Als Anfang des Jahrzehnts der Umsatz von Procter & Gamble schrumpfte, weil man zu wenig Ideen für neue Produkte entwickelt hatte, rief das Unternehmen nach Beratern, um das Problem zu analysieren. Was diese vorfanden, war eine Kultur des „Nicht hier erfunden". Stammte eine Idee nicht von P&G-Mitarbeitern, konnte sie nach vorherrschender Meinung kaum die Zeit und den Aufwand wert sein, sie auch zu entwickeln!
Weltweit tappen Zeitungen täglich in genau diese Falle. Der neue Chef von P&G verpflichtete sein Unternehmen zu einer Öffnung für Innovationen. Bis zum Jahr 2010 soll die Hälfte der Produktideen von außerhalb ins Unternehmen getragen werden. Das verlangt auch nach anderen Anforderungsprofilen bei der Suche nach neuen Mitarbeitern: leitenden Angestellten, die extrem gut vernetzt sind – außerhalb des Unternehmens, außerhalb ihrer Branche und außerhalb ihres Heimatlandes. P&G will Mitarbeiter, die Netzwerke außerhalb ihrer Wohlfühlzone aufgebaut haben.
Das norwegische Medienunternehmen Schibsted rief erst kürzlich seine leitenden Mitarbeiter zur Öffnung für Innovationen auf. Jeder von ihnen soll nun 100 Kontakte zu Führungspersönlichkeiten außerhalb von Schibsted, außerhalb der Medienbranche und außerhalb Norwegens aufbauen.
„Die Breite und Vielfalt professioneller Netzwerke schaffen einen klaren, spürbaren und messbaren Wert für Zeitungsunternehmen", sagt Morten Hansen, Professor an der University of California in Berkeley und ehemaliger Professor mit dem Spezialgebiet Unternehmertum an der INSEAD. Tiefgehende Netzwerke seien in Notfällen hilfreich, aber breit angelegte Netzwerke unterstützten den Innovationsprozess.
Die International Newsmedia Marketing Association (INMA) ist ein solches Netzwerk. Mit mehr als 1.100 Mitgliedern in 82 Ländern sammeln wir zum Vorteil unserer Netzwerk-Angehörigen Innovationen in der Zeitungsbranche. Zehn von diesen Best-Practice-Beispielen stellen wir hier vor.
Vorab: Dieses Vorhaben ist an sich schon ein wenig vermessen. Schließlich gibt es 11.207 Tageszeitungen mit einer Auflage von 510 Millionen Exemplaren. Das sind also 11.207 Laboratorien, in denen täglich experimentiert wird – und zwischen denen ein kultureller Vergleich schwer fällt. Zeitungsmanager wollen meistens hundertprozentige Lösungen oder Schablonen, die sie gleich morgen in ihrem Unternehmen auflegen können. Aber so funktioniert Innovation nicht. Innovation verlangt fünfprozentige Lösungsansätze, die man, je nach den lokalen Verhältnissen, durch entsprechende Anwendung zu hundertprozentigen Lösungen führen kann.
Eingedenk dieser Vorbehalte sind hier also 10 Zeitungen, die bei der Vergrößerung ihrer Leserschaft, ihres Anzeigenvolumens, ihres Markennamens und ihrer Profitabilität neue Wege beschreiten.
1. Für Frauen + Männer
„Gazeta Pomorska", Polen:
Die Regionalzeitung "Gazeta Pomorska" wollte am Valentinstag bei Lesern und Anzeigenkunden Aufsehen erregen und produzierte am internationalen Tag der Liebe eine männliche und eine weibliche Version der Zeitung. Es ist tatsächlich so: Männer und Frauen konzipieren ganz unterschiedliche Zeitungen, was die Art der Auswahl von Geschichten, Überschriften und Layouts angeht. Die Zeitung bat sogar ihre Werbekunden darum, männliche und weibliche Versionen ihrer Anzeigen einzureichen.
