Wann immer wir andere beobachten, werden auch wir beobachtet. Diese systemtheoretische Grundregel der Medienwissenschaft wurde durch den selbstreferenziellen Diskurs illustriert, den wir in Folge des Köhler-Rücktritts führten. Tagelang schienen Journalisten sich gegenseitig anzublicken und verwundert zu fragen: Was haben wir getan? Wer genau hat hier eigentlich etwas getan?
Den Augenblick des Innehaltens und der Selbstbesinnung, den Horst Köhler mit seiner denkwürdigen Rücktrittserklärung herbeizwingen wollte, hat es dennoch nicht gegeben. Der finale Versuch des Bundespräsidenten, Medienkritik als staatspolitische Tat zu inszenieren, ist gescheitert. Das anhaltende Rätselraten über die wahren Gründe seines Rücktritts belegt lediglich, wie einsam Köhler am Ende im höchsten Staatsamt dastand. Die Geister, die ihn einst gerufen und zum Objekt des Powerplays von Politik und Medien gemacht hatten, waren von ihm gewichen: Die schwarz-gelben Taktiker, die ihn einst ins Amt befördert hatten. Die Hauptstadtjournalisten, die ihn während seiner ersten Amtszeit zum strahlenden Widerpart des politischen Normalbetriebs stilisiert hatten und nun als verirrten Sonderling schmähten. Selbst die Gunst der Bevölkerung mag sich in den Augen des Bundespräsidenten als schales Konstrukt einer Medienwirklichkeit entpuppt haben, das keiner wirklichen Belastung standhält.
Unterschätzt nicht die Hörer!
Die Berichte und Schlagzeilen, die dem Rücktritt des Bundespräsidenten unmittelbar vorangingen, taugen indes kaum als Beleg einer journalistischen Verschwörung mit dem Ziel, das Ansehen des Staatsoberhauptes herabzuwürdigen.
Am Beginn der medialen Kettenreaktion stand ein banaler Fehler. Das Redaktionsteam im Newsroom des Deutschlandfunks, das in den frühen Morgenstunden des Pfingstsamstags das Audiomaterial bearbeitete, das unser Kollege Christopher Ricke von der Asien-Reise des Bundespräsidenten mitgebracht hatte, schnitt die entscheidende Passage aus dem Interview mit dem Bundespräsidenten heraus. In der Eile des morgendlichen Sendegeschehens hatte es die Brisanz von Köhlers Aussagen über den Zusammenhang zwischen Auslandseinsätzen der Bundeswehr und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands schlicht überhört. Es waren die Beobachter unserer Beobachtungen Hörerinnen und Hörer , die uns auf die Widersprüche zwischen den im DLF und dem Schwesterprogramm Deutschlandradio Kultur ausgestrahlten Interviewfassungen sowie deren Dokumentation im Internet aufmerksam machten. Viele der Hörermails, die wir nach den Pfingstfeiertagen in der Redaktion vorfanden, skandalisierten die Äußerungen des Bundespräsidenten. Einige mutmaßten gar, es müsse Absicht oder gar eine politische Intervention hinter den Kürzungen gestanden haben. Nichts von alledem war der Fall.
Deshalb griffen wir das Interview bei nächster Gelegenheit (wegen des Rücktritts von Roland Koch am Dienstag nach Pfingsten war das der folgende Donnerstag) noch einmal auf unserem prominentesten Sendeplatz um 7.15 Uhr auf und stellten es im Gespräch mit dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Ruprecht Polenz, zur Diskussion. Vor dem Interview verlasen wir Auszüge aus den zuvor eingegangenen Hörermails, um die Genese des Themas zu dokumentieren. Wenige Stunden später griffen Nachrichtenagenturen, Spiegel online und andere Medien das Thema auf.
Eine landläufige und gerade in Hörfunkredaktionen gerne verbreitete These besagt, dass sich im Radio vieles versende, was nur in anderen Medien nachhaltig in Erinnerung bleibe.
Die Erfahrung, die wir mit dem Köhler-Interview machten, belegt einmal mehr das Gegenteil: Am Wort orientierte Radioprogramme wie der Deutschlandfunk werden aufmerksam und sensibel beobachtet. Jeder Fehler, den wir machen, fällt auf. Sprachliche Ungenauigkeiten, grammatische Fehler, falsche Aussprachen von Namen werden postwendend moniert. Die Causa Köhler hat uns wieder einmal vor Augen geführt, wie wichtig die Wortmeldungen unserer Hörerinnen und Hörer sind.
Aufgabe für den Nachfolger.
Sowohl ihnen als auch uns war es bei der Diskussion um die Afghanistan-Äußerungen des Bundespräsidenten zunächst vor allem um die Sache selbst gegangen. Der Bundespräsident hatte in dem Interview auf dem Rückweg aus China und Afghanistan eine intensivere Diskussion über Sinn und Ziele von Bundeswehreinsätzen gefordert. Es lohnte sich, diesen Appell ernst zu nehmen.
Der Gesamtzusammenhang der umstrittenen Äußerung Köhlers spricht dafür, dass sich der Bundespräsident bei seinem Hinweis auf wirtschaftliche Interessen keineswegs versprochen oder nur einen einschränkenden Bezug auf die Somalia-Mission nicht deutlich gemacht hat.
Seine Antwort machte vielmehr gerade Sinn auf die Frage, welche Sicherheit Deutschlands am Hindukusch eigentlich verteidigt wird. Es waren nicht die Medien, die eine an der Sache orientierte Diskussion darüber unmöglich gemacht haben. Wer, wenn nicht der Bundespräsident hätte das Thema selbstbewusst weiter verfolgen können? Horst Köhlers Nachfolger sollte es wieder auf die Agenda setzen.
Erschienen in Ausgabe 07+08/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 16 bis 17. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.