Mal angenommen, ein Reporter wollte heute das exakte Datum der ersten Mondlandung in Erfahrung bringen. Würde er den Archivar um Hilfe bitten? Zeitungsbände von 1969 studieren? Womöglich die Nasa anrufen? Mit den beiden Schlagwörtern „erste“ und „Mondlandung“ liefert ihm Google die Antwort in 0,13 Sekunden. Vermutlich erscheint schon der Gedanke an eine Alternative zu den Suchmaschinen grotesk. Wenn es allein um Recherchieren geht, ist das Internet in Zeitungsredaktionen zum selbstverständlichen Arbeitsmittel geworden. Warum eigentlich nicht, wenn es um Publizieren geht?
Persönliche Blogs der Autoren, Redaktionsmarketing über Facebook, Schnappschüsse vom Interviewtermin – das Internet bietet viele Möglichkeiten zur Online-Integration in der Printwelt. Stattdessen folgt reflexartig das Gejammere, der Redaktionsalltag lasse für so etwas kaum Freiraum: „Wann sollen wir das auch noch machen?“ Wer so denkt, stellt sich selbst ein Bein.
US-Autor Jeff Jarvis („What Would Google Do?“) errechnete eine um 30 Prozent höhere Effizienz im Newsroom, wenn das Herz der Zeitung online schlägt. Auch Michael Haller, Medienprofessor in Leipzig, wies die Qualitätssteigerung von gedruckten Zeitungen nach, die sich der Online-Welt geöffnet haben. Und die „Abendzeitung (AZ) München liefert den Beweis, dass Sparzwang und Krisenstimmung kein Hindernis für die Online-Integration darstellen: Keine andere deutsche Tageszeitung hat Print und Online enger vernetzt, wie die Erhebung bei 59 Tageszeitungen belegt (s. Kasten S.35). „In Zukunft wird es noch wichtiger werden, Themen schnell und medienspezifisch aufzubereiten“, so Arno Makowsky, AZ-Chefredakteur: „Das ist ohne intensive Vernetzung nicht möglich.“ Aufklärung beim Thema Online ist in der Zeitungskrise überlebenswichtig. Wie Online-Integration funktioniert und was sie bringt, fasst dieses Thesenpapier zusammen:
1. Zeitungsredaktionen verschenken ihr Potenzial leichtfertig
Zu viele Chefredakteure und Verlagsleiter laufen ahnungslos in ihr Verderben: Sie behaupten, ihre Redaktion arbeite voll-integriert – und wissen gar nicht, was Online-Integration tatsächlich bedeutet. Dietmar Schantin von der Ifra, der internationalen Research- und Serviceorganisation für die Zeitungsindustrie, unterscheidet zwei Stufen der Zusammenarbeit:
* crossmedial, wenn Print und Online getrennte Welten sind, aber Formen der Kollaboration finden, und
* integriert, wenn Print und Online eine einzige Welt bilden.
Aber: Laut den Ergebnissen der Studie zur Online-Integration haben bisher zwei Drittel der Redaktionen die höhere, integrierte Entwicklungsstufe nicht erreicht. Die Printleute arbeiten zwar enger als früher mit der Online-Welt zusammen, zunehmend werden mit den Texten auch Ideen und Mitarbeiter ausgetauscht – aber die Onliner bilden weiterhin eine eigene Welt. Und obwohl jeder Journalist weiß oder zumindest ahnt, dass die Internet-Durchdringung nicht mehr aufzuhalten ist, sind die Interessenkonflikte kaum zu überwinden. Weder beim Geld, wo das Printgeschäft die Online-Aktivitäten nicht selten quersubventionieren muss. Noch im Newsroom, wo verdiente Printjournalisten nur bedingt dem Rhythmus der digitalen Medien folgen wollen. Und auch nicht beim Blattmachen, wenn die Schlagzeilen vom nächsten Morgen raffinierter formuliert sein sollen als die Wiederholung vom Tagesgeschehen.