www.pomorska.pl
2. Unternehmerische Sozialverantwortung
„The Times of India", Indien:
Indische Zeitungen sind für ihre Kampagnen in Sachen „Corporate Social Responsibility", unternehmerische Sozialverantwortung, bekannt. Sie schaffen Gutes für ihre Gemeinschaften und diese guten Taten strahlen auf die Entwicklung ihrer Marken zurück. Die „Times of India" startete im vergangenen Jahr die „Lead India"-Kampagne und ermutigte ganz normale Bürger, die politische Entwicklung des Landes mit voranzutreiben. Die Zeitung entwickelte eine multimediale Kampagne, die verdeutlichte, dass Indien ein „halb volles", und nicht ein „halb leeres" Land ist. Die dahinter liegende Botschaft: Die „Times of India" ist eng mit dem Wachstum und dem Fortschritt des Landes verbunden. Viele Bürger haben sich eingebracht, die „Times of India" gewann dafür einen INMA Award 2008 und den „Grand Prix" beim Cannes Film Festival.
http://timesofindia.indiatimes.com/
3. Quoten für Beiträge
„Las Ultimas Noticias", Chile:
„Las Ultimas Noticias" hat, wie die meisten Tageszeitungen, Schwierigkeiten, die Leistungen ihrer Journalisten zu messen. Wir alle wissen, dass Journalismus so sehr eine Kunstform wie eine Wissenschaft ist. Durch den ständigen Bedarf an neuen Geschichten auf verschiedenen Kanälen wird dieser Beruf weiter verkompliziert. Bei „Las Ultimas Noticias" wurde ein internes, webbasiertes System programmiert, anhand dessen alle Redakteure in Echtzeit sehen können, wie viele Zugriffe ihre Geschichte auf der Website der Zeitung hat. Dieses komplexe System ist auf allen Computerterminals abrufbar; für eine Weile war im Newsroom sogar eine digitale Zähltafel installiert. Eine solche Transparenz führt dazu, dass Journalisten wissen wollen, wie sie ihre Geschichten so aufbauen können, dass sie ihre Leserschaft vergrößern. Die Zeitung lässt ihre Leser sogar mitbestimmen, was am nächsten Tag in der gedruckten Zeitung stehen wird: die Zahl der Zugriffe entscheidet da- rüber.
http://www.lun.com/
4. Neue Leserschichten
„The Daily Sun", Südafrika:
Vor fünf Jahren besuchte ich die großen südafrikanischen Verlagshäuser. Die begriffen damals gerade, dass ihr Schicksal direkt von der aufstrebenden schwarzen Bevölkerung abhängt, aus Soweto oder vergleichbaren Communities. Das sind Konsumenten, von denen die meisten zum ersten Mal in ihrem Leben Häuser, Kreditkarten und Geld besitzen. Aber die meisten Verleger dachten damals noch, dass sich diese schwarze Mittelklasse in etwa drei bis fünf Jahren entwickeln würde, und diesem Zeitplan entsprechend trafen sie ihre Vorbereitungen. Alle außer „Media24", das den ambitionierten Plan eines weißen Chef- redakteurs förderte, eine südafrikanische Version von „Bild" oder „Sun" zu entwickeln. Sie nannten die Zeitung „The Daily Sun" und brachten sie 2002 auf den Markt. Innerhalb von drei Jahren rauschte dieses Boulevardblatt, das mit kurzen Stories, Karten, Infografiken und Aufmachern wie „Voodoo-Heilmittel gegen Impotenz" nach Aufmerksamkeit schreit, von null auf 500.000 täglich verkaufte Exemplare. 75 Prozent der Leser hatten zuvor noch nie eine Tageszeitung gelesen. „Media 24" und die „Daily Sun" schnappten sich also einen Markt, den jeder sah, den aber niemand in Angriff nahm, und veränderten so den gesamten Zeitungsmarkt. Die „Daily Sun" ist heute Nummer eins unter den südafrikanischen Zeitungen.
