Vor einem Jahr begannen wir im „Donaukurier“ damit, unsere Leser auf die Bedrohungen durch Google Street View aufmerksam zu machen. Damals war das ein Nicht-Thema in den deutschen Medien. Dabei hatte Google längst damit begonnen, den öffentlichen Raum in Deutschland systematisch abzufotografieren. Aber das schien keinen zu stören. Einige unserer Leser waren zunächst wohl irritiert, als sich ihre Zeitung so intensiv mit dem sperrigen Thema beschäftigte. Aber insgesamt war und ist die Resonanz positiv – ähnlich wie im Herbst 2007, als wir mit einer schwarzen Titelseite auf das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung aufmerksam machten. Nur zur Erinnerung: Inzwischen wurde das umstrittene Gesetz, das die Pressefreiheit bedroht hätte, vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gekippt.
Sind wir Spießer nur weil wir Bedenken äußern?
Wir wollten mit unseren journalistischen Aktionen und den beiden Gutachten, die wir von renommierten Juristen einholten, eine gesellschaftliche Debatte anstoßen. Ich meine, das ist uns gelungen. Vielleicht haben wir so dazu beigetragen, dass nun auch das Fernsehen und die großen Zeitungen ausführlich über das Thema berichten. Die Zahl der Widersprüche steigt, ist inzwischen erheblich. Von Google selbst erfährt man darüber – wie üblich – nichts. Der Anspruch der Transparenz im Internet-Zeitalter gilt offenbar für Google nicht.
Die Befürworter von Google Street View und vergleichbaren Diensten halten uns Gegner für Spießer und Hinterwäldler. Das ist ihr gutes Recht. Aber man muss sich fragen, warum sie sich so schwer damit tun, die Bedenken und Ängste anderer zu respektieren. Die Umfragen zeigen, dass die Gegner deutlich in der Mehrheit sind. Dabei geht es ja nur vordergründig um die Abbildung von Straßen und Gebäuden. Brisant ist in Wirklichkeit die Verknüpfung der Bilder mit persönlichen Daten. In der schönen neuen Welt von Google werden alle Informationen, die im Internet über uns vorhanden sind, aufgesaugt und in praktisch nicht kontrollierbarer Weise verwertet. Die Menschen werden im Netz zu Nutzprofilen degradiert. Google geht es um das Geschäft. Und nicht darum, die Welt besser zu machen.
Soll man glauben, dass das Abschöpfen von persönlichen WLAN-Daten während der Kamerafahrten eine Panne war, wie uns Google weismachen will? Google weiß im Zweifel mehr über uns als irgendeine staatlich und demokratisch kontrollierte Institution. Google greift in unsere Privatsphäre ein – wie im Fall Street View geschehen – und verletzt damit massiv deutsches Recht. Auch das Recht auf Panorama-Freiheit greift hier nicht. Das endet bei einer Höhe von 1,80 Metern; Google aber macht Aufnahmen aus einer Höhe von fast drei Metern. Dass Google gegen geltendes Recht verstößt, haben die Gutachten eindeutig belegt. Das BVerfG hat das im sogenannten Volkszählungsurteil von 1983 so formuliert: „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine dies ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.“ Was Google und auch andere Netzwerke wie Facebook machen, ist also keine Bagatelle, sondern eine Missachtung der Menschenwürde.
Bankrotterklärung der Politik.
Dass diejenigen, die gegen dieses Recht verstoßen, uns gnädigerweise ein „Widerspruchsrecht“ gewähren, ist mehr als unverfroren. Kanzlerin Merkel riet den Leuten, dieses „Recht“, das in Wirklichkeit keines ist, wahrzunehmen. Ich empfinde es als eine Bankrotterklärung der deutschen Politik, wenn einem Bürger empfohlen wird, sich an denjenigen zu wenden, der ihm ein Leid oder einen Schaden zufügt. So, als würde man zum Opfer eines Raubüberfalls sagen: Wenden Sie sich an die Täter, wir können Ihnen nicht helfen! Der Staat ist hier in der Pflicht, seine Bürger zu schützen und endlich entsprechende Gesetze zu erlassen. Seit zwei Jahren schauen unsere Politiker zu, wie Google mit den Kamerafahrten Fakten schafft. Auf was warten sie nur?
Denn darüber muss man sich im Klaren sein: Google Street View ist erst der Anfang. Die meisten haben noch gar keine Vorstellung davon, wohin die Reise geht. Wir – die Medien, und gerade die Zeitungen – müssen den Leuten die Augen öffnen, bevor es zu spät ist. Ich finde, auch die meisten Zeitungen haben das Thema viel zu lange ignoriert. Sergey Brin, einer der Gründer von Google, hat 2003 in einem Interview gesagt: „Die Gesellschaft muss entscheiden, was sie hinnehmen will.“ Höchste Zeit, dass wir aufwachen.
Erschienen in Ausgabe 09/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 38 bis 38. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.