„Ein guter Feuilletonist muss angreifbar sein“

Joachim Kaiser ist gestorben. Aus diesem Anlass hier ein Interview mit dem langjährigen Kultur- und Musikkritiker der „Süddeutschen Zeitung“ aus unserem Archiv. Nachdem er 2010 mit dem Theodor-Wolff-Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde, sprach MM-Chefredakteurin Annette Milz mit ihm über Aufgaben eines Kritikers, Langweile und Eitelkeiten – und verteilte ein paar Ratschläge für junge Kollegen.

Herr Kaiser, man nennt Sie Journalist, Kulturkritiker, Autor, Professor, musikalischer Genius und letzter Universalkritiker. Welche Bezeichnung finden Sie treffend?
Joachim Kaiser: Ach, sicherlich nicht „Genie“. Und „der letzte Universalkritiker“ ist ein ziemlicher Unfug. Ich würde mich „Autor“ nennen – weil es doch sehr darauf ankommt, wie man das, was man sagen will, so ausdrückt, dass es die Menschen interessiert.

Sie gelten selbst als begabter Pianist. Warum haben Sie den Journalistenberuf einer aktiven Musikerkarriere vorgezogen, lag es nur an den angeblich zu kurzen Daumen?
Ich hab als Kind enorm viel Musik gemacht, auch ein bisschen Cello und Klarinette gelernt. Dann brach der 2. Weltkrieg aus – ich war gerade elf Jahre alt -, gefolgt von der Flucht aus Ostpreussen, der Nachkriegszeit. Kurzum: Eine geregelte musikalische Ausbildung war nicht möglich. Ich war wohl auch für eine professionelle Karriere als Pianist nicht wirklich begabt genug, das muss man auch einsehen. Vielleicht wäre ich ein recht guter Begleiter geworden. Ich kann sehr genau hören, was der Solist will, ich kann mich anpassen, das macht mir Spaß. Das habe ich übrigens immer bei Karajan bewundert, wie wahnsinnig gut er begleiten konnte. Aber dann kam hinzu: Mich interessierte die Literatur, das Sich-Äußern über alle diese Dinge immer immer. Und dafür habe ich auch ein gewisses Talent.

Wann haben Sie das festgestellt?
1947 oder 48 begann ich in Göttingen Musikwissenschaften zu studieren, aber von Semester zu Semester wurde ich unglücklicher. Zuerst dachte ich: „Mein Gott, liegt es vielleicht an dir, dass du das nicht verstehst, oder an den Professoren, oder an den vielen Studenten, die kaum in Konzerte gehen und die Musik wie chemische Formeln analysieren?“ Das Ganze passte mir nicht. Ich habe dann umgesattelt auf Germanistik, ging nach Frankfurt und schrieb 1951 eine Riesengeschichte über Adornos Philosophie der Neuen Musik, die für Aufmerksamkeit sorgte. Daraufhin habe ich für den Hessischen Rundfunk in Frankfurt, auch ein bisschen für die FAZ und für die Frankfurter Hefte gearbeitet und mir als Autor einen gewissen Namen gemacht. Aber ich wollte trotzdem mein Studium zu Ende bringen und habe deshalb in Tübingen über Grillparzers dramatischen Stil promoviert. Dort fand ich auch gleich meine Frau, mit der ich 49 Jahre verheiratet war, bis sie vor drei Jahren leider gestorben ist.

Fritz J. Raddatz berichtet von einer Anekdote aus der damaligen Zeit, wonach Theodor Adorno ein Seminar-Referat von Ihnen kommentierte: „Ich verstehe Sie nicht, Herr Kaiser“. Und Sie antworteten ihm: „Das will ich gerne glauben.“ Waren Sie damals besonders mutig oder selbstbewußt?

(Lacht) Ach, wissen Sie, wann soll man denn sonst frech und mutwillig sein wenn nicht mit 21 Jahren? Ich hielt damals ein Referat und muss ein bisschen undeutlich gesprochen haben. Und Adorno sagte: „Kaiser, ich hab Sie hier nicht verstanden“. Ich antwortete tatsächlich: „Das will ich Ihnen gern glauben.“ Darauf traten seine Basedow-Augen enorm weit hervor, und er sagte: „Machen Sie weiter. Machen Sie weiter.“ Aber wie gesagt, als junger Mensch darf man ein bisschen provokant reden, und das tat ich auch mit einer gewissen Leidenschaft. Er hat mir das auch nicht verübelt. Im Gegenteil.

