„Boulevard ist Pop“

?Was hängen denn da für Titelbilder hinter Ihrem Tisch? Entwickeln Sie eine Frauenzeitschrift?

Walter Mayer: Das ist eher ein Gedankenspiel, eine Fingerübung. Wir entwickeln und probieren ständig was aus, auch Ideen für Beilagen wie diese.

Mal steht „Sweet“ auf dem Cover, mal „Gloria“, die mit Iris Berben auf dem Titel heißt „Iris“, die mit Veronika Ferres „Vroni“…

Klingen doch alle ganz gut. Könnte aber auch „Lady Sunday“ oder „BamS Woman“ oder „Frau am Sonntag“ heißen, wenn wir wirklich so eine Frauenbeilage rausbringen würden. Wie gesagt, das steckt aber alles erst in der Gedankenspielphase. (weshalb wir sie auch nicht zeigen dürfen, Anm.d.Red.) Ich wollte die Layout-Entwürfe eigentlich vor Ihrem Besuch abhängen.

Es ist Ihr erstes Interview als Chefredakteur der „Bild am Sonntag“ – obwohl Sie das schon seit August 2008 sind. Warum hat es so lange gedauert?

Ich muss Zeitung machen.

Ihr Vorgänger, Claus Strunz, hat die Öffentlichkeit gesucht. Wie wichtig ist es, dass ein Chefredakteur nicht nur Blattmacher, sondern Repräsentant, Verkäufer seiner Zeitung ist?

Das ist eine Frage der Mentalität. Ich geh‘ nicht so oft auf Veranstaltungen. Ich bin schüchtern, ich habe einen Small-Talk-Komplex.

Womit machen Sie das Manko wett?

Ich liebe es, Blatt zu machen. Ich liebe es, in der Redaktion zu sein. Ich liebe es, mit der Redaktion am Balken zu arbeiten.

Was machen Sie anders?

Wir haben die Produktionsweise geändert, wir haben das Blattmachen neu organisiert. Ich glaube, das war die wichtigste Entscheidung, als ich mit meinem Stellvertreter Robert Schneider im August letzten Jahres bei der „Bild am Sonntag“ gestartet bin.

Inwiefern?

Wir haben im Produktionsraum einen Balken, eine Art Werkbank gebaut. Diese Werkbank – ein 4,8 Meter langer und zwei Meter breiter Tisch mit Layout- und Arbeitsplätzen und einem 52-Zoll-Bildschirm für die Fotopräsentation – ist der Motor der Zeitung. Dort sitze ich mit meinem Stellvertreter, den Art- Direktoren, einer/einem Fotoredakteurin/Fotoredakteur, und dann kommen die jeweiligen Reporter und Ressortleiter dazu. An dieser Werkbank werden alle Geschichten besprochen, entwickelt, gelayoutet und betitelt. Wenn wir eine Geschichte bauen, gucken wir erst mal gemeinsam alle Fotos an, die es zum jeweiligen Thema gibt. Gleichzeitig tragen die Reporter ihre Erkenntnisse vor. Dann diskutieren wir die Erzählweise und machen Headlines und Layouts in einem integrierten Prozess. Das kann manchmal quälend lang dauern, bis eine Story sitzt.

Das heißt, das Blatt wird nicht mehr in den Ressorts produziert, sondern sozusagen „am Stück“.

Diese Produktionsweise hat drei Vorteile. Erstens: Es gibt keinen Kommunikationsverlust zwischen Schreiber und Layouter oder Fotoredakteur und Textchef. Zweitens: Wir durchdringen die Geschichten besser, weil mehr Köpfe gemeinsam rauchen, und drittens: Wir können das Blatt besser steuern, mischen, komponieren, weil Chefredaktion und Art-Direktion wirklich jede Seite geformt haben. Manchmal denken wir eine Stunde lang über eine Überschrift nach. Denn die Struktur der Geschichte bedingt das Layout, bedingt das Aufmacher-Foto, bedingt die Zeile. Das ist mein Alltag, anders kann ich nicht arbeiten.

Okay. Wir wollen über die Zukunft von Boulevard reden.

Auweia, davor hab‘ ich aber jetzt wirklich Angst …

Wieso Angst?

Weil der Begriff Boulevardjournalismus fehlinterpretiert wird. Man muss ihn verteidigen.

