ich bin nicht mehr so gut, wie ich eigentlich könnte. Dann kommt wieder dieses Minderwertigkeitsgefühl: Ich bin nichts, ich kann nichts. Dem folgt ein Unsicherheitsgefühl. Und neue Ängste. Ein Teufelskreis.
Unterforderung, Überforderung: Was ist die Hauptursache?
Der größte Stressfaktor am Arbeitsplatz ist mangelnde Wertschätzung und Anerkennung, wie viele Studien beweisen. Und das hat nichts mit Geld, sondern mit Haltung zu tun. Ein Phänomen, mit dem wir gerade im Journalismus arg zu kämpfen haben.
Übertreiben Sie da nicht ein wenig?
Wie viele Beispiele möchten Sie hören? Alleine von letzter Woche könnte ich Ihnen drei aufzählen. Sie finden diese Fälle in jeder Stadt, in jedem Land.
Sprechen wir von Problemen, die zunehmen?
Ja, seit etwa drei bis vier Jahren, nach meiner Beobachtung. Das hat damit zu tun, dass die Informationsbeschaffung durch die Neuen Medien eine enorme Beschleunigung erfährt und damit zugleich der Druck steigt, alles im Blick zu haben. Der andere Grund: Mit Blick auf Sparpotenziale werden immer mehr Berater mit vermeintlich betriebswirtschaftlichem Denken gerufen. Dabei wird die Qualität der Berater häufig nicht hinterfragt, weil die Parameter dafür fehlen. Klar ist oft einzig das Motto: Mit weniger Geld mehr erreichen.
Was hilft gegen die Ängste? Wie viel Freiheit brauchen Journalisten ?
Es geht zunächst ein mal um die innere Freiheit, überhaupt Freiheit empfinden zu können. Wenn ich auf eine Pressekonferenz losgeschickt werde und schon vorher weiß, welches Statement ich mitzubringen habe, hat das nichts mehr damit zu tun, dass ich wirklich hinschauen kann. Freiheit im Journalismus bedeutet: Ich fühle mich mit mir und meinen eigenen Themen wohl. Ich habe keine Angst nicht um meinen Arbeitsplatz, nicht um die Kommunikationsstruktur in der Redaktion, nicht davor, dass mein Chef mir möglicherweise unsinnige Anweisungen gibt, dass er kaum Ahnung von Journalismus hat, dass er unfähig wirkt, Menschen in ihrer Entwicklung zu begleiten.
Nur noch Geschichten, die Spaß machen in einer Redaktion, in der jeder macht, was er will. Meinen Sie das wirklich?
Es geht nicht um Geschichten, die Spaß machen, es geht um Arbeit, die Spaß macht. Freiheit hat nichts mit Spaßgesellschaft zu tun. Man glaubt so gerne, dass das Freiheit ist. Freiheit ist ja nicht Anarchie! Das ist völliger Quatsch. Es ist ganz anders: Solange ich nicht reflektiere, was mich stört, schränkt mich das ein und macht mich unfrei. Freiheit bedeutet: Ich verstehe, worum es letztendlich geht. Dazu braucht man Führungskräfte, die die Fähigkeit haben, bei jedem Einzelnen die Kompetenzen zu erkennen, und sagen: Ich weiß, was deine Fähigkeiten sind, und nun schau, was du findest. Das ist Freiheit.
Heißt das, dass die meisten Chefredakteure unfähig sind, diese Freiheit zu geben?
Ja. Es gibt hochfähige Chefredakteure, die Themen durchleuchten können und verstehen, was am Markt nötig ist. Aber wie viele Chefredakteure haben gelernt, Menschen zu führen, souverän mit Wertschätzung umzugehen? Wie viele sind darin ausgebildet?
Sagen Sie es uns.