Auch später nahmen Sie kein Blatt vor den Mund bei Ihren Kritiken. Ziehen Sie dabei Grenzen?
Wenn der Kritiker durchblicken lässt, das er keinen Spaß am Schreiben hat, weil er sich in seiner unendlichen Bedeutung mit so etwas Mittelmäßigem wie dieser Interpretation abgeben muss, dann wird es verletzend. Und unmittelbar nach einem Konzert, wenn alle Akteure noch aufgewühlt sind von der Aufführung, kann man ihnen nicht sagen: „Das hat mir überhaupt nicht gefallen“, das ist unmenschlich. Ich hab natürlich im Laufe meines beruflichen Lebens manchen Leuten ihre Grenzen aufgezeigt und manche verletzt – das liegt in der Natur meines Metiers.
Aber glauben Sie mir, Sie können die liebenswürdigste Behandlungsweise für eine kritische Argumentation wählen – in Wirklichkeit gibt es keine milde Form für eine bittere Kritik. Das trifft das Ego immer ins Mark. Wie sagt Goethe: „Man spricht vergebens viel, um zu versagen, der And’re höret immer nur das Nein“.
Das habe ich übrigens auch selbst erfahren. Manche meiner 17 Bücher, auch solche, auf die ich sogar ein bißchen stolz war, sind enorm verrissen worden. Ich erinnere die Verrisse heute noch – und habe darauf genauso reagiert wie irgend ein Operettenmädchen und gegrübelt: „Was hat der nur gegen mich? “ Auf die Idee, dass es dem Kritiker einfach nicht gefallen hat, kommt man gar nicht.

Sie haben mal gesagt: „Alle Kritiker sind eitel.“ Sie also auch?
Der Kritiker ist letzten Endes immer eitel – denn er ist so etwas wie das fünfte Rad am Wagen, weil er ja nicht wirklich gebraucht wird für eine Aufführung und zweitens, wie Schopenhauer sagte: „In Kunstdingen finden Beweise nicht statt.“ In der Kunst müssen Sie plausibel sein. Wenn man also nicht mal nötig ist und zudem nur mit Hilfe der eigenen, subjektiven Urteilskraft belegen kann, dass man Recht hat – das macht eitel. Übrigens muss auch der Goethe verdammt eitel gewesen sein. Der hat ja die Eitelkeit immer wieder verteidigt. „Nur die Lumpe sind bescheiden.“

Was schmeichelt denn Ihrer Eitelkeit?
Probieren Sie’s mal. (lacht) Also, es macht mir Spaß, wenn man mich verstanden hat und sagt: „Donnerwetter, da ist Dir etwas auf- und eingefallen, worauf ich nicht gekommen wäre“, wenn man mir zeigt, dass ich in anderen Menschen etwas bewegt habe. Darauf kommt es doch letztlich an. Denn wir sind alle sterblich und außer ein paar Büchern, die dann auch niemand mehr so recht lesen wird, bleibt eigentlich nur übrig – dass sich jemand sagt: „Ach, diese Beethoven-Sonate oder jenes Shakespeare-Stück hat mir der Kaiser klar gemacht“.

