Gerade erst haben sich wieder mal die Granden der Branche auf Medienkongressen in München und Berlin getroffen und allerlei Postulate für den Qualitätsjournalismus formuliert und diskutiert. So weit die Theorie. Und die Praxis? Reden wir mal über die Gegenwart und ein paar Ereignisse aus jüngster Zeit:
Der öffentliche Selbstmord: „Vorbild“- kaum ein Wort fiel so häufig in der Beschreibung des National-Torwarts Robert Enke, der mit seiner Selbsttötung nicht nur sich und seine Familie, sondern auch völlig Unbeteiligte wie den Lokführer in einen Abgrund riss. Vorbild? Einschlägige Studien sprechen von einem erhöhten Nachahmungseffekt, sobald in den Medien Selbsttötungen jener Art gemeldet werden. Das Kriseninterventionszentrum Wien hat gar erst im Oktober 2008 einen „Leitfaden zur Berichterstattung über Suizid“ für jedemann zugänglich ins Internet gestellt, in dem es heisst:„Suizide bekannter Persönlichkeiten haben dann einen erhöhten Imitationseffekt, wenn der verstorbene Mensch in der Öffentlichkeit sehr beliebt und sympathisch war.“ Die Pychologen raten zur Zurückhaltung in der Berichterstattung. Das jedoch haben nur sehr wenige getan.
Dirk Gieselmann von „11 Freunde“ war einer davon: In seinem Blog schrieb er kurz nach der Nachricht: „… Wir müssen berichten, irgendwie. Aber wie weit darf das öffentliche Interesse gehen? An diesem Abend spüren wir die Grenzen aufs Deutlichste. Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Robert Enke ist tot. Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Familie, seinen Freunden und Kollegen.“
Ein Blick auf die Leser-Kommentare zu diesem Eintrag (http://bit.ly/5u1kqv) wird all die eines Besseren belehren, die eine voyeuristische Berichterstattung mit einem Interesse der Öffentlichkeit begründen!
Der öffentliche Politiker: Man mag darüber streiten, ob das Verhalten von Oskar Lafontaine in den vergangenen Monaten seiner Verantwortung als Spitzenpolitiker seiner Partei angemessen war. Nicht streiten kann man aber über die Berichterstattung des „Spiegel“, die, noch dazu als Ergebnis „wochenlanger Recherchen“, höchst private Gründe für den Rückzug des Saarländers aus seiner bundespolitischen Rolle ausführlich beschrieb – und die Lafontaine in Folge dazu zwang, seine Krebserkrankung als den wahren Grund für seinen Rückzug öffentlich zu machen. Wenn ein Krawallblatt über private Verhältnisse spekuliert, ist es schon schlimm genug. Wenn aber ein Magazin, das sich selbst als seriöses Leitmedium für Debatten in diesem Land versteht, eine solche Grenzüberschreitung begeht, ist das unentschuldbar.
Die öffentliche Kritik: Ein denkwürdiges Miss-Verständnis von öffentlicher Debatte zeigte die Antwort des ARD-Aktuell-Chefs Kai Gniffke auf die Kritik von Ulrich Wickert an Sprache und Boulevardisierung der öffentlich-rechtlichen Nachrichten (FAZ, http://bit.ly/8qJ7IL). Gniffke nutzte seinen tagesschau.de-Blog für eine Replik – und dokumentierte damit unfreiwillig, wozu man ein solches Medium eben nicht nutzen sollte: Zu einem „Basta-Journalismus“, der sich unfähig zur Debatte zeigt (http://bit.ly/63pMho).
Schlimm genug, dass er die Kritik bestätigte, in dem er schrieb: „… unsere Texte finde ich sprachlich außerordentlich akurat“. Noch schlimmer, dass der „Tagesschau“-Chef auf die vielen kritischen Kommentare zu seinem eigenen Beitrag nicht mehr reagierte. Wer sich so in einen Blog begibt, kommt darin um.
In eigener Sache: Diese Ausgabe haben wir dem Schwerpunkt „Zukunft“ gewidmet. „Mitsprache“ ist dabei so etwas wie ein thematischer roter Faden. Dazu gehört der Appell der 19-jährigen Eva Schulz: „Redet mit uns, nicht über uns“ (Seite 40 f.). Wer das ernst nehmen will, sollte auch einen Blick in die Journalisten-Werkstatt werfen, die dieser Ausgabe beiliegt: Wie man junge Zielgruppen erreichen kann.
Und allen aktuellen Widrigkeiten zum Trotz gibt es in diesem Heft „Gute Aussichten“ – sogar ganz handfest: Alljährlich zeigt das Nachwuchsförderungs-Projekt „Gute Aussichten – Junge Deutsche Fotografie“ herausragende Arbeiten junger Fotografen. Die diesjährigen Talente dokumentiert das jüngste Special, das in Kooperation mit „brandeins“ und „ProfiFoto“ – und erstmals auch „medium magazin“ – erscheint.
Unsere Zusammenarbeit setzt sich in auch in der neuen Reihe „Junge Fotografie“ im Internet unter www.mediummagazin.de fort. Schauen Sie mal rein!
Annette Milz
Erschienen in Ausgabe 12/2009 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 5. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.