Was ist Boulevardjournalismus?

Ursprünglich wurde der Begriff auf Zeitungen angewandt, die auf der Straße, dem Boulevard, durch schreiende Verkäufer verkauft wurden. Im Gegensatz zu den Zeitungen, die man sich am Kiosk holen musste. Die erste Boulevardzeitung in Deutschland war übrigens die „B.Z.“…

… deren Chefredakteur Sie waren, bevor Sie zur „Bild am Sonntag“ gewechselt sind.

Die Besitzer der B.Z., die Ullsteins, waren damals auf die Idee gekommen, Zeitungsjungs auf die Straße rauszuschicken, die mit ihrer hellen Stimme die Schlagzeilen berlinert haben. Das gibt es heute leider gar nicht mehr. Aber, wissen Sie, ich hab‘ ein Problem damit, dass heute in den Begriff Boulevard so viel Falsches hineininterpretiert wird.

Was denn?

Er muss verteidigt werden. Gegen das Klischee, Sex und Crime würden das Erscheinungsbild von Boulevardzeitungen dominieren. Für mich ist Boulevard etwas anderes.

Nämlich?

Für mich ist Boulevard Pop.

Und wenn Boulevard Pop ist, ist eine Qualitätszeitung …

… das ist doch kein Widerspruch. Qualität ist keine Frage des Genres. Qualität ist die Voraussetzung für Erfolg. Wenn eine Zeitung gut ist, dann gibt sie den Sound der Welt wieder. So wie Pop den Bogen schlägt von Lady Gaga bis Sting, von Dieter Bohlen bis David Bowie. Für mich ist BamS eher Bowie. Beim Zeitungmachen ist das entscheidende Instrument die Neugier. Es geht um den Willen, eine Geschichte zu erzählen, immer eine Frage mehr zu stellen, einen Schritt weiterzugehen, Storys plastisch zu inszenieren, mit den besten Fotos und dem schönsten Layout.

Am Erscheinungsbild der BamS haben Sie aber nicht viel geändert.

Wir haben bewusst keinen Relaunch gemacht. Die Schriften und die Heftstruktur sind im Prinzip geblieben. Vorn also Politik, ein wichtiges politisches Interview, jetzt allerdings mit stärkerem optischem Auftritt. Wir investieren wirklich viel Kraft und Geld in die Fotoproduktionen. Danach Deutschland aktuell, Welt aktuell, immer mit einer großen Reportage. Dann Leute & Kultur; das Fernsehprogramm, das sprechende Foto auf der Mittelseite, der große Ratgeber, der Sport und dann der aktuelle Rote-Teppich-Klatsch. Diese Struktur steht ganz streng. Unverrückbar. Aber innerhalb dieser Mauern herrscht Anarchie. Da schaffen wir immer wieder neue Formate, die wir weiter entwickeln oder auch wieder abschaffen. Das heißt: Einerseits gibt es bei der BamS, wie in einem Haus, eine unverrückbare Architektur, aber innerhalb der einzelnen Räume des Hauses, wird permanent umgestellt. Wir wollen den Leser immer wieder überraschen, ohne ihn zu verwirren.

Daher die neue Art, die Zeitung am Stück zu produzieren?

Ja, ein bisserl ist Zeitung machen, glaub‘ ich, wie eine Platte aufnehmen. Da muss der zweite Song auch eine andere Stimmung haben als der dritte. Mal musst du ein schnelles Stück bringen, dann wieder ein langsameres. Du musst einen Bogen spannen. Was kommt nach der Geschichte über Angela Merkel in der Uckermark? Eine Reportage über den angesagten Berliner Technoclub Berghain. Das ist Deutschland.

Nach welchen Kriterien mischen Sie das Blatt?

Zum einen ist das Handwerk, zum anderen Mühe und Genauigkeit und Gefühl. Letztlich musst du dich aufs Gefühl verlassen. Wir zwingen uns, nicht das Erstbeste hinzuschreiben. Dieser Zwang schwebt über allem. Gib dich nicht zufrieden, wir schauen noch einmal, ob wir noch bessere Fotos finden, eine Zeile, die noch präziser ausdrückt, was die Geschichte erzählt. Und die Zeile muss sich vom Sound her unterscheiden von der vorangehenden Geschichte. Also bloß nicht den erstbesten Gedanken aufschreiben. Da sitzen wir dann zu viert, fünft, sechst, und denken nach. Da kommt dann automatisch Gefühl ins Spiel, da es in so einer Situation irgendwann sehr privat wird. Immerhin spinnen da fünf Leute herum, graben in ihrem Unterbewusstsein. Aber nur so kriegt die Zeitung ihren eigenen Sound. Das Allerwichtigste aber ist, dass wir rausgehen.

