Wie viel „Ich“ verträgt der Qualitätsjournalismus? Eitelkeit und Geschwätzigkeit sind die Gefahren, wenn der Autor zu offensichtlich sich selbst zum Maß der Dinge macht.
Seit Jahren, zuerst beim „Spiegel“, jetzt als Autorin für „Die Zeit“, zeigt Carolin Emcke, wie es anders geht. Wie es möglich ist, das „Ich“ nicht zur eitlen Selbstüberhöhung zu nutzen, sondern im Gegenteil aus Bescheidenheit zu verwenden. Sie will nicht behaupten, allgültiges Wissen zu beschreiben, sondern weiß, dass sie über ihren subjektiven Eindruck nicht hinausreicht. Angst, an Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn sie sich als subjektive Beobachterin präsentiert, hat Emcke nicht. Sie will und sie kann sich dieses „Ich“ leisten, weil sie nicht aus dem Hotelzimmer berichtet, sich nicht einbettet in den beschränkenden Schutz der Armee oder der sicheren Telefonrecherche. Sie geht raus, geht rein in Kriegsgebiete, in die Gefahr, die Not, das Elend: „Only those with muddy boots really ever get the truth.“ Als ich diese Zeilen schrieb, kurz vor Weihnachten, war die 43-Jährige gerade in Haiti unterwegs.
Carolin Emcke ist Philosophin.
Zuerst – und zuletzt, wie sie sagt. Das bedeutet, dass ihre Arbeit für sie immer auch die öffentliche Intervention einer politischen Intellektuellen sein will, ganz gemäß ihrer Sozialisation in der kritischen Theorie der „Frankfurter Schule“. Dieses Eingreifen geschieht bei der Publizistin nicht nur im Schreiben. Sie spricht, hält Vorträge und moderiert Veranstaltungen, die allesamt mit ihrem dominierenden Lebensthema verwoben scheinen: Wie kann es eine Verständigung unter eigentlich unmöglichen Umständen geben?
Manche Dinge sind dabei für Emcke nicht verhandelbar. Gewalt als Lösung lehnt sie ab. In ihrer sehr persönlichen Auseinandersetzung mit der RAF hat sie dafür viel Prügel bezogen. Sie hat sich verwundbar gemacht, indem sie sich als Patenkind des 1989 von der RAF ermordeten Alfred Herrhausen, des Deutsche-Bank-Chefs, offenbart. Aber letztlich, schreibt sie, gab es keine andere Möglichkeit: „weil nur ein Ende des Schweigens fordern kann, wer selber zu sprechen bereit ist“.
Für sie, die Intellektuelle, ist Aufklärung wichtiger als der Anspruch auf Strafe. Die Reue interessiert sie nicht, auch nicht, ob die Täter ins Gefängnis kommen. Für ihr Plädoyer, den RAF-Mitgliedern Straffreiheit zu gewähren, wenn die Täter redeten, erntet sie viel Spott. Der sie aber unbeirrt lässt in ihrer Forderung, nicht nur nach dem Wahrscheinlichen zu fragen, sondern dem, was wichtig ist. „Wir müssen das, was wir moralisch und politisch für richtig halten, auch fordern und ermöglichen, sonst verkümmern wir.“
Carolin Emckes Arbeit ist immer auch eine intellektuelle Anfrage. Sie ist eine Begegnung mit den großen Denkerinnen und Denkern, sie fordert, mitzudenken, was wohl Sokrates oder Kant, Susan Sontag oder Hannah Arendt zu dieser Krisensituation gesagt, wie sie jenes Verbrechen analysiert hätten in ihren spezifischen Verortungen. Wenn wir Carolin Emcke lesen, zwingt ihr „Ich“ uns, uns mit unserer eigenen komplexen Rolle auseinanderzusetzen; etwa damit, wann wir wegsehen, warum wir uns nicht interessieren, warum wir nicht dafür kämpfen, dass das Gute sich Bahn schlagen kann.
In diesem Sinne ist Emcke immer auch eine Kämpferin für eine Welt, in der es mehr Menschen besser geht.
Ihre Neugierde, ihr Wissensdurst ist in jeder Begegnung offensichtlich. Sie will wissen, sie stellt Fragen und macht öffentlich, dass auch sie auf vieles nie eine Antwort finden wird.