Wenige! Wenige, die verstanden haben, dass die Führung einer Redaktion nicht nur darin besteht, Programmqualität zu definieren, sondern die auch begriffen haben, dass es eine Prozesszufriedenheit geben muss. Bei einem journalistischen Produkt haben wir für gewöhnlich klare Kriterien, die wir anlegen: Ein Beitrag darf so und so lang sein, es müssen so viele Informationen genannt werden und so viele Quellen und fertig. Dabei wird außer Acht gelassen, wie es den Menschen geht, die das tun. Entscheidend ist letztlich die Haltung. Und die hat extrem viel zu tun mit den Führungskräften. Wir haben momentan so viel menschenunwürdiges Führungsverhalten in den Medien, dass mir graust. Wenn Journalisten sich selbst in ihrem Handeln nicht mehr hinterfragen, wie wollen die draußen politische Systeme kritisch beleuchten? Wie soll das gehen, wenn die nicht mal im eigenen Haus hinschauen können?
Machen Sie es sich nicht zu einfach, alles an den Führungskräften aufzuhängen?
Ich sage nicht, dass die Chefredakteure die Bösen sind. Ich habe sogar ein tiefes Mitgefühl, weil sie teilweise kaum noch in der Lage sind zu sehen, was sie selbst tun.
Dennoch müssen die Führungskräfte die Strukturen verändern?
Da muss man ansetzen und sagen: Gut, wenn du der CvD oder der Chefredakteur bist, brauchst du mehr Kenntnisse als nur die journalistischen. Man braucht ein gewisses Maß an Bildung, um Menschen führen zu können. Wir können uns ja nicht auf die Zeit zurückstellen, als es diese Kenntnisse in Arbeitspsychologie, Organisationstheorie und natürlich auch den Neurowissenschaften noch nicht gab.
Wichtig ist aber auch der Einzelne: Wenn ich als Moderator, Redakteur, Journalist nicht sehe, wo in meinem eigenen Umfeld Missstände sind, kann ich nicht den Chefredakteur dafür verantwortlich machen.
Ist es das Geld, das an vielen Ecken fehlt? Oder ist es Machtmissbrauch?
Es ist auf jeden Fall beides. Das Argument keine Zeit, kein Geld ist ja eine Form von Machtmissbrauch. Das heißt, ich benutze vermeintlich existenzielle Begründungen dafür, dass Menschen in Abhängigkeiten und Unfreiheit kommen. Wenn ich ihnen ständig sage, unser Budget wird zusammengestrichen, dann kann sich jeder Einzelne ausdenken, irgendwann trifft es mich auch. Das löst natürlich Angst aus.
Und wie erlebt man angstfreie Redaktionen? Gehen dort die Menschen mit glänzenden Augen durch die Flure? Halten sie Händchen? Sammeln sie Journalistenpreise?
Nein (lacht). Man spürt das vor allem in den Redaktionskonferenzen. Die sind heiterer, effektiver und kürzer. Das ist das eine. Und das andere ist die Fähigkeit, Kritik zu üben. Im Sinne von: Ich gucke das Produkt an und schaue,
was verbessert werden kann. Gute Redaktionen schauen mit einer sehr viel größeren Präzision hin. Sie unterscheiden zwischen den persönlichen Empfindlichkeiten und dem journalistischen Produkt.
Was ist eine gute Blattkritik?
Das Problem ist oft der Blick auf den Mangel. Dabei wird immer außer Acht gelassen, was bereits gelungen ist. Das Gute, das Gelungene wird nicht beachtet: also weiß der Einzelne auch nicht, dass er eine Wertschätzung genießt. Und da das keine Beachtung findet, gerät es in Vergessenheit, geht als Qualität verloren. Und ein halbes Jahr später landet es auf der Mangelseite.
Wären Sie eine Zauberfee und könnten den Journalisten drei Wünsche zugestehen, um ihnen mehr Freiheit zu geben, welche würden sie am schnellsten weiterbringen?
Ein Wunsch wäre: Ich möchte professionell gesehen werden für das, was ich kann, und in meinen Kompetenzen geschätzt und gestützt werden. Ich möchte eine klare Leitlinie haben und mit professionellem Handwerkszeug ein Geländer haben, wie wir das wertschätzen, sichern und entwickeln. Ich möchte eine klare Konferenz haben, in der Programmstruktur gemacht wird. Ich möchte zugleich einen klar festgelegten Zeitraum und Ort haben, in dem ich kreativ querdenken kann, in dem alles, auch Querdenken und freies Denken, erlaubt ist.