Ja, das Internet ist anstrengend. Doch die Tatsache, dass die meisten Tageszeitungen sich ungenügend darauf einstellen, könnte sie teuer zu stehen kommen.
2. Zeitungsverlage verschleudern Geld auf zweifache Weise.
Was die Nutzer betrifft, wird Online bis 2015 wichtiger als Print sein, was die Erlöse angeht, wird es 2025 so weit sein, schätzen Experten. Warum also mit der Online-Integration warten? Die AZ tat es nicht und macht zugleich aus der wirtschaftlichen Not eine Tugend: 93,8 Prozent beträgt dort die gemessene Online-Integration. Eine süddeutsche Regionalzeitung dagegen kümmert Online wenig, sie bekam den niedrigsten Wert in der Studie: nur 8,8 Prozent. Dazwischen: alle anderen Zeitungen (und dabei die Boulevard-Blätter noch vor den Qualitäts- und Abozeitungen), wo die eigenständige Online-Welt teuer bezahlt wird.
Jeder zweite Chefredakteur räumte ein: Jede Plattform habe eigens verantwortliche News-Editoren und/oder übergreifende Multimedia-Koordinatoren. Also genau das, was die Manager als Redundanz in den Redaktionen betrachten: jeweils eine Stelle für Print und Online. News-Editoren für jede Plattform zu haben muss nichts Schlechtes sein – aber es ist halt kostspielig. Und wehe der Redaktion, die plötzlich sparen muss, ohne strukturell darauf vorbereit zu sein. Nur ein Drittel steuert den Nachrichtenfluss so zentral, wie es Online-Integration vorsieht: dass ein einziger News-Editor in der Lage ist, darüber zu entscheiden, wie und wann jede Nachricht über welche Plattform wirksam ausgespielt wird.
Wenn an diesem Knotenpunkt im Newsroom vier Kollegen den Job machen, den in den getrennten Welten fünf machen – dann beträgt der Kostenvorteil 20 Prozent. Voraussetzung natürlich: dass die Kollegen die neue Welt als Chance begreifen. „Entscheidend ist, Print-Kollegen ein Gefühl dafür zu geben, wie wichtig Online ist und auch wie viel Spaß diese direktere Kommunikation mit dem Leser macht“, so Makowsky.
Genau hier begehen Verlage den zweiten Fehler, der Geld kostet: Change Management wird zu oft Unternehmensberatern überlassen, deren Analyse und Arbeit die Redakteure als Attacke von außen verstehen.
Strukturelle Veränderungen im Newsroom können selbst dann scheitern, wenn die Online-Affinität unter Mitarbeitern hoch ist. Wie sollen Unternehmensberater etwas verändern, wenn ihre Konvergenz-Strategien Excel-Tabellen entspringen? Das eigentliche Problem liegt woanders: bei Ausbildung und Akzeptanz, bevor die Maßnahmen überhaupt greifen.
3. Die Modernisierung muss vom Chefredakteur vorangetrieben werden.
Denn das Wort Konvergenz-Strategie klingt so hässlich, wie es in Redaktionen ankommt. Nur jeder dritte Chefredakteur berichtete davon, dass die Verlagsspitze allen Mitarbeitern in der Redaktion ausführlich erklärt hat, wie Print und Online enger verzahnt werden sollen. Bei etwas mehr als der Hälfte der Redaktionen (59,3 Prozent) wurden nur „die direkt Betroffenen in Kenntnis gesetzt“. An einem Kulturwechsel muss es da zwangsläufig hapern.
Jeder vierte Chefredakteur befürchtet bei manchen Online-Konzepten sogar, dass Konvergenz verlagsseitig als Chance zum Personalabbau gesehen wird. Dabei sehen zwei Drittel gar einen höheren Bedarf an Personal mit Multimedia-Erfahrung. Wenn aber nicht einmal der Chefredakteur weiß, dass Online-Integration den Newsroom effizienter und die Zeitung besser macht: Wie soll es dann seine Mannschaft je erfahren?
