Diagnose

Allerletzte Worte zum grottenolmigen Feuilleton

Georg Diez ist blass. Er ist 40 Jahre alt, er hat braune Haare, einen hohen Haaransatz. Er sitzt auf dem Flughafen von Funchal in Madeira und draußen legt sich langsam das Unwetter, das die Blumeninsel in eine Schlammwüste verwandelt hat. Dabei wollte Diez ausspannen, vergessen. Vor allem den Sturm, der in Deutschland tobte. Auch seinetwegen.

Diez war einer von denen, die das Buch „Axolotl Roadkill“ der 17-jährigen Helene Hegemann gelobt hatten. Aber was heißt gelobt. Diez hatte für die Seite 3 der „Süddeutschen Zeitung“ einen Text geschrieben, der einen überfährt. Schnell, hart, geradeaus und praktisch ohne zu bremsen hatte er die junge Autorin in den Himmel gehoben. Es war ein Text, der in hohem Maße Aufsehen erregte, innen und außen. Weil die Autorin 17 Jahre alt ist und der Kritiker 40? Weil dieses Ausmaß der Affirmation selbst im zur Hymnen-Abwurf-Stelle degradierten Feuilleton (siehe „mm“ 10 + 11/09) einzigartig war? Weil Journalisten Rudeltiere sind? Klar, auch das. Denn auffallend war, dass sich all die mittelalten Feuilleton-Männer wie Georg Diez, Maxim Biller, Volker Weidermann oder Ijoma Mangold durch die Bank nicht mehr einbekamen angesichts der mittlerweile enttarnten Raubkopiererin. Der arme Talkshow-Moderator Burkhard Müller-Ullrich musste sich einst von Charlotte Roche auf die Frage, was er denn mit ihrem Buch „Feuchtgebiete“ anfangen solle, noch anpflaumen lassen, dass es für ihn wohl lediglich eine „Wichsvorlage sei“. Diez und Co wussten das diesmal schon.

Reden wir nicht davon, dass die ästhetische Urteilskraft der Herren im Fall dieser begabten jungen Frau blind zu sein schien. Reden wir stattdessen davon, dass das Buch der Anlass für die älteren Kulturredakteure war, ihre jüngeren Kollegen in die Schranken zu weisen. In einem backenbärtigen, misogynen Ton verbannten sie eine bedrohlich bedenkenlose Art der Rezension aus ihrem Hoheitsbereich. Und Hegemann selbst fügte noch eine schöne Missinterpretation der Feuilletondebatte bei: Je jünger die Journalisten waren, sagte sie, desto bösartiger erschienen sie ihr. Eine erstaunliche Sicht auf die Dinge – und angesichts der Bresche, in die sich all die Midlife-crisis geplagten Kulturschreiber für sie geworfen hatten, auch ein wenig undankbar.

Reden wir vielleicht auch darüber, dass sich unter den jüngeren Rezensenten alle ziemlich gut kennen. Dass es üblich ist, sich gegenseitig zu loben, und wenn sie Ressortleiter sind, dann sorgen sie dafür, dass gute Besprechungen der Bücher der anderen im Blatt landen. (So gesehen kann man es dem „FAZ“-Sachsen Peter Richter ja gar nicht genug danken, dass er neulich mehr oder weniger schrieb, wie peinlich es ihm sei, für dasselbe Blatt wie Maxim Biller zu arbeiten, in diesem Fall die „FAS“.). Und wenn einer von ihnen kritisiert wird, dann halten sie zusammen wie die Mafia in Neapel. Dann schreiben sie, wie schlimm alle anderen sind – etwa die, die dem armen Diez oder dem armen Mangold vorwerfen, auf eine Autorin reingefallen zu sein, die vieles einfach abgeschrieben hat. Der Literaturkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, Volker Weidermann, hat sich quasi im Namen des deutschen Feuilletons bei Helene Hegemann entschuldigt und noch einmal vor Georg Diez verbeugt. Nur er, so Weidermann, habe angemessen empört reagiert und erklärt: „Literatur richtet sich nicht nach Zutaten. Die Wahrheit der Sprache hängt nicht an jedem einzelnen Wort.“ Aber vielleicht ist es dennoch nicht unbedingt sehr glaubwürdig, wenn eine 17-Jährige den „Roman ihrer Generation“ (Diez) mit den Anekdoten eines 27-jährigen Bloggers füllt. Zehn Jahre ist eine lange Zeit und gerade mal ein bisschen weniger als der Abstand an Jahren, der Diez von Thomas Steinfeld trennt, dessen „Axolotl“ Rezension im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ sich wie eine Gegendarstellung zu Diez’ Stück auf deren Seite 3 las.

Doch man muss für die schnellen Jungs aus dem Feuilleton auch Verständnis haben, dass sie Hegemann auf den Leim gegangen sind und nun um ihre Reputation, die sie vor allem unter den befreundeten Kollegen genießen, kämpfen. Es war natürlich auch Neid dabei – Neid auf ein Mädchen, dass die Schule nach der zehnten Klasse verließ, während sie selbst ihrem saturierten Leben zustrebten, in dem zwar auch mal gekokst wurde wie in Hegemanns wundersamen Erzählungen, aber das Koks eher auf die Libido schlug, als anzutörnen. Das Buch von Hegemann ist eben ein Roman, vor dem sich jeder, der über dreißig ist, hüten sollte und Feuilletonisten mit 40 oder 50 sowieso. Wer sich nicht daran hält, ist selber schuld. Wie Maxim Biller, den es am schlimmsten getroffen hat, weil er ausgerechnet über das Buch, das das Plagiieren zur Kunstform erklärt, schrieb: „Ab morgen werden bestimmt hundert andere deutsche Schriftsteller – manche sogar gegen ihren Willen – den Hegemann-Sound nachmachen und dabei natürlich absolut scheitern.“

Wenn ich nicht selbst immer so viel mit mir beschäftigt wäre, würde ich Biller, Diez und Mangold mit ihren zerlesenen „Axolotl“ Roadkill Exemplaren zu mir einladen und gerne ein paar Rezensionen lang ihr Ressortleiter sein.

Dieser Text ist dem Gedanken der Intertextualität bzw. dem journalistischen Sampeln verpflichtet. Ich bedanke mich bei Georg Diez, Maxim Biller, Volker Weidermann, Ijoma Mangold und Iris Radisch für ihre Formulierkunst.

Erschienen in Ausgabe 03/2010 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 88 bis 89. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.