Die Recherche …

… der eigene Blick des Reporters. Dass wir nach Vietnam fliegen und das Waisenhaus des neuen Gesundheitsministers suchen; dass wir Guttenberg auf seinem ersten Flug nach Afghanistan begleiten. Nichts ersetzt das Auge des Reporters.

Verraten Sie uns Ihre liebste Zeile.

Die Lieblingszeile ist immer die, mit der man auch am nächsten Tag zufrieden ist.

Welche war die erfolgreichste?

Am besten verkauft haben „Weltmacht Liebe“ über die Ehe der Obamas und „Die 100 besten Lebensmittel gegen Krebs“.

Über die Zukunft der Boulevardzeitungen zu reden, heißt auch über online reden. Klickt man aber „bams.de“ an, landet man im Abo-Shop, warum nicht wenigstens auf „bild.de“?

Das müssen wir ändern.

Verändert das Internet den Journalismus?

Dazu ist auf tausenden Kongressen schon alles gesagt, aber am Ende ist es doch so: Eine gute Geschichte ist eine gute Geschichte. Abends am Kinderbett, morgens in der Zeitung oder zwischendurch bei „BildMobil“ auf dem iPhone. Was sich verändert, sind die technischen Möglichkeiten. Sie gestatten neue Erzählformen – gedruckt wie online.

Bei Ihnen hat man den Eindruck, Sie seien der letzte Chefredakteur, der sich nicht um online kümmert.

Ich trenne das überhaupt nicht. Ob gedruckt, ob online, der Vertriebsweg ist nicht das Entscheidende. Ich versteh‘ ja auch nix von Drucktechnik. Meine Aufgabe ist es, gute Geschichten zu machen. Ob diese Geschichten auf Papier gedruckt oder digital verbreitet werden, das ist zweitrangig.

Wie vereint, wie getrennt arbeiten „Bild“ und BamS?

Wir haben eine gemeinsame Sportredaktion und Veronika Illmer ist Art-Direktorin für beide Blätter. Ansonsten sind „Bild“ und „BamS“ Geschwister, mit sehr, sehr ähnlicher DNA und identischen Grundwerten.

Sie kennen den Boulevard aus allen Blickwinkeln: dem nationalen der werktäglichen „Bild“, dem lokalen der „B.Z.“ und mit BamS aus dem nationalen am Sonntag. Wie unterscheiden sich die Temperaturen dieser drei Typen von Boulevard?

Jede Zeitung hat ihre DNA. Ihre Geschichte, ihre Kultur, ihr Milieu, ihr Publikum. Als Chefredakteur darf man einer Zeitung niemals das Eigentliche nehmen.

Beschreiben Sie doch mal die Persönlichkeit der BamS.

Sie ist offen, sie ist freundlich. Sie versucht genau und präzise zu sein, will ehrlich sein und deshalb glaubwürdig, sie ist mitfühlend, sie erlaubt sich mal eine gewisse Lockerheit, aber ist ernsthaft dort, wo es angemessen ist. Sie liegt in der Mitte der Gesellschaft.

Und was ist sie nicht?

Sie ist nicht böse. Sie ist vielleicht manchmal ein bisserl scharf, aber nie zynisch. Sie sollte nicht oberflächlich sein und nicht verletzen.

Weil sie sonntags erscheint?

Nein, weil wir so sind.

Woran messen Sie Ihren Erfolg?

Da sind die Zahlen und das Gefühl. Die Zahlen sind okay, das Gefühl ist gut.

Was meinen Sie mit Gefühl?