39 Prozent der Chefredakteure gaben an, dass viele Journalisten bei der Zusammenlegung des Newsrooms für Print und Online schlechtere Arbeitsbedingungen befürchten (mehr Arbeit!). Daran sind die Chefredakteure nicht schuldlos. 13,6 Prozent von ihnen stellen ihre Redaktion so auf, dass die leitenden Journalisten der jeweiligen Plattform autonom entscheiden – dadurch werden Parallelwelten zementiert. Es kann sogar zu Wettbewerb zwischen den Plattformen kommen: Wer hat die News zuerst? Bei zwei Drittel der Chefredakteure (66,1 Prozent) treffen sich die leitenden Journalisten der beiden Plattformen Print und Online zwar zu gemeinsamen Redaktionskonferenzen, um sich abzustimmen, aber eben nur die leitenden. Lediglich bei einem Viertel der Redaktionen dürfen alle Journalisten beider Plattformen teilnehmen (27,1 Prozent).
So ergibt sich bei der Durchsicht der Antworten zu dieser Studienumfrage ein dringender Verdacht: Kann es sein, dass die Chefredakteure nicht immer die Online-Welt so schätzen, wie es ein Redaktionsleiter, der für beide Welten verantwortlich ist, tun müsste?
78 Prozent der Chefredakteure gaben an, dass die Koordination zwischen Print und Online auf der zweiten oder dritten Führungsebene pa
ssiert. Also nicht dort, wo die redaktionelle Verantwortung liegt. Aus welcher der beiden Welten die Chefredakteure vornehmlich stammen, ist unschwer zu erraten, ihre entsprechenden Präferenzen ebenfalls. Gleichzeitig räumten vier von fünf Chefredakteuren ein: Neue Ideen und Tests für die Online-Welt entstehen in der redaktionellen Praxis – bei den Redakteuren.
Immerhin 86,4 Prozent sehen es als Voraussetzung an, dass die Kollegen im selben Gebäude arbeiten. Wenigstens räumlich findet die Annäherung statt.
4. Die Fortbildung der Mitarbeiter ist wichtiger denn je.
Zugegeben, die Strukturen in den Redaktionen sind mittlerweile weithin signifikant verbessert worden, die Online-Affinität ist in den Redaktionen hoch – aber das reicht nicht. Die Organisation in den Newsrooms deutscher Tageszeitungen wurde auf vier Kriterien hin untersucht: Struktur, Aufgaben, Mitarbeiter und Kultur. Das Resultat macht deutlich: Die Hausaufgaben sind erst zur Hälfte gemacht, die Mitarbeiter sind schlecht vorbereitet. Die Fortbildung der redaktionellen Mitarbeiter ist überdurchschnittlich schlecht (nur 12,2 von 20 Punkten in der Studie), die Aufgaben sind kaum den Strukturen angepasst (11,2 von 20). Nur jeder siebte Chefredakteur verfügt über eine Redaktion, die auf beiden Plattformen arbeiten könnte.
Denn jeder Fünfte sieht es nicht als notwendig an, dass Journalisten Vorabmeldungen über Facebook oder Twitter verbreiten. Ein totaler Widerspruch zum Zukunftsbild, das 67,8 Prozent der Chefredakteure zeichnen: Demnach sollten alle Journalisten künftig in der Lage sein, Inhalte für alle Vertriebskanäle herzustellen.
Nun recherchiert der erklärte Printjournalist anderes Material als der Online-Kollege, der zum Beispiel Links und multimediale Elemente zur Aufbereitung von Informationen braucht. Lernwillig zeigen sich die Chefredakteure nur bedingt: Jeder Dritte würde zwar Fortbildung begrüßen, aber nicht als Pflicht sehen. Mehr als jeder Zehnte vertritt die Ansicht, die Recherche sollte unabhängig vom Materialbedarf der jeweils anderen Plattform erfolgen. Nein, so scheitert mit der Online-Integration die Modernisierung der Redaktion.
