?Herr Grill, Herr Arnsperger, derAufsichtsratsvorsitzende von Lidl bezeichnete Sie nach Erscheinen Ihres Artikels öffentlich als „Quertreiber." Hat Sie das verletzt?
Markus Grill: So eine Bezeichnung ist doch ein Lob für jeden kritischen Journalisten.
Wie sind Sie denn zu Quertreibern bei Lidl geworden?
Malte Arnsperger: Es war um Weihnachten 2007, als mich in der Redaktion von Stern.de eine Leser-Mail erreichte. Der Absender behauptete, im Besitz von Überwachungs-Protokollen von Discounter-Mitarbeitern zu sein. Von diesen Informanten-Mails bekommen wir bei stern.de pro Woche durchschnittlich zehn, nicht alle taugen zur als Geschichte. In diesem Fall habe ich geantwortet und mit dem Absender über die Weihnachtstage Kontakt gehalten. Erst haben wir nur gemailt, dann telefoniert.
Grill: Ich glaube, dass viele Informanten nicht wissen, dass es eine Online-Redaktion und davon getrennt eine Print-Redaktion gibt. Die denken zum Beispiel, sie landen beim „stern", wenn sie an „stern.de" mailen. Deshalb melden sich heute viele Hinweisgeber zunächst mal bei den Online-Redaktionen. Umso wichtiger ist es, dass dort gute Kollegen sitzen, die die Relevanz eines Themas erkennen und potenzielle Informanten nicht grundsätzlich abwimmeln.
Wie haben Sie die Fallhöhe des Themas erkannt?
Arnsperger: Ich musste erst mal sichten. Der Informant schickte mir zwei, drei Protokolle. Die habe ich gelesen und zu verstehen versucht, ob es sich wirklich um Bespitzelungen handelte. Dann habe ich mich über das Unternehmen Lidl informiert. Wer steckt dahinter? Ich hatte da bislang nur eingekauft. Die Schwarzbücher Lidl waren dann ein erster Hinweis, dass eine Überwachung zumindest im Rahmen des Möglichen war.
Wie kam es dann zur Kooperation von Print und Online-Redaktion?
Arnsperger: Der Chefredakteur von stern.de hat den Kontakt zu Markus Grill vermittelt, der mit investigativen Geschichten schon viel Erfahrung hatte.
Grill: Es war schnell klar, dass das Thema auch für die Leser des gedruckten „Stern" spannend ist und man es am besten zu zweit angeht. Die Hauptaufgabe bestand darin, die Glaubwürdigkeit des Materials zu klären, es einzuordnen und daraus dann eine sinnvolle Geschichte zu schreiben. Die Quelle hatte uns ja mehr als 500 DIN-A4-Seiten an Protokollen zur Verfügung gestellt.
Wie verifiziert das Material?
Grilll: Für mich war zunächst die Fülle des Materials ein Indiz der Echtheit. Wer Unterlagen fälscht, macht das eher selten über mehrere hundert Seiten. Beim Ratiopharm-Skandal hatte ich rund 4.000 E-Mails als Grundlage. Je mehr Harmlosigkeiten und Banalitäten solche Unterlagen enthalten, desto wahrscheinlicher ist die Echtheit. Es bleibt aber immer eine gewisse Unsicherheit. Ich bin mir bei meinen Recherchen nie zu hundert Prozent sicher, das finde ich aber nicht problematisch, weil die Unsicherheit einen dazu anspornt, immer wieder zu überlegen, ob man nicht doch etwas Entscheidendes übersehen hat. Im Fall Lidl war aber hilfreich, dass schon im Schwarzbuch ein ähnliches Spitzelprotokoll dokumentiert ist, das im gleichen Duktus verfasst war. Das sprach auch für die Echtheit des neuen Materials.
Arnsperger: Und natürlich haben wir den Informanten getroffen, länger als nur einen Tag, damit wir dem mal in die Augen schauen konnten.
Grill: Wir wollten alles wissen, was er weiß.
Warum hat es gut drei Monate gedauert, bis die Geschichte im Heft war?
Grill: So blöd es klingt: Es gab Wichtigeres. Ich musste erst mal in der Schweiz und Liechtenstein Informationen über Heinrich Kieber beschaffen, den BND-Informanten in der Steueraffäre. Außerdem geht bei einer Geschichte wie dem Lidl-Skandal Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
Arnsperger: Ich musste für die Geschichte zwischenzeitlich schon auch kämpfen, schließlich hatte ich noch meinen ganz normalen Dienst bei stern.de zu leisten. Meine Chefs haben mir dann aber auch schnell die Zeit dafür eingeräumt.
Wie hat Lidl reagiert?
Grill: Am Anfang spielten sie toter Mann. Dann verfolgten sie eine unter Konzernen beliebte Strategie: Lidl behauptete, die Bespitzelungen sei eine Überreaktion von Einzelnen in der Vergangenheit gewesen. Diese Strategie habe ich bei den meisten meiner investigativen Geschichten erlebt. Das konnte ich schon auswendig singen: „Einzelfälle aus der Vergangenheit, die aus dem Zusammenhang gerissen sind" Dann merkte Lidl aber: Sie kriegen das Thema nicht tot.