An welcher Stelle sollte eine Redaktion anpacken, um dies zu erreichen?
Es braucht klare Kriterien für das Was und klare Kriterien für das Wie. Und zwar in der Kombination. Das eine geht ohne das andere nicht. Ich kann nicht sagen, ich mache jetzt eine sich lieb habende Redaktion, die keine Ergebnisse bringt. Ich kann aber genauso wenig sagen, ich habe nun eine Redaktion, die Ergebnisse produziert und sich scheiße fühlt dabei.
Wie schafft eine Redaktion das?
Ganz einfach gesagt braucht man jemand im Idealfall eine Führungskraft , der den Mut hat zu denken, dass es zu dem Was ein Wie braucht. Dann holt man sich jemand von außen, der darin für einen Moment unterstützend tätig ist. Dann setzt man das auf und bekommt Handwerkszeug vermittelt, um das selbst weiterzuentwickeln. Sehr simpel.
Kann man das Ergebnis dieses Prozesses an klareren Ergebnissen festmachen?
Frei werden ist ein Prozess. Freiheit ist ein Zustand. Um Freiheit als Zustand zu erreichen, braucht es Entwicklungsschritte und das Erleben von Freisein. Konkret geht es darum, in meiner Arbeit die Qualität von Freisein zu erleben, die Lust zu arbeiten und die Motivation zu spüren, mich mit Themen, Stoffen und Menschen auseinanderzusetzen. Es geht darum, dass ich mich wach halte. Wir können nicht einen idealen Zustand herstellen, der da lautet, wir sind dauerhaft einfach alle glücklich und frei. Das wäre auch völlig daneben.
Sie enttäuschen mich jetzt aber!
Sie möchten gerne die rosa Wolkenwelt auch hübsch (lacht). Nein, es geht darum, durch Achtsamkeit diese Phänomene zu begleiten und wach zu bleiben. Was passiert am Ende des Tages? Ein praktisches Beispiel: Der Sender klettert vom fünften auf den ersten Platz. Also ganz simpel. Die Hörer sind zufrieden, das Programm ist vielfältiger, klarer strukturiert, die Hörer fühlen sich besser unterhalten, sind besser informiert, diskutieren mit, die Stadt bekommt einen neuen Blick zu gewissen Themen. Entwicklung halt, Bildung, Mut.
Also doch die rosa Wolke.
Ja, mit allen Phänomenen, um die es da geht. Auch den Mut zu haben, sich der Angst zu stellen, auch den Krisen. Aber nicht mehr davor wegzulaufen. Und nicht zu sagen, ich berichte da-rüber ein bisschen, weil ein bisschen tut ja nicht weh. Journalisten haben die Aufgabe hinzugucken und zu durchleuchten. Das ist nicht immer lustig, dazu braucht es Mut. Ich finde es bedenklich, tagtäglich mitzuerleben, wie unglücklich Journalisten sind, weil sie nicht mehr frei arbeiten können, weil irgendwelche Führungskräfte es versäumt haben zu verstehen, was sie da tun.
Verändern bessere Journalisten die Welt?
Oh ja, ganz klar. Das sind ja nicht mehr nur psychologische Annahmen, sondern das wissen wir einfach, wenn wir schauen, wie der Körper funktioniert. Resonanzphänomene sind ja nicht Teil der Esoterik oder irgendwelcher psychologischer Schulen. Es sind sichtbare und messbare Vorgänge, die quantitativ und qualitativ zu validen Ergebnissen führen. Ja, ich sehe das definitiv so. Die Ängste, die die Journalisten haben, sind am Ende des Tages auch die Ängste, die die Menschen haben. Die Freiheit, die die Journalisten empfinden, ist am Ende des Tages auch die Freiheit, die die Menschen empfinden.
Erschienen in Ausgabe 06/2010 in der Rubrik „Beruf“ auf Seite 58 bis 61. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.