Vergesst den Gebrauchswert!

Dem Qualitätsjournalismus läutet das Sterbeglöcklein: Auflagenschwund, Anzeigenverluste, Stellenabbau, Arbeitsverdichtung, controllernde Verleger, recherchemüde Chefredakteure und am Ende nur noch aufgeregter Rudeljournalismus. Rien ne va plus.

Der moderne Mensch, so scheint’s, liest online – und das am liebsten kostenlos. Nachrichten, Wetterbericht, Börsenkurse, Filmtipps, Katastrophen – alles, was wichtig oder nützlich ist, holt man sich aus dem Netz oder erfährt es beinahe in Echtzeit aus Radio und Fernsehen. Allein die Todesanzeigen scheinen eine unumstößliche Bastion der Tageszeitungen zu bleiben. Fürs Überleben der Zeitungen sterben aber offensichtlich zu wenige.

Patentrezepte gibt es nicht und sind auch nicht notwendig. Doch dass man sich bei veränderten Wettbewerbsbedingungen einem – neudeutsch – „Change-Management-Prozess“ unterziehen muss, empfehlen zwar Wirtschafts-Journalisten in ihren gescheiten Kommentaren mit Hingabe allen anderen Branchen, nicht aber ihren Arbeitgebern, den Verlagen. Dort kennt man nur einen Hebel: Kostendrücken. Aber Zitronen geben auch nur bis zu einem gewissen Grad Saft ab – irgendwann hat sich diese Methode leer gelaufen.

Wäre die Automobilindustrie Mitte der 90er-Jahre auf diesem Niveau stehen geblieben, würde man heute in Deutschland oder Europa keine Autos mehr bauen. Auch für diese Branche läutete seinerzeit das Sterbeglöcklein. Erst Lean Management, Prozessoptimierung, Kaizen und Marktoffensiven brachten die Erfolge, die sich in niedrigeren Kosten, höherer Qualität und meistens auch besseren Erträgen messen ließen.

Wer glaubt, dass dies ein schmerzfreier Prozess war, irrt gewaltig. Eingefahrene Wege mussten verlassen werden, Umdenken war nicht nur bei den Betroffenen gefragt, sondern auch im Management. Wenn Werker, Meister und Teamleiter außen vor gelassen werden, bringen sie weder Ideen noch sich selbst ein. Und wer als Führungskraft nicht fragt, macht dies auch nicht nur aus bösem Willen. Wer nicht fragt, hat es in der Regel nicht gelernt.

Der Veränderungsprozess musste also in den Köpfen beginnen. Und die wichtigste Tugend der Verantwortlichen war deshalb, den Betroffenen die Angst vor der Veränderung zu nehmen. Im Klartext: Wer mit seinen Optimierungsvorschlägen seinen eigenen Arbeitsplatz gefährdet, wird weitermachen wie bisher. Die langfristige Zukunftssicherung des Unternehmens und damit prinzipiell auch die eigene Arbeitsplatzsicherheit sind dagegen zentrale Voraussetzungen, um den Speichelfluss für Veränderungen zu erzeugen.

Sollen also aus Betroffenen Beteiligte werden, ist etwas notwendig, das ausgerechnet in Verlagshäusern völlig unterentwickelt ist: die offene und ehrliche Kommunikation nach innen und die Bereitschaft zur Diskussion. Nicht basisdemokratisch, wie sich das der eine oder andere Journalistenfunktionär vorstellt. Nein, Erfolg verspricht nur die Diskussion darüber, wie die vorgegebenen Ziele erreicht werden können. Und das höchste Ziel bei Zeitungen und Zeitschriften heißt: Qualitätsjournalismus unter wirtschaftlichen Wettbewerbsbedingungen der Verlagshäuser sicherzustellen. Dazu zählen zweifellos auch unkonventionelle Antworten auf die Frage, wie neue Leser gewonnen werden können.

Nachholbedarf im Nachdenken gibt es dabei sowohl im Zeitungs-Marketing wie auch unter journalistischen Kriterien: Braucht’s die Einfachst-Kaffeemaschine oder den Radiowecker als Werbeprämie? Wie wäre es mit Theaterkarten oder Hintergrundgesprächen mit dem Chefredakteur? Wie mit Diskussionsveranstaltungen mit Prominenten – ausschließlich für Werber und Geworbene? Ganz einfach formuliert: Wie wäre es, wenn man auch bei der Zeitungs- und Zeitschriftenwerbung den potenziellen Leser als homo politicus ernst nehmen würde und ihn nicht mit Müll von den Wühltischen der Kaufhäuser zuschütten würde? Oder ganz direkt: Wie wäre es, wenn man ihn nicht schon mit der Kitschprämie beleidigen würde?