In der Begründung zum Theodor-Wolff-Preis für Ihr Lebenswerk heißt es, Sie seien immer für den Rang der Kultur in der Gesellschaft eingetreten und hätten das geistige Leben in Deutschland mit Ihren Beiträgen maßgeblich begleitet. Entspricht das Ihrem Verständnis des Kulturkritikers?
Ich würde es noch ein bisschen konkreter formulieren. Wissen Sie, ich habe mich immer bemüht so gut ich konnte, also mit großem Affekt, die Rolle des Interpreten in der Schauspielwelt wie in der Musik emphatisch als wichtig darzustellen. Es gibt sehr viele Bücher, in denen Musikologen über Musik schreiben und argumentieren, warum sie welche Stücke für wichtig halten etc und dabei wiederum andere Musikwissenschaftler heranziehen.
Dagegen ist ja nichts zu sagen. Nur in alledem kommt nicht vor, dass diese Stücke auch gespielt werden von Leuten, die sich genauso so intensiv Gedanken darüber machen. Es kommt mir darauf an zu zeigen, wie individuell interpretierte Werke wirken. Das ist für mich zur Aufgabe meines Lebens geworden. Deshalb habe ich auch Bücher geschrieben wie „Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten“ oder „Die großen Pianisten unserer Zeit“. Natürlich schmeichelt mir die Begründung der Jury. Aber wenn ich überhaupt eine Rolle spiele, dann deshalb, weil ich versucht habe, zwischen musizierenden und wissenschaftlichen Interpreten zu vermitteln. Und das ist auch eine sprachliche Aufgabe.

… was Ihnen mit Grandezza gelingt.
Ich umarme Sie, Sie haben meine Eitelkeit aufs Reizendste getroffen.

Ihnen wird der Satz nachgesagt: „Mir ist egal, wer unter mir Feuilleton-Chef ist.“ Lassen Sie sich denn redigieren von der Redaktion?
Ach, selbstverständlich. Übrigens habe ich sogar gesagt: „Mir ist egal, wer unter mir Chefredakteur ist“. Das war ein etwas arrogantes Bonmot. Nehmen Sie das nicht zu ernst. Ich bin ja nun schon seit 1959 bei der Süddeutschen Zeitung – was habe ich schon alles da erlebt. Wenn ein vernünftiger Chefredakteur da ist, der der Kunst ihren Raum anweist, ist das sehr schön. Da bin ich mit München sehr einverstanden. In Frankfurt wie auch zuvor in Hamburg hatte ich das Gefühl, Kultur wird durchaus ernst genommen, aber eher als Beiwerk zu vermeintlich wichtigeren Dingen wie Wirtschaft. Das ist der Unterschied zwischen dem Süden und dem Norden: Kultur ist hier keine Spezialistensache, sondern interessiert alle, die am geistigen Leben teilnehmen. Das fand ich natürlich sehr angenehm.

Sie sind jetzt über 50 Jahre bei der SZ. Wie kamen Sie überhaupt dorthin?
Mein leider längst verstorbener Freund W.M. Guggenheimer von den „Frankfurter Heften“ hatte mich 1953 zur Gruppe 47 empfohlen. Ich konnte ganz gut spontan reden, hatte auch Courage und wurde so zur damaligen Tagung der Gruppe 47 eingeladen. Wir waren bald alle sehr befreundet. Und die Feuilleton-Chefs, die ja alle dort hin kamen, hielten mich zwar für einen ziemlich arroganten Lümmel, meinten aber andererseits: „Na ganz unbegabt ist er nicht. Und mit seiner Kritik hat er manchmal recht.“ Dann bot mir Hans-Joachim Sperr eine Redakteursstelle bei der SZ an, damit nicht immer diese langweiligen, endlosen Kritiken erscheinen, sondern ein junger Mann endlich ein bisschen Events und Interviews macht. Dass ich dann später längere Kritiken über Kunst schreiben würde als alle Anderen, diese finstere Zukunft ahnte man nicht.

Ihr FAZ-Kollege Marcel Reich-Ranicki hat mal gesagt: „Wer Angst vor Vereinfachung hat, darf nicht Kritiker werden.“ Stimmen Sie dem zu?
Ja, er hat nur sehr wenig Angst vor Vereinfachung. Manchmal beneide ich ihn um diesen Mut nicht. Ich finde, es gibt Dinge, die sind relativ kompliziert. Und die Menschen müssen das Gefühl haben, dass man ihnen ernsthaft erklärt, was man selber empfindet. Wenn Sie sich den späten Quartetten von Beethoven widmen, dann können Sie darüber nicht schreiben wie über Hänschen klein, dann muss man auch mal ein Fremdwort benutzen. Das bloße Vereinfachen ist nicht die Aufgabe eine Kritikers, vielleicht mehr die eines Reporters.