Was hat Lidl gemacht?
Grill: Sie haben sich dann relativ schnell bei Ihren Mitarbeitern entschuldigt, jedem 300 Euro bezahlt und einen Spin-Doktor engagiert.
… also einen Experten für Krisenkommunikation, der die unangenehmen Fragen von Journalisten zerstreut?
Grill: Ja, dessen Strategie war es, bei Kunden und Medien Verständnis für die Überwachungen zu wecken. Der Spin war, die Bespitzelung durch ein legitimes Anliegen, nämlich die Inventurverluste, zu rechtfertigen. Als ehrlicher Kunde könne man das sicher nachvollziehen, versuchte Lidl zu argumentieren. Besonders erfolgreich war diese PR-Strategie allerdings nicht.
Sollte derjenige, der sich´s leisten kann, nicht mehr bei Lidl einkaufen?
Grill: Nein, Überwachungsprotokolle habe ich nach der Geschichte auch von Edeka, Norma, Plus, Minimal, Teegut, Hagebau und anderen erhalten. Lidl ragt lediglich aus der Masse heraus, weil sie so systematisch vorgegangen waren. Bei Lidl sollte man nicht wegen der Bespitzelungen nicht einkaufen, sondern eher wegen ihres Umgangs mit Zulieferern.
Was braucht man, um investigativer Journalist zu werden?
Grill: Der Beruf setzt eine Haltung voraus. Man muss misstrauisch sein. Glaube ich der Pressestelle alles? Wem kann ich trauen? Man hat es ja oft mit professionellen Lügnern zu tun. Auf der anderen Seite sind auch die Informanten oft nicht unbedingt Menschen, mit denen man befreundet sein möchte. Bei vielen handelt es sich um Getriebene, die eine Rechnung offen haben, die Rache nehmen wollen. Ich musste im Lauf der Zeit erst lernen, dass es völlig egal ist, ob mir ein Informant sympathisch ist. Am Ende geht es immer nur um die Sache. Man muss Lust haben, etwas aufzudecken. Eine gewisse Widerborstigkeit und ein bisschen Mut schaden auch nicht. Wer everybody’s darling sein will, eignet sich vielleicht nicht unbedingt zum investigativen Journalisten.
Ihr Kollege Günter Wallraff hat verdeckt in einem Lidl-Zulieferbetrieb gearbeitet. Er versuchte danach, die Bedingungen für seine ehemaligen Kollegen zu verbessern. Wie finden Sie das?
Grill: Ich habe großen Respekt für das, was Wallraff geleistet hat, aber das ist nicht mein Verständnis von der Rolle des Journalisten. Wallraff zieht mit den Mitarbeitern an einem Strang. Er will, dass sich deren Arbeitsbedingungen verbessern. Mir geht es um Aufklärung. Ich will berichten, wie die Arbeitsbedingungen sind, und zwar so schonungslos, klar und deutlich, dass das Unternehmen zum Handeln gezwungen ist. Ich würde mich niemals mit einem Vorstandvorsitzenden an den Tisch setzen und gemeinsam überlegen, wie man Arbeitsbedingungen verbessern kann.
Arnsperger: Ich mag Wallraffs Arbeitsweise grundsätzlich. So aktiv, wie Wallraff danach eingreift, kann ich mir das aber für mich nicht vorstellen.
Welche Sanktionen hat Lidl erlebt? Was hat sich verändert?
Grill: Lidl wurde zum höchsten Bußgeld verurteilt, das je für einen Datenschutzverstoß ausgesprochen wurde.
Arnsperger: Die Geschichte hat Lidl aufgerüttelt. Das Unternehmen hat den Datenschutz jetzt auf der Agenda, hoffe ich. Und Lidl hat wohl auch verstanden, dass sie mit ihren Mitarbeitern anders umgehen müssen.
Würden Sie den Skandal wieder so aufbereiten?
Grill: Im Nachhinein kann man überlegen, ob wir die Geschichte nicht noch hätten erweitern können. Die ganzen Protokolle von Konkurrenzunternehmen, die ich habe, hätten wir vielleicht noch ausführlicher abdrucken sollen. Edeka, Netto, Plus, Norma und die anderen sind ein bisschen billig weggekom
men.
Gibt es aus Ihrer Sicht einen Handlungsbedarf des Gesetzgebers?
Grill Ja, die Sanktionen sind zu gering. Die Höchststrafe für Datenschutzverstöße liegt bei 250.000 Euro. Lidl musste nur deshalb über eine Million bezahlen, weil verschiedene Vertriebsdirektionen bestraft wurden und sich die Summe so addierte. Lidl macht weltweit einen Umsatz von rund 40 Milliarden Euro, da ist eine Million ein Klacks. Allein die Krisen-PR wird Lidl mehr gekostet haben.
Linktipp:
Das ausführliche Gespräch mit Malte Arnsperger und Markus Grill ist abrufbar unter www.mediummagazin.de/Rubrik Magazin+
Erschienen in Ausgabe 01+02/2009 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 24 bis 24 Autor/en: Interview: Jochen Brenner. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.