Braucht’s den Börsenteil in der Tageszeitung, wo die Kurse schon nach Drucklegung veraltet sind? Braucht’s den umständlichen Wetterbericht? Braucht’s Katastrophenmeldungen, bei denen der Journalist oder Fotograf jedes Gefühl für ein Mindestmaß an Menschenwürde oder Intimität missen lässt?

Bislang will das Verlagsgewerbe diesen Weg nicht denken. Wie auch? Niemand hat es Verlegern und Journalisten gezeigt. Und die Larmoyanz der edlen Schreiber über ihre beklagenswerte Situation lässt überdies jeden vernünftigen Gedanken in deren Hirnwindungen auf immer und ewig verschwinden.

Aber es geht ja auch anders. Aus dem Meer der Gebeutelten und Verzagten ragen durchaus Blätter heraus, denen offensichtlich diese Diskussion kalt an der Rückenverlängerung vorbei geht. Die Auflage der „Zeit“ oder der „FAZ Sonntagszeitung“ steigt ständig und kontinuierlich, ebenso die von Blättern wie „Cicero“ oder „brandeins“. Der „Spiegel“ hält sich wacker, sieht lediglich wegen der Anzeigenverluste seine bislang komfortable Geschäftsgrundlage angegriffen. Ähnliche Beispiele im Ausland: Der „Economist“ in England, auch nicht gerade ein journalistisches Seichtbiotop, wächst und wächst. „The Week“, ebenfalls englischer Provinienz, punktet bei seinen Lesern Woche für Woche und füllt damit die Kassen seiner Verleger. Was also machen die einen falsch, die anderen richtig?

Die Antwort auf kraftstrotzenden Erfolg oder Schwindsucht ist weniger akademisch als vielmehr sehr praktisch. Wenn das Netz die Nachricht besser und schneller liefert, muss sich Print aus dieser Arena verabschieden. Den Wettlauf um die Nützlichkeitstrophäe hat das auf Papier gedruckte Wort und Bild verloren. Das ist die Chance – vermutlich die einzige. Die derzeitigen Auflagengewinner kümmern sich jedenfalls nicht oder nur am Rande um die Frage: Was bringt’s dem Leser? Sie fragen nicht nach dem klassischen Wer? Wann? Was? Wo? Warum? Nein, sie ignorieren den Nutzwert und pflegen das Unnütze – hintergründig argumentiert, bestechend analysiert, brillant formuliert oder fotografisch exzellent in Szene gesetzt. Sie spielen mit dem Bild, dem Wort und mit dem Gedanken, vor allem aber spielen sie. Der Leser wird nur ernst genommen in seiner Rolle als Leser, nicht als Konsument von Informationen. Sie haben verstanden, dass etwas Nützliches immer wieder durch etwas noch Nützlicheres ersetzt werden kann, dass etwas Unnützes dagegen unnütz bleibt. Aber es bleibt.

Diese Erkenntnis gilt grundsätzlich und für alle Bereiche des Lebens. Ski fahren war einmal eine nützliche Tätigkeit, um Post in den verschneiten Bergen auszutragen. Reiten, um Kurierdienste zu organisieren oder Kriege zu führen. Segeln, um Waren über die Meere zu transportieren. Erst nachdem diese Tätigkeiten ihren „Nutzencharakter“ verloren haben, wird massenhaft Ski gefahren, geritten und gesegelt. Blühende Industriezweige haben sich um diese unnützen Beschäftigungen herum entwickelt. Und eine Bekleidungsmode konnte überhaupt erst entstehen, als der Zweck der körperlichen Tuchbedeckung, nämlich die Abwehr von Kälte, in den Hintergrund rückte. Vielleicht wird es eines Tages mit dem Automobil genauso sein. Von Ferry Porsche stammt jedenfalls der Spruch: „Das letzte Auto, das jemals gebaut wird, ist ein Sportwagen“ – ein unnützes Ding also.

Karl Marx hat diese Entwicklung in seiner ihm eigenen Sprache auf den Punkt gebracht: „Die Ware ist ein sehr vertracktes Ding, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Dieser mystische Charakter der Ware entspringt nicht aus ihrem Gebrauchswert.“ Also, liebe Anhänger des Qualitätsjournalismus, optimiert mit den Verlegern eure Prozesse und vergesst den Gebrauchswert. Und macht dann Zeitungen und Zeitschriften, die man lesen will. Nicht, die man lesen muss.

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In unserer Essay-Reihe widmen sich Autoren aus unterschiedlichen Blickwinkeln der Fra
ge: Welche Chance hat die Zeitung? Bisher sind erschienen Beiträge von Wolf Schneider (mm 9/09) und Eva Schulz (mm 11/09). Siehe auch Onlinearchiv www.mediummagazin.de

Erschienen in Ausgabe 01+02/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 38 bis 38 Autor/en: Anton Hunger. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.