Wenn Andreas Weigend, Ex-Chefwissenschaftler von Amazon.de und globaler Handlungsreisender in Sachen Web 2.0, auf seinen Vorträgen von Netzwerk-Portalen im Internet spricht, dann gerät er regelrecht ins Schwärmen. „Social discovery sites ermöglichen ganz neue Entdeckungen. Ich kann Bookmarks und Kontakte austauschen und erfahren, welche Pfade andere Leute mit ähnlichen Interessen wie ich durch das Internet zurückgelegt haben.“ Für Journalisten stellt sich allerdings die Frage, ob man zwischen all den Links, Tags, Mails und Feeds auch beruflich relevante Dinge entdeckt – beispielsweise Kontakte zu Experten und potenziellen Auftraggebern oder Auftragnehmern. Und was taugen solche Netzwerke für die journalistische Themenrecherche?
Stichwortsuche. Unter den social bookmarking-Seiten ragt „del.icio.us“ heraus, weil Privates und Unterhaltsames hier nicht im Vordergrund stehen. Viele „del.icio.us“-Nutzer interessieren sich für netzaffine Themen. Die Plattform bietet die Möglichkeit, Bookmarkverzeichnisse online anzulegen und vorhandene Verzeichnisse zu importieren, sodass man sie von jedem beliebigen Rechner aus nutzen kann. Über Filter kann man Sprachen festlegen und welche Bookmarks öffentlich oder privat sein sollen. Durch die Kennzeichnung eigener Bookmarks mit Stichworten („tags“) erhält man in wenigen Tagen Zugriff auf ein riesiges Potenzial von Lesezeichen, die andere unter den gleichen Stichwörtern öffentlich abgelegt haben. Dabei empfiehlt es sich, die Begriffe möglichst eng zu fassen, da sonst der Datenwust schnell unüberschaubar wird. Praktisch ist die Funktion „post to del.icio.us“, die in der Kopfleiste aller gängiger Browser installiert werden kann und per Mausklick eine Internetseite zur Online-Bookmarkliste hinzufügt. Nachteil: Es gibt in Ermangelung deutschsprachiger Nutzer nur wenige deutsche Links in der gemeinsamen Sammlung. Dieses Manko gleicht die ähnlich strukturierte deutsche Netzplattform „Mister Wong“ aus, die allerdings kleiner ist und unterhaltungsorientierter ist.
Mit acht Millionen Mitgliedern ist LinkedIn das weltweit größte Business-Netzwerk, doch deutschsprachige Journalisten werden in puncto Kontaktpflege eher bei der mittlerweile börsennotierten Plattform „Xing“ (ehemals „openBC“) fündig. Bei dem 2003 gegründeten Netzwerk fahnden inzwischen 1,5 Millionen Mitglieder nach Kontakten, Kunden, Infos und Ideen. „Xing“ funktioniert wie eine strukturierte Sammlung schwarzer Bretter, Fragen und Antworten sind für alle Mitglieder lesbar. Manche Bereiche sind frei zugänglich, Zugriff auf Kontaktdaten erhält allerdings nur, wer sich beim kostenpflichtigen Premium-Dienst für 5,95 Euro monatlich anmeldet. Foren (die sich bei „Xing“ Gruppen nennen) wie „Existenzgründer und Selbstständige“ haben über 23.000 Mitglieder, 20 Themenbereiche und 3000 Archivbeiträge. Der „Freiberufler Projektmarkt“ zählt sogar 30.000 Mitglieder und 13.000 Beiträge. In den letzen Wochen wurden unter anderem freie Autoren für ein Wirtschaftsmagazin, Autoren und Fotografen für ein Funsportmagazin und ein Texter für einen Dialog-und Direktmarketing-Newsletter gesucht. Selten bleiben Angebote unbeachtet, mitunter gibt es nicht nur Selbstbewerbungen, sondern auch Kollegen-Empfehlungen mit Link auf deren Kontaktseite. Nützlich ist der „Aktivitätsindex“, der jedem Mitglied zugeordnet wird. So erkennt man auf einen Blick, ob der gewünschte Kontakt jemand ist, der rege über die Plattform kommuniziert oder nur gelegentlich vorbeischaut.
Kontakte. Ob „Xing“ zur Recherche taugt, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Eine Umfrage unter dort registrierten Journalisten für diesen Beitrag lieferte – erwartungsgemäß – in kürzester Zeit jede Menge Antworten. Für andersgeartete Fragestellungen taugt die Plattform offenbar weniger. Die freie Journalistin Geraldine Friedrich stellte kürzlich Anfragen an sieben Mitglieder und erhielt nur zwei Antworten „mit dem Hinweis, dass sie keine näheren Auskünfte geben wollen. Allerdings handelte es sich dabei um Steuerberater und die sind wohl im Umgang mit Medien konservativ bis zugeknöpft.“
Till Mansmann, Chef vom Dienst des „Steuerberater Magazin“, betont dagegen: „Oft geht es ja nur darum, die eine oder andere Stimme einzufangen, ein oder zwei Sätze von jemandem zu bekommen, der sich in einem Thema auskennt. Ich schreibe meistens über Wirtschaft, und gerade über ,Xing‘ kann ich gezielt Geschäftsführer oder andere Verantwortliche aus Unternehmen aller Branchen ausfindig machen, ohne immer die gleichen Leute fragen zu müssen.“ Außerdem funktioniere es manchmal „besser und schneller“ sich über die Plattform nach dem richtigen Ansprechpartner in einem Unternehmen zu erkundigen, als sich über die Telefonzentrale durchzufragen. „Man gehört einem gemeinsamen Netzwerk an. Da muss man viel weniger erklären, man tritt eher als Interessenpartner denn als Bittsteller auf“, findet Mansmann. Dagegen ist Wissenschaftsjournalist Niels Boeing „noch gar nicht auf die Idee gekommen, bei Xing zu recherchieren“, weil sich bislang wenig Wissenschaftler und Techniker eingetragen haben. „Dass ich dort Mitglied bin, liegt nur an Einladungen von Bekannten, als das Netzwerk neu war.“ Das neue Forum zur Nano-und Mikrotechnik könnte für ihn interessant werden, glaubt Boeing, aber „generell nervt mich diese Web 2.0-Sache mehr, als dass sie begeistert, weil sie einfach zu viel Zeit verlangt, um Daten zu organisieren und sich zurecht zu finden.“
Dieses Problem gibt es bei „illumio“ nicht, weil ein Filter nur für den Befragten relevante Anfragen durchlässt. „illumio“ ist nur auf Windows-PCs nutzbar. Eine Suchmaschine, die zuvor auf dem eigenen Rechner installiert werden muss, durchkämmt sämtliche Dateien auf den Festplatten aller „illumio“-Mitglieder auf relevante Stichworte hin, ohne dass der Einzelne davon etwas mitbekommt und auch ohne dass – so behaupten jedenfalls die Macher von „illumio“ – jemand von außen Zugriff auf die Daten erhält. Die PC-Besitzer, auf denen die Suchmaschine fündig wird, werden benachrichtigt und können dann selbst entscheiden, ob sie die Anfrage beantworten. Die Idee besticht, doch ob man das Sicherheitsrisiko eingehen will, die eigene Festplatte derart weit zu öffnen, muss jeder selbst entscheiden.
Recherchebörse. Das von vier Berliner Journalisten gestartete Protagonisten-Rechercheportal „Cleverpress“ ist eine Art eBay von und für Journalisten. Freie Journalisten erhalten im Jahresabo für sechs Euro monatlich die Daten von bis zu zehn gewünschten Kontakten aus einer Basisdatenbank mit vorerst 550 medieninteressierten Experten, Betroffenen und an Selbstdarstellung interessierten Personen. Mit Intensivnutzern und Unternehmen handeln die Macher auf Anfrage Konditionen aus. Bis Mitte Februar hatten nach „Cleverpress“-Angaben rund 140 Journalisten den Dienst abonniert. Künftig soll auch eine Börse für journalistische Inhalte aufgebaut werden. Journalisten sollen ihre nicht mehr oder doch nicht genutzten Recherchen und Kontakte zu frei aushandelbaren Preisen untereinander vermarkten, ein Bewertungssystem dient der Qualitätskontrolle. „Die Idee ist aus der täglichen journalistischen Arbeit heraus entstanden“, sagt Mitgründer Martin Rost. Im Internet gebe es zwar jede Menge Rechercheseiten, „aber noch keine, die presserelevante Personen nach Themen sortiert anbietet.“ „Cleverpress“ will diese Lücke schließen.
Linktipp:
Social bookmarking sites:
http://del.icio.us
http://digg.com
www.mister-wong.de
http://iq.lycos.de/
http://de.myweb2.search.yahoo.com
Social networking sites:
http://beta.plazes.com
www.facebook.com
www.illumio.com
www.xing.com
www.linkedin.com
www.cleverpress.de
Erschienen in Ausgabe 3/2007 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 36 bis 37 Autor/en: Ulrike Langer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bit
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