Doch als Königsdisziplinen unter Journalisten gelten der Leitartikel und die Reportage. Was also raten Sie einem jungen Journalisten, warum sollte er das Feuilleton wählen?
Wer Leitartikel für wichtiger als Feuilleton-Beiträge hält, kann erleben, dass jedoch meist viel mehr die Kulturkritiken diskutiert werden. Das Feuilleton bedient ein Wissensbedürfnis des Publikums und gewinnt dadurch die Öffentlichkeit. Und wenn jemand wirklich Spaß daran hat, seine Meinung in dieses Jahrhunderte alte Kultur-Getümmel zu fügen, dem empfehle ich: Eigne Dir eine persönliche Sprache an und bewahre sie. Sei lieber auf eigene Kosten mittelmäßig als auf Adornos Kosten brillant. Das Abschreiben an sich ist nicht schlimm, das ganze geistige Leben besteht daraus, dass Einer auf den Anderen einwirkt. Aber sich ohne Quellennennung mit fremden Federn zu schmücken ist erstens nicht fein und zweitens gefährlich, weil es die Identität des Schreibenden verzerrt.
Wichtigster Ratschlag für junge Kritiker: Schreibe ein paar große Aufsätze in Kulturzeitschriften und möglichst ein paar anständige Bücher. Ein guter Feuilletonist muss sich nachprüfbar und notfalls angreifbar machen. Mehr als Dreißig-, Vierzig-Zeilen-Kritiken in der Zeitung lässt man Dich am Anfang jedoch nicht schreiben. Aber schreiben Sie mal fünfzig Zeilen über die H-Moll-Messe! Da bringen Sie ja kaum unter, wer alles mitgesungen hat geschweige denn ob deren Auffassung richtig oder falsch war.
Außerdem: Das Bücherschreiben ist immer noch die finanziell lukrativste Sache. Ich habe mit meinen Büchern sehr viel mehr verdient als bei der „Süddeutschen Zeitung“.

Ihren Stil haben Sie mal mit ihrer Abstammung aus einem protestantischen Pfarrhaus begründet. Was meinen Sie damit?
Die Protestanten nehmen weniger die Institution als das Wort ernst. Und ich finde, man muss den Text, die Noten enorm ernst nehmen. Es kommt nicht darauf an, dass ein Regisseur seine Obsessionen los wird. Er muss den Text in Bewegung setzen, sich ihm in gewisser Weise sogar unterwerfen. Mein leider verstorbener Freund, der Regisseur Jean-Pierre Ponnelle sagte: „Mozart ist der Chef“. Diese Einstellung teile ich weitgehend. Ich versuche so zu schreiben, dass es stets nachprüfbar ist. Das ist das Protestantische an mir. Der Leser muss verstehen können, was ich meine, und das muss sich an der Sache messen. Da kann man nicht beliebig assoziieren. Man dient einer Sache und vielleicht einer Bevölkerung, zumindest denen, die es lesen. Für mich ist deshalb der Begriff des Bildungsbürgers etwas höchst Positives.

Diese Haltung hat Sie nicht an Ausflügen ins Unterhaltungsgenre gehindert. Sie waren lange ja auch Kolumnist der Zeitschrift „Bunte“. Was hat Sie daran gereizt?
Hubert Burda, mit dem ich befreundet bin, hatte mich dazu aufgefordert und mir freie Hand zugesagt, welche Musikstücke ich vorstellen, erklären und welche Aufnahmen ich dazu empfehlen wollte. Da musste ich mich natürlich auf ein ganz anderes Publikum einstellen. Schreiben Sie mal über Tristan, ohne das Wort „Chromatik“ zu benutzen! Das geht nicht, also müssen Sie es gleichzeitig definieren. Das ist gar nicht so einfach. Und dann erlebte ich immer wieder ein Phänomen: Niemand sagte mir, dass er die „Bunte“ liest, aber viele sprachen mich an: „Ich war neulich beim Frisör und hab da beim Blättern gefunden, was Sie über das Harfenquartett von Beethoven geschrieben haben oder über Sacre du Printemps von Stravinsky.“ Aus den etwa 150 Kolumnen für die „Bunte“ habe ich