Wir sind am Samstag um etwa 20.30 Uhr mit der ersten Form durch. Dann mach‘ ich mir ein Achtel Wein auf und bleib‘ hier bis elf, halb zwölf. Den Andruck nehm‘ ich mit nach Hause, und da blättere ich dann und blättere und blättere. Sonntagmorgens wach‘ ich, seitdem ich hier bei der BamS bin, immer sehr früh auf, so gegen acht, weil ich mir denk‘, irgendwie, ach, wenn was schief gelaufen ist … Du hast ja am Samstag manchmal schon das Gefühl für die Ausgabe, das verdichtet sich bis Sonntag früh. Ich hol‘ mir dann die Abo-Ausgabe aus meinem Briefkasten, schau‘ sie durch, und meistens kauf‘ ich sie dann auf dem Weg, wenn ich frühstücken geh‘, noch mal am Kiosk in der Friedrichstraße.

Warum noch mal?

Um sie in freier Wildbahn zu sehen. Ich will einfach diesen Vorgang erleben, sie zu kaufen, zu sehen, wo sie platziert ist, wie sie da liegt, wie sie sich im Vergleich zu den anderen Sonntagszeitungen drum herum macht. Ich blättere sie bestimmt 50 Mal durch, telefoniere, warte auf SMS-Nachrichten, und so entwickelt sich das Gefühl. Meistens bestätigt sich das vom Samstag.

Wie wichtig sind dann noch die Auflagenzahlen?

Ganz ehrlich: Ich bin schon jeden Donnerstag gegen 11 Uhr sehr gespannt, wenn die ersten Zahlen vom Grosso-West kommen. Das ist ein bisschen wie Zeugnisverteilung. Oft gut, manchmal nicht so gut.

Unterm Strich steht aktuell ein Minus von 2,4 Prozent, nach minus 6,2 Prozent im zweiten Quartal 2009.

Wir haben die Sonderverkäufe, die eh nur Geld kosten, stark reduziert und im härtesten Geschäftsfeld, dem Grosso, die Auflagenverluste deutlich reduziert und liegen mit mehreren Ausgaben am Kiosk signifikant über Vorjahr.

Warum haben Sie den Slogan „das schnellste Magazin“ abgeschafft?

Wir sind zum Ursprungsslogan zurückgegangen: „Deutschland am Sonntag, Bild am Sonntag“. Das ist, was wir sind. Es ist doch egal, ob wir ein Magazin sind oder eine Zeitung, das unterscheidet doch kein Mensch.

Wie wird der Boulevardjournalismus, wie wird BamS im Jahr 2020 aussehen?

Wer weiß schon, wie Deutschland 2020 ausschaut? Ich weiß nur eines: dass Menschen immer – in jeder Kultur, in jedem Milieu und zu jeder Zeit – gut erzählte Geschichten lesen oder hören und starke Bilder sehen wollen; Geschichten, die mir was über mich, das Leben, den Zustand der Welt erzählen. Die Frage lautet nicht online oder gedruckt, sondern: Wie werden die Geschichten vorgetragen – wie lebendig, wie faszinierend? Das galt, gilt und wird immer gelten. Ich glaube an den Wesenskern von gutem Journalismus: Neugierig sein, und das, was man erfahren hat, verständlich, plastisch und fesselnd erzählen.

Zur Person

Walter Mayer, letzter Chefredakteur der 1996 eingestellten Zeitschrift „Tempo“, war Franz Josef Wagners Stellvertreter bei „Bunte“ und „B.Z.“, bevor der heute 50-Jährige 2001 hinter Kai Diekmann an die Spitze der „Bild“-Zeitung rückte. 2004 kehrte der von Vorstandschef Mathias Döpfner geschätzte wie geförderte Salzburger zur „B.Z.“ zurück, diesmal als Chefredakteur. Am 5. August 2008 übernahm er von Claus Strunz, der zum „Hamburger Abendblatt“ wechselte, den Chefposten der „Bild am Sonntag“ (BamS). Deren Herausgeber ist „Bild“-Chef Kai Diekmann, doch so eng verzahnt wie einst geplant, arbeiten die Redaktionen der werktäglichen und sonntäglichen „Bild“ längst nicht. Aktuell verkauft die BamS 1,74 Millionen Exemplare, 2,4 Prozent weniger als im Vorjahr. Übernommen hat Walter Mayer das Blatt vor einem Jahr beim Auflagenstand von 1,78 Millionen Exemplaren. usi

Erschienen in Ausgabe 12/2009 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 18 bis 19 Autor/en: Interview: Ulrike Simon. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.