Die Stimme der Autorin, des Autors, ist für einen erzählenden Text unverzichtbar. Sie wirbt um Vertrauen, gibt ein Versprechen und löst es ein. Unausgesprochen sagt sie „Ich habe etwas erlebt, das wert ist, erzählt zu werden. Schenk‘ mir deine Zeit, und du bekommst eine Geschichte.“ Die Präsenz der Erzählerin beginnt im ersten Satz und endet mit dem letzten.
Magische Einstiegsformel. Die Stimme kann intensiv und beschwörend sein. Sie kann uns ansprechen, wie Erzähler das seit Jahrhunderten tun: „Dies ist eine Geschichte, an der man verzweifeln muss“. Oder „Diese Geschichte geht eigentlich nicht.“
Sie kann ohne Vorrede steil ins Thema einsteigen:
„Staubsauger also. Noch so eine Sache, die man bisher unterschätzt hatte. Aber das ist nun vorbei.“
Eine Art Selbstgespräch, der den Standpunkt des Erzählers und den Bogen der Geschichte in 16 Worten verdichtet. Ganz bestimmt wird Marcus Jauer im Lauf der Geschichte entfalten, wie seine Heldenreise verlaufen ist, wie er sich von einem Staubsauger-Unterschätzer zu einem Staubsauger-Respektierer gewandelt hat. Er stellt sich vor als unser Gewährsmann. Dazu braucht er kein „ich“.
Ein anderer Autor steigt ein mit einen Rätsel:
„Am Anfang klang es wie ein Scherz, doch langsam wird es gespenstisch“.
Auch hier tritt uns sofort „jemand“ entgegen. Und zwar, indem er seine Wahrnehmung mitteilt. So winkt er uns zu sich heran.
Walter Benjamin sagt deshalb: „Wer einer Geschichte zuhört, der ist in der Gesellschaft des Erzählers; selbst wer liest, hat an dieser Gesellschaft teil.“
Der Erzähler kann auch seinen Blick schweifen lassen. Er kann ganz Auge sein. Dann animiert uns das Auge des Erzählers, einzusteigen – oder das Auge der Kamera.
„Joe Kissack schiebt die Moskitotür auf, tritt auf den Balkon. Die Balkons in dem Hotel sind winzig, doch sie gehen wenigstens aufs Meer hinaus. Sturm ist aufgekommen, der Wind biegt die Palmen, Wolken jagen über den Nachthimmel, trotzdem ist es heiß hier in San Blas.“
Der „Me-too“-Effekt. Die Erzählerin will Gesellschaft, Gemeinschaft herstellen. Sie tut das, indem sie Ereignisse und Szenen so griffig beschreibt, dass Leser unmittelbar ein Bild vor Augen haben. Oder eine Empfindung. Besonders wirksam ist das Gefühl: Das kenne ich ja! Genauso ist das auch bei mir! Stefan Ulrich fährt mit uns an den Strand von Den Haag. „Dort läuft der Schweizer Staatsanwalt jenen schmalen, feuchten Streifen zwischen Meer und Land entlang, wo der Fuß beim Joggen weder von Wellen erfasst wird noch im trockenen Sand versinkt.“ Die Suche nach diesem schmalen Streifen kennen wir alle. Wir wollen auch nicht einsinken beim Strandlauf. Unsere Erinnerung an den eigenen sinnlichen Eindruck geht in das Leseerlebnis ein. Die eigene Erfahrung verbindet sich mit dem, was uns neu erzählt wird. Das macht die Geschichte glaubhaft. Die Kunst, die emotionale Anteilnahme der Leser zu erzeugen, hat wesentlich zu tun mit dem Gespür für solche bezeichnenden Alltagserfahrungen.
Ich oder nicht ich. Die Präsenz des Erzählers hängt nicht am Ich-Sagen. Sie stellt sich ein, wenn seine oder ihre Wahrnehmungen und Deutungen Lesern nahe kommen. „Ich“ ist dann am Platz, wenn der Autor einen Selbstversuch macht. Zum Beispiel mit dem Klavier lernen im Internet:
„Mein Klavierlehrer heißt Volker Kunz. … Mit der Videokamera muss ich nun meine Hände beim Spielen filmen.“
Oder wenn der Werdegang des Autors seine Kompetenz und die ungewöhnliche Perspektive begründen.
„Und wieder macht ein deutsches Traditionsunternehmen dicht, diesmal die Nürnberger AEG, und das geht mir besonders nahe, denn mit der AEG bin ich aufgewachsen.“
Der Autor hat in den 60er Jahren in Lauf bei Nürnberg Physiklaborant gelernt und später als Redakteur der Zeitschrift „highTech“ über Halbleiter und Mikroprozessoren geschrieben. Aus diesem beruflichen Hintergrund beschreibt er, wie Politik und Wirtschaft die Entwicklung der Mikroelektronik verschlafen haben.
Deuten, Räsonieren. Aussprechen. Ein Mittel, ein Bündnis zwischen Text und Leser herzustellen, ist das Räsonieren über Gesehenes und Erlebtes.
„Für die selbstverständlichen Dinge interessiert man sich ja immer erst, wenn sie nicht mehr selbstverständlich sind.“
Der Autor denkt schreibend vor sich hin. Und wenn er seine persönlichen Gedanken oder Gedankensplitter verständlich und nachvollziehbar beschreibt, reizt uns das – und versetzt uns in die Lage – eigene Schlüsse zu ziehen. Stimmen wir zu? Oder sehen wir es anders?
Horst Gebbers, der deutsche Landwirt, ist, so deutet der Erzähler, ein Gefangener seiner eigenen Biografie. Er schreibt aber nicht: Gebbers ist ein Gefangener seiner Biografie. Er schreibt:
„Manche Lebensläufe haben zwar Kraft und langen Atem, aber sie nehmen auch Gefangene.“
Damit bezieht er deutlich Stellung. Und er formuliert so allgemein, dass er für die Position der Leser eine Leerstelle freihält. Einen Raum für eigene Gedanken.
Erschienen in Ausgabe 11/2007 in der Rubrik „Storytelling“ auf Seite 20 bis 21. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.