Auch wenn sie oft so bezeichnet wird, ist Emcke dabei keine klassische Kriegsberichterstatterin. Militärische Apparate, die Täter-Maschinerie interessieren sie nicht. Ihr Blick richtet sich auf die Opfer, die Verstummten, ihnen und ihrer Perspektive will sie eine Stimme geben. Sie erzählt von den Verhältnissen, so wie sie für die betroffenen Menschen sind, sie berichtet über fragile Demokratien, zerstörte Wirtschaftsräume, die Auswirkungen gewissenloser Diktatoren, immer fokussiert auf das Leben jener, die keine Macht haben, in dieser einen Welt, in der das kleinste Dorf betroffen ist von den Zwangsläufigkeiten der Globalisierung.
Die Kraft des Erzählens.
Am lebendigsten fühlt Emcke sich wohl mit einem leeren Notizbuch in der Hand, draußen in der Welt, ihren langjährigen Freund und Partner und Fotografen Sebastian Bolesch an ihrer Seite wissend. Ohne ihn kann Emcke sich nicht denken. Er ist Halt und Inspiration, Beschützer, Freund, das Vertraute in der Fremde.
So wichtig wohl wie die Musik. Musikhören, sagt sie, ist wie Atmen. „Musik lotet mich, erdet mich, bringt mich ab von Überflüssigem, dringt tief in mich ein.“ Keine Zeile könne sie schreiben ohne Musik. „Ich denke und schreibe auch in Klangfarben, Rhythmen – andere können in Farben schreiben, in Bildern. Das ist mir nicht gegeben.“
Wie kaum eine andere weiß die Journalistin des Jahres 2010 um die Kraft des Erzählens. Ihre Geschichten, ihre Zeugnisse informieren uns, sie berühren uns, sie rütteln uns auf, bleiben in unseren Hirnen und Herzen und helfen uns, die komplexen Informationen zu verarbeiten.
Das ist rar in Deutschland. Kein Wunder also, dass auf Carolin Emcke derzeit ein wahrer Preisregen niederprasselt. Ob sie damit eigentlich ein Problem habe, frage ich per Mail in Port-au-Prince nach.
„Es gibt vermutlich eine ungerechte Schwerkraft des Erfolges. Wer einmal gewinnt, zieht den nächsten Erfolg an sich. Ich würde gerne so tun, als seien diese äußeren Formen der Anerkennung nicht wichtig. Aber das stimmt nicht. Ich freue mich riesig darüber und weiß gleichzeitig, wer sie mindestens so verdient hätte.“
Carolin Emcke ist vom „medium magazin“ zur „Journalist/in des Jahres 2010“gewählt worden. Ich als Jury-Mitglied freue mich mit ihr. Und gratuliere mit den besten Wünschen.
Vita
Carolin Emcke, geb. 1967, studierte Philosophie, Politik und Geschichte in London, Frankfurt/Main und Harvard als Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes; Promotion in Philosophie über den Begriff „Kollektive Identitäten“.
1998-2006: Redakteurin beim „Spiegel“; als Auslandsredakteurin in vielen Krisengebieten (Afghanistan, Pakistan, Kosovo, Irak, Kolumbien, Libanon u. a.).
2003/2004: Visiting Lecturer für Politische Theorie an der Yale University mit Seminaren über „Theorien der Gewalt“ und „Zeugenschaft von Kriegsverbrechen“.
Seit Spielzeit 2004/2005 Moderation der monatlichen Diskussionsveranstaltung „Streitraum“ an der Schaubühne Berlin.
2006-2007 Beraterin des Studiengangs Journalismus der Hamburg Media School; seit 2007 arbeitet Carolin Emcke als Publizistin und internationale Reporterin (u. a. in Israel, Westbank, Pakistan, Ägypten, Irak, USA), u. a. für „Die Zeit“ und das „Zeit-Magazin“.
3 Fragen, 3 Antworten:
Was macht einen guten Journalisten aus?
Empathie, Nachdenklichkeit, Selbstzweifel.
Haben es Frauen im Journalismus schwerer? Frauen haben es in der journalistischen Arbeit eigentlich leichter. In den journalis-tischen Redaktionen und Machtzentralen haben sie es eigentlich auch nicht schwerer, weil sie da gar nicht reinkommen. Was sind Ihre Stärken und Schwächen? Schwächen? Da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Vor allem bin ich unendlich langsam beim Schreiben. Der Beruf ist grandios, wenn es nicht das Schreiben gäbe.
Medium:Online
Mehr Antworten von Carolin Emcke auf unsere Fragen finden Sie unter
www.mediummagazin.de, magazin+
Erschienen in Ausgabe 01+02/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 22 bis 23 Autor/en: Ines Pohl. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urhe
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