http://www.media24.com/generic.aspx?i_BusinessUnitID=3&lang=Eng&i_CategoryID=5, www.dailysun.co.za
5. Vom Abonnement zum VIP-Mitglied
„Financial Times", Großbritannien: Einige wenige innovative Verleger entwickeln das Modell von Abonnements weiter zu einer Mitgliedschaft bei einer Zeitung. Beispielsweise startete die „Financial Times" erst kürzlich das „Media and Technology Executive Membership Forum". Für 1.700 Pfund im Jahr können sich Führungspersönlichkeiten in einem Online-Forum vernetzen, sie können sich persönlich auf exklusiven Netzwerktreffen verabreden, sie bekommen freien Eintritt zu mindestens einer „FT"-Veranstaltung im Jahr und Rabatte für andere Events, und sie erhalten ein Premium-Abonnement für die Website FT.com.
http://www.ft.com/home/uk
6. Mobiler Full-Service
„Dagens Nyheter", Schweden:
„Dagens Nyheter" hat bereits 2007 in einer Weltpremiere das erste Mobiltelefon einer Zeitungsmarke auf den Markt gebracht. In Zusammenarbeit mit Nokia und Telenor können Abonnenten von „Dagens Nyhete
r" auf der DN.no-Website ein Nokia-Handy kaufen und sich für den Telenor-Service anmelden. Dafür bekommen sie freien Zugang zu Nachrichten, Wetterberichten, Sport und Blogs. „Dagens Nyheter" macht mit diesem Angebot nicht nur Umsatz, man erleichtert auch den mobilen Zugang zu Nachrichten.
www.dn.se
7. Neue Plattformen
„The Dallas Morning News", USA:
Der Verlag der "Dallas Morning News", die eine Auflage von 410.000 Exemplaren hat, sieht Werbung in einer Phase der Veränderung, sowohl strukturell wie zyklisch. Eine der großen He- rausforderungen ist der im Vergleich zu Mitbewerbern hohe Tausenderkontaktpreis (TKP) der Zeitung. Um das zu ändern, startete die „Dallas Morning News" eine schnell zu lesende Zeitung mit dem Titel „Briefing" („Instruktionen"), die nur aus einem Zeitungsbuch besteht und gratis an 200.000 Haushalte verteilt wird, die nicht Abonnenten der „Morning News" sind. Zielgruppe sind Familien mit Kindern, knapp bemessener Zeit und einem Haushaltseinkommen über 75.000 Dollar im Jahr. Indem man Werbekunden Buchungen sowohl in „Dallas Morning News" wie „Briefing" anbietet, gelingt ein geringfügiges Upselling, während gleichzeitig die Reichweite um fast 50 Prozent steigt. Der TKP sinkt entsprechend und ermöglicht so wettbewerbsfähige Angebote.
http://www.dallasnews.com/
8. Kundenbindungsprogramm
„Asahi Shimbun", Japan:
Das japanische Vertriebssystem für Zeitungen ist Segen und Fluch zugleich. Fast das gesamte vergangene Jahrhundert haben Verlage ihren Vertrieb an Unternehmen übertragen, die Zeitungen in die kleinsten und entlegensten Wohnungen des Landes liefern können. Auflagenrückgänge fielen darum in Japan geringer aus als in westlichen Ländern. Aber Zeitungen kennen ihre Leser nicht; nur die Vertriebsunternehmen verfügen über dieses Wissen. Die 11 Millionen Auflage schwere „Asahi Shimbun" hat nun ein webbasiertes Kundenbindungsprogramm entwickelt, mittels dessen man die Namen der Leser ermitteln und deren Lesegewohnheiten man im Print (zu Hause), auf mobilen Endgeräten (auf dem Weg ins Büro) und im Internet (im Büro) verfolgen will. Auf diesem Wege will der Verlag herausfinden, wie viele ihrer Leser über verschiedene Plattformen hinweg „Asahi Shimbun" nutzen.