5. Es gibt keine Alternative zur Online-Integration.
Jeder spürt es doch: Online wird immer wichtiger! Aber obwohl 69,5 Prozent der befragten Chefredakteure wissen, dass Online-Inhalte an Bedeutung zunehmen, sagten sie auch: Noch beeinflusst der Online-Bereich unsere Printberichterstattung nicht systematisch. Klingt das nicht verrückt? Warum keine Print- und Online-Berichte aus nur einer Hand?
18,6 Prozent der Chefredakteure berichten von guten Erfahrungen: Weil sie wissen, dass ihre Story online verbreitet ist, würden ihre Journalisten für die gedruckte Ausgabe nach frischen Themenansätzen suchen.
Andreas Wiele, Vorstandsmitglied bei Axel Springer, sieht in Zukunft die Gesamtreichweite einer Medienmarke als entscheidendes Kriterium: „Ob das dann 3,5 Millionen gedruckte Zeitungen oder fünf Millionen Online-Abrufe sind, ist uns egal.“ Die Bedeutung des Online-Bereichs hat sich unter den Journalisten aber nur zum Teil herumgesprochen: Jeder Dritte sieht keine Notwendigkeit darin, Stories im Online-Archiv bei neuer Faktenlage zu aktualisieren. 39 Prozent sehen noch immer die Zeitungsstory als Höhepunkt ihrer Berichterstattung. Der Online-Auftritt gebe ihr zumindest mehr Gewicht, sagen 55,9 Prozent der Chefredakteure. Eine solche Fixierung auf Print führt nur zu einem: in die Sackgasse.
Die Online-Integration würde wesentlich schneller vollzogen werden, wenn die Journalisten so selbstverständlich im Internet veröffentlichen dürften, wie sie im Internet recherchieren. 42,2 Prozent der Chefredakteure erlauben Blogs unabhängig vom Newsroom und 16,9 Prozent in Absprache mit den Kollegen. Hier kommt meistens das Gegenargument: Blogs kosten doch Zeit! Ja, und Blogs sparen Zeit! Mindestens beim Suchen von neuen Ideen und Hinweisen für Stories und Kommentare. Womöglich sogar beim Bestreben, den Autor zu einem Kolumnisten aufzubauen, für den Leser die Zeitung gerne kaufen – man kann mit ihm über die Stories diskutieren. Lohnt sich dafür der Aufwand nicht? Warum werden dann Leserbriefe im Blatt veröffentlicht?
Das Fazit.
Von der Medienwissenschaftlerin Gisela Schmalz stammt die ernüchternde Analyse: Die Leser seien für neue Darstellungsformen im Internet eher bereit als die Redaktionen für deren Herstellung. „Im Web gilt es, Inhalte und Interaktivität zu verheiraten. Diese Herausforderung zu bejahen und Medieninhalte neu zu definieren, fällt Medienmachern schwerer als den Online-Nutzern.“ Das Studienergebnis zur Realität in den Zeitungsredaktionen bestätigt ihre Feststellung: In ihrem Beharrungsvermögen reizen deutsche Zeitungsredaktionen die neuen Möglichkeiten unzureichend aus, weil sie sich besser fühlen, als sie wirklich sind – ihnen fehlt der Branchenvergleich. Das Fazit kann nur lauten: Bevor Unternehmensberater auf die Redaktionen losgelassen werden, um die Vernetzung mit Online zu verbessern, sollte man zumindest die zu Rate ziehen und einbinden, die in der Praxis stehen: die Chefredakteure. Ihre Antworten in der Studie liefern eine repräsentativen Einblick in die Wirklichkeit der Newsrooms. Von diesem Status Quo aus gilt es, die Chefredakteure und ihre Redaktionen von der Notwendigkeit zur Online-Integration zu überzeugen. Mit dem Vergleich zu anderen Redaktionen. Denn auch das ist eindeutig: Online wird Print irgendwann einholen. Darum: mehr Mut!
Erschienen in Ausgabe 09/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 34 bis 34 Autor/en: Pit Gottschalk. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.