„Kinderschänder, für euch eröffnen wir wieder Mauthausen!“ Im Februar 2010 schockierte eine Facebook-Gruppe mit eben jener grausigen Botschaft im Namen die Öffentlichkeit. Eine Mischung aus Hass, Verhetzung und Wiederbetätigung hatte sich plötzlich mit einer Heftigkeit im virtuellen Raum entladen, mit der niemand gerechnet hatte: Mehr als 13.000 Facebook-Nutzer hatten sich im Halböffentlichen als „Fans“ der Gruppe zu erkennen gegeben. War das die von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg oft beschworene Transparenz, die sein Online-Netzwerk schaffen sollte? Hatte eine Webseite plötzlich jene unterdrückten Hassgefühle und jenen latenten Rechtsextremismus sichtbar gemacht, die sonst so schwer greifbar sind, die aber viele im Alltag spüren?
Für Journalisten stellte der Fall ein Optimum dar. Man bekam auf Knopfdruck Fakten zu einem mehr als kontroversen Thema präsentiert, an die man sonst nur sehr schwer oder gar nicht gekommen wäre. Zahlen, Namen, Gesichter, Statements, alles war bequem am Computer-Bildschirm abrufbar. Spätestens jetzt wurde klar: Recherche bei Facebook lohnt sich, egal, ob man etwas zum Thema Rauchverbot, Barbara Rosenkranz oder HC Strache brauchte. Menschen und ihre Meinungen zu den verschiedensten Themen liegen mit Facebook nur mehr ein paar Mausklicks entfernt.
Der „Medien-Trendmonitor 2010“ bestätigt, was man bereits ahnt: Die Befragung von etwa 2.700 Journalisten zeigte, dass mehr als 50 Prozent der deutschsprachigen Redakteure und freien Journalisten bei der redaktionellen Arbeit auf Informationen aus Social-Media-Angeboten setzen. 55 Prozent attestieren Facebook, Twitter und Youtube „hohe“ oder „sehr hohe Relevanz“ für ihre Arbeit, 73 Prozent sind es gar bei der nächsten Journalisten-Generation, den Volontären. Was aber viele vergessen: Das Social Web, das Avatare und Nicknames durch echte Bilder und reale Namen ersetzt hat, ist mit Vorsicht zu genießen. In der Schweiz sind zwei Drittel, in Österreich drei Viertel und in Deutschland gar sieben Achtel der Bevölkerung nicht bei Facebook registriert und trotzdem werden Meinungsäußerungen und Bewegungen in dem Online-Netzwerk ein überhohes Maß an Relevanz zugesprochen. Dass Facebook die Welt repräsentieren würde, wie Mark Zuckerbergs Schwester Randi einmal in einem Interview zu mir meinte, davon ist die Webseite noch weit entfernt. Was übrigens eine brandneue Studie der Social-Media-Agentur Ambuzzador ebenfalls verdeutlicht: Ihr zufolge benutzen immer noch zehn Prozent der Mitglieder falsche Identitäten, wenn sie sich bei Facebook einloggen. Von einem Abbild der echten Welt sollte man lieber nicht ausgehen, wie es offensichtlich einige österreichische Redakteure taten, als sie im Zuge des Vermisstenfalls Kührer aufgrund einer Namensgleichheit die Falschen verdächtigten und, ohne nachzudenken, einfach deren Profilbilder veröffentlichten. Deswegen – und aus vielen anderen Gründen – werden, wie es bereits bei der „Washington Post“, der „New York Times“ oder der BBC der Fall ist, Social-Media-Regeln in den Arbeitsalltag Einzug halten. Sie müssen klären, wie man in einem von den Nutzern oft als „privat“ angesehenen Raum als jemand agiert, der Öffentlichkeit schafft, aber auch interne Richtlinien geben: Soll man als Redakteur seine Meinung in Status-Meldungen wiedergeben dürfen, ist es erlaubt, „Fan“ einer Facebook-Gruppe zu werden, oder sollte man sich mit seinen Informanten und Interview-Partnern befreunden? Bei der „Washington Post“, wo der redaktionelle Umgang mit Social Media besonders strikt geregelt ist, wurde etwa verboten, „etwas zu schreiben, das Voreingenommenheiten und Vorlieben widerspiegelt, die an der Glaubwürdigkeit der, Post‘ kratzen könnten“.