http://www.asahi.com
9. Die Zeitung im TV-Quiz
„Alghad", Jordanien:
Als "Alghad"-Manager nach Wegen suchten, neue Zielgruppen für die Zeitung zu gewinnen, ließen sie ein Fernsehquiz entwickeln. Bei dem sollte man Preise gewinnen können, wenn man sich gut in der Zeitung auskennt. Das Ergebnis war die TV-Show „Haben Sie Ihr Auge auf, Alghad‘ und Ihre Hand am Telefon". „Alghad" sicherte sich ein Zeitfenster in einem TV-Programm, der über einen Split der Erlöse der Sendung finanziert wird. Die Show, die live über den Sender geht, hat fünf Teile: Fragen zu den sieben Ressorts der Zeitung, Karikaturen, tägliche SMS-Fragen, Vorteile für Abonnenten und ein SMS-Spiel, bei dem ein Teilnehmer per Zufall ermittelt wird, der live um eine Geldsumme spielen darf. Die Verkäufe von Abos und im Einzelverkauf stiegen darauf, die Zeitung bekam seither mehr als 175.000 SMS-Nachrichten, es wurde mehr Werbung geschaltet und die TV-Show ist eine der populärsten Prime-Time-Sendungen in Jordanien.
http://www.alghad.jo/
10. Innovations-Mitarbeiterprogramm
„The Globe and Mail, Kanada:
Innovation ist ein Prozess, kein Ziel an sich. Kanadas führende Tageszeitung, „The Globe and Mail" hat ein internes Programm namens „Reimagination" („Neuerfindung") gestartet. Ursprünglich hatte Chefredakteur Edward Greenspon das Programm vor vier Jahren aus der Taufe gehoben, um einige Dutzend Führungskräfte aus verschiedenen Abteilungen in die Weiterentwicklung des Verlags einzubeziehen. Unerwartet meldeten sich mehrere Hundert Freiwillige für das Programm – so viele, dass „The Globe and Mail" eigens einen Mitarbeiter für die Koordination abstellte und einen großen, nur für das Programm reservierten Raum einrichtete. Damit hat die Zeitung nicht nur einen konstanten Evaluationsprozess angestoßen, mit dessen Hilfe man beispielsweise eine mögliche Formatänderung überprüfen kann. Es gelingt ihr auch, Führungskräfte aus ihren senkrechten Silos herauszuholen und sie zu bewegen, auf horizontaler Ebene miteinander an Projekten zu arbeiten.
www.theglobandmail.com
Innovationen gibt es also überall. Mit noch mehr Platz könnten hier noch mehr Beispiele stehen:
> Das modulare Werbesystem des „Toronto Star" in Kanada,
> die ungewöhnlichen Anzeigenformate der brasilianischen „Folha de S. Paulo",
> die Entwicklung eines profitablen Magazins bei „Aftenposten" in Norwegen mit nur zwei Mitarbeitern,
> das Fortbildungsprogramm der indonesischen „Jawa Pos",
> das Rubrikenanzeigen-Modell der amerikanischen „Spokesman-Review",
> die Entwicklung von Umsatz-generierenden Videos auf dem Immobilienportal der Londoner „Times",
> das Experiment der französischen „Ouest-France" mit dem Vertrieb von On-Demand-Rubrikenanzeigenseiten im Einzelhandel und so weiter.
Und ja, es gibt auch in Deutschland Innovationen. Zum Beispiel hat die „Hessisch-Niedersächsische Allgemeine" ihre Abonnenten- und Anzeigendatenbanken zusammengeführt. Das Call-Center der Zeitung kann Anrufer nun mit ganz anderen Mitteln aus einer breiteren Perspektive betrachten. Für Abonnenten, die eine Rubrikenanzeige schalten wollen, gibt es ein Upgrade: die Anzeige wird kostenlos gelb hervorgehoben. Abonnenten werden somit belohnt, und Anzeigenkunden, die noch nicht Abonnenten sind, bekommen einen Anreiz, es zu werden.
Wir von der INMA glauben an die Zukunft von Tageszeitungen – wenn Verleger altmodische Prinzipien über Bord werfen, ihre Kokons aufbrechen und sich der Innovation und dem Netzwerken öffnen.
Erschienen in Ausgabe 12/2008 in der Rubrik „Special“ auf Seite 58 bis 63 Autor/en: Earl Wilkinson. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.