Das größte Geheimnis, das derzeit die Londoner Journalisten umtreibt, wird weder in der Downing Street gehütet noch im Buckingham Palace. Die Medienbranche des Königreichs starrt stattdessen wie gebannt auf einen weitläufigen Bürokomplex nahe der berühmten Tower Bridge.
Nicht wenige glauben, dass man dort, im Hauptquartier des Medienmoguls Rupert Murdoch, weiß, wie es um die wirtschaftliche Zukunft des Journalismus im digitalen Zeitalter bestellt ist.
Nur dort kennt man die aktuellen Nutzerzahlen von „Times Online“. Wie tief, fragen sich britische Medienblogger, Journalisten und Verleger, sind sie gesunken, seit Murdoch die Webseite seines ehrwürdigen Flaggschiffs fest hinter einer Paywall vertäut hat?
Paywall
Ein Pfund (entspricht rund 1,14 Euro) verlangt „Times Online“ seit Anfang Juni für ein Tagesabo; für zwei Pfund kann man eine ganze Woche im neu gestalteten Internetangebot des Traditionstitels stöbern. Die Hauptseite mit den Schlagzeilen bleibt offen; wer weiterklickt, muss zahlen. Murdoch schickt sich damit an, eines der unerschütterlichen Dogmen des digitalen Zeitalters zu widerlegen: Information im Internet ist kostenlos.
Kann das gut gehen? Murdoch schweigt seit drei Monaten beharrlich und auch Tom Whitwell, Chefredakteur von „Times Online“, mauert. „Wir haben natürlich Leser verloren“, räumt er im Gespräch mit „medium magazin“ ein, „und wir werden irgendwann auch Zahlen veröffentlichen. Aber zunächst sagen wir nur: Wir sind sehr zufrieden mit der bisherigen Entwicklung.“
Viele Kommentatoren, vor allem die Protagonisten der Free-Content-Bewegung (Slogan: „Information will frei sein“), deuten das Schweigen aus Wapping bereits als Eingeständnis des Scheiterns. „Wenn die Paywall ein überwältigender Erfolg wäre, hätten sie wohl schon Zahlen veröffentlicht“, meint Roy Greenslade, Medienblogger und Professor für Journalismus an der Londoner City University. „Aber lange werden sie das nicht durchhalten, denn die Werbewirtschaft will irgendwann Fakten sehen.“
Sinkender Marktanteil
Inoffizielle Zahlen sind bereits durchgesickert. Nach Angaben der Online-Marktforscher von Hitwise hat die „Times“-Seite in den ersten sechs Wochen nach Errichtung der Paywall mehr als zwei Drittel ihrer Leser verloren. Der Marktanteil bei den englischsprachigen Nachrichten-Websites sank von 4,2 Prozent auf schmerzliche 1,3 Prozent. Die Zahlen scheinen sich aber auf diesem Niveau zu stabilisieren. Und: Nach Insiderinformationen hatte die „Times“-Mannschaft mit Schlimmerem gerechnet. Angeblich war man auf einen Rückgang um mehr als 90 Prozent vorbereitet.
Murdoch und seine Strategen sehen in ihrem Schritt hinter die Mauer die einzige Möglichkeit, einbrechende Gewinne im Anzeigengeschäft – sowohl online als auch im Print – auszugleichen. An einem „Wettrüsten um Klickzahlen“ wollte man sich nicht weiter beteiligen. Denn das, so Whitwell, „führt zu nichts als endlosen Fotostrecken mit Schauspielerinnen, die aus Autos steigen, oder Menschen, denen ein Krokodil den Arm abgebissen hat. Das hat nichts mehr mit unserer Marke zu tun.“
Klicktouristen
Bei der „Times“ weiß man auch: Masse ist nicht gleich Klasse: „Die zweiten 20 Millionen Seitenaufrufe sind nicht mehr viel wert bei den Werbekunden“, sagt Whitwell. „Diesen Klicktourismus amerikanischer College-Kids brauchen wir nicht. Das bringt auch nicht genug, um ein Büro in Bagdad zu finanzieren oder lange, investigative Reportagen. Wir sind zu dem Schluss gekommen: Die Paywall ist ein nachhaltiges Geschäftsmodell für unseren Qualitätsjournalismus.“
Aber mit Qualität allein ist es wohl nicht getan. Die „Times“ flankiert die Errichtung der Paywall mit einer Reihe von Mehrwert-Maßnahmen. Abonnenten erhalten Zugriff auf „Timesplus“, eine Art angedocktes Kulturwarenhaus, das dem Leser Mehrwert bringen und ihn enger ans Blatt binden soll. Sonderführungen durch hochkarätige Ausstellungen, Theaterabende samt anschließender Diskussion mit dem Regisseur oder exklusive Konzerte sollen den „engagierten Leser“ hervorbringen, von dem man sich mehr verspricht als von digitalen Flanierern, die durchschnittlich drei Minuten auf der Webseite verweilen.