Verführer Facebook
Die Daten, die Facebook über Menschen und ihre Aktivitäten gesammelt hat, sind also besonders für Journalisten reizvoll. Das Online-Netzwerk mit offiziell 500 Millionen Mitgliedern ist für die Branche aber auch aus einem anderen Grund verführerisch: Es liefert Online-Medien die heiß begehrten Zugriffe, ohne die es aus publizistischen und kommerziellen Gründen nicht geht. Paradebeispiel ist etwa die Web-Übertragung von Barack Obamas Amtseinführung auf cnn.com, wo die Möglichkeit, neben dem Video via Facebook eine eigene Meldung zu posten, 8.500 Mal pro Minute genutzt wurde. Auch die „New York Times“ kann ein Lied von den Wohltaten der Community singen, sonst würde sie nicht Kampagnen fahren, die allein die Gewinnung von neuen Facebook-Fans zum Ziel haben. Die Facebook-Abhängigkeit weiter Teile der Medienlandschaft hat mit dem sogenannten Like-Button ein niedliches Symbol bekommen. In seiner Machart ist er so simpel wie genial: Fremde Webseiten können das kleine blaue Daumen-Symbol neben Inhalten wie Bildern, Videos und Texten einbetten. Wenn nun ein Facebook-Mitglied auf die Webseite kommt und ihm gefällt, was er präsentiert bekommt, kann er auf den „Gefällt mir“-Knopf klicken und so seinem Gefallen Ausdruck verleihen: Er wird fortan anderen Besuchern mit Bildchen und Namen als jemand präsentiert, dem Foto, Text oder Video zugesagt hat. „Der Like-Button ist letztendlich Mundpropaganda“, sagte Scott Woods, Facebook-Chef der DACH-Region, kürzlich in einem Gespräch zu mir. Damit trifft er den Nagel auf den Kopf: Denn mit dem Betätigen des Like-Buttons werden sowohl alle Facebook-Freunde als auch andere Besucher der Webseite darüber informiert, was jemandem gefallen hat. Dann ist die Chance sehr groß, dass die Empfänger der Botschaft ebenfalls die Seite besuchen – immerhin hat sie ein Freund empfohlen. Der Like-Button soll bei ABC News für 190 Prozent mehr Besuche, bei Gawker, einem der wichtigsten Blog-Netzwerke, für 200 Prozent mehr Visits gesorgt haben. Auch nhl.com wird als leuchtendes Beispiel angeführt, wo 92 Prozent mehr Artikel gelesen und 86 Prozent mehr Videos konsumiert wurden. Noch mehr Statistik gefällig? Wie die Blogger von Inside Facebook wissen wollen, sollen die Facebook-„Liker“ um 5,4 Mal eher einen Link zu einer externen Webseite anklicken als Nicht-„Liker“.
Medien werden nicht nur in den USA parallel zum anhaltenden Wachstum von Facebook immer häufiger der Versuchung erliegen, Funktionen des Online-Netzwerks zu integrieren. Damit stehen sie aber vor einem neuen Problem: Facebook ist hochgradig personalisiert. Keine andere Webseite ist dermaßen auf die Person des Nutzers zugeschnitten wie das Online-Netzwerk, kein Nutzer bekommt das Gleiche zu sehen wie die anderen. Kern dieser Personalisierung ist der „News Feed“, die mittlere Spalte in jedem Profil, in dem Neuigkeiten angezeigt werden: Susi hat ein Foto hochgeladen, Paul ist jetzt mit Anita befreundet, Johann empfiehlt diesen Artikel zur Lektüre. Doch beileibe nicht alle Aktivitäten aller Kontakte werden im „News Feed“ angezeigt, denn er wird nach geheimen Regeln gefiltert. Ein einmonatiges Experiment der Blogger von „The Daily Beast“ zeigte dieses Regelwerk in groben Zügen auf: Links sind mehr wert als Status-Updates, Fotos und Videos werden stärker gewichtet als Links, gepostete Inhalte, die kommentiert wurden, werden als wichtiger eingestuft. Über all diesen Regeln legt sich zusätzlich der mächtigste Filter: der eigene Online-Freundeskreis. „Ein Eichhörnchen, das vor deiner Haustür stirbt, könnte für dich von größerem Interesse sein als die Tatsache, dass gerade Leute in Afrika sterben“, sagte Zuckerberg über die Filtermechanismen des „News Feed“ zu Buchautor David Kirkpatrick. Damit unterliegen Medien und ihre Inhalte, die bei Facebook kursieren, Gesetzen, die kaum durchschaubar sind, und poppen erst vor den Augen der Nutzer auf, wenn sie undurchsichtige Kriterien erfüllen.
Medien gegen Facebook
Zusätzlich müssen Medien bei Facebook mit einer neuen Art von Inf
ormation direkt konkurrieren: User Generated Content. „Auf Facebook lassen sich bequem Stunden mit Small Talk, Selbstbeschreibung und der Beobachtung anderer Profile verbringen, ohne sich in komplexere Themenbereiche einarbeiten oder in die Offline-Öffentlichkeit treten zu müssen“, attestiert der Soziologe Jan-Felix Schrape von der Universität Stuttgart. „Im Gegensatz zur Rezeption massenmedialer Angebote entsteht bei den Nutzern solcher Plattformen noch nicht einmal ein Gefühl der Passivität, denn sie sind ja aktiver Teil dieses kastrierten digitalen Abziehbilds gesellschaftlichen Lebens.“
267 Millionen Stunden verbringen Facebook-Nutzer laut den Statistikern von Datacenter Knowledge pro Tag in dem Online-Netzwerk – jeder einzelne also etwa 40 Minuten. Wie Online-Medien diese Zeit – und wer ist heute nicht auch ein Online-Medium? – wieder zurückgewinnen können, wird die Branche in den kommenden Jahren intensiv beschäftigen.
Lektüretipp
Jakob Steinschaden, „Phänomen Facebook. Wie eine Webseite unser Leben auf den Kopf stellt.“, Ueberreuter (Oktober 2010), 207 Seiten, 19,95 Euro.
Erschienen in Ausgabe 01+02/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 38 bis 39 Autor/en: Jakob Steinschaden. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.