Ob erfolgreich oder nicht, Experten wie Roy Greenslade sind sich einig: So wird die Zukunft für Journalismus im Internet nicht aussehen. „Paywalls laufen dem Ethos des Internets zuwider, der auf dem freien Fluss von Informationen beruht“, meint Greenslade. „Sie behindern eine offene Konversation der Nutzer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies die Richtung ist, in die sich der Journalismus entwickeln wird.“ Dennoch wartet er mit Sorge auf die Zahlen der „Times“: „Wenn es bei denen funktioniert, könnten viele andere folgen.“
Nachahmer
Die Sorge ist berechtigt, denn Murdoch legt bereits nach: Auch die Seite der „News of the World“, sonntägliche Schwester von Murdochs Boulevard-Schwergewicht „Sun“, ist seit Oktober kostenpflichtig. Schon seit längerem hat man sich dort darauf spezialisiert, Prominente, Royals und Politiker in verfängliche Situationen zu bringen und dabei mit versteckter Kamera zu filmen. Murdoch hofft, dass die Leser auch für exklusiven Klatsch und Tratsch die Geldbörse zücken.
Doch die Bereitschaft dazu scheint immer noch gering zu sein. In einer Nielsen-Umfrage vom Februar unter weltweit 27.000 Internetnutzern zeigten sich nur knapp 20 Prozent der Befragten bereit, zukünftig für Inhalte zu bezahlen, die im Moment umsonst verfügbar sind. Einige können sich wenigstens noch vorstellen, für Spielfilme und Musik zu zahlen. Aber 81 Prozent würden Nachrichten-Webseiten boykottieren, sobald Gebühren fällig würden. Grund: Dieselben Informationen blieben ja anderswo kostenlos verfügbar.
Wie eine Paywall trotzdem funktioniert, könnten sich Murdochs Leute derweil ein paar Kilometer flussaufwärts anschauen. Bei den Kollegen der „Financial Times“ am anderen Ufer der Themse kostet das Basis-Abo via Internet, iPad oder Handy stolze 220 Euro pro Jahr. Das Erstaunliche dabei: Der Werbeumsatz von ft.com hat sich im letzten Jahr auf fast 30 Millionen Pfund verdreifacht. Im letzten Jahr bescherten rund 90.000 Individualabonnenten der FT Einnahmen von rund 13,5 Millionen Pfund, Firmen-Abonnenten nicht eingerechnet. Der „Guardian“ fragte schon: „Hat die FT das Geheimnis ewiger Profitabilität geknackt?“ Kritiker wie Roy Greenslade sehen das weniger mystisch. Die FT biete schließlich – ähnlich wie das ebenfalls kostenpflichtige Zentralorgan für Pferderennen, die „Racing Post“ – ihren Lesern einen erheblichen Nutzfaktor: exklusive Informationen, die sich direkt in Bares verwandeln lassen. Außerdem könnten viele Business-Leser die Abokosten steuerlich absetzen. Auf Massentitel, so Greenslade, lasse sich das nicht übertragen.
Falsch, sagt Mary-Beth Christie, Chefin der Online-Sparte der FT. „Die Entscheidung weg von einer starren Paywall und hin zu unserem Frequenzmodell im Jahr 2007 war der Schlüssel zu unserem Erfolg.“ Um die FT online lesen zu können, muss man sich lediglich kostenlos registrieren, allerdings, und das ist Teil des Erfolgsrezepts, unter Angabe von Position, Branche und Verantwortungsbereich. Bis zu zehn Artikel pro Monat sind dann gratis abrufbar. Wer mehr lesen will, wird zur Kasse gebeten. „So können sich die Kunden von der Qualität unserer Inhalte überzeugen“, sagt Christie. „Außerdem haben wir durch den Registrierungsprozess viel über unsere Leser und deren Vorlieben erfahren, das hat einen großen Unterschied gemacht, vor allem, was die Werbekunden betrifft.“ Sie versteht die Kritiker nicht: „Ich wüsste nicht, warum unser Modell nicht auch für Mainstream-Titel funktionieren sollte.“
Gratismodell
Dass es auch andersherum geht, beweist übrigens ausgerechnet ein Printtitel. Der traditionsreiche „London Evening Standard“, die wichtigste Abendzeitung des Landes, wird seit Oktober letzten Jahres im Zentrum Londons umsonst verteilt – nach über 180 Jahren als Bezahltitel. Das Lokalblatt verdreifachte so seine Verbreitung auf 600.000 Exemplare pro Tag
– und schreibt nach jahrelangem Verlustgeschäft angeblich wieder schwarze Zahlen.
Erschienen in Ausgabe 10+11/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 26 bis 27 Autor/en: Gerhard Elfers | Illustration: A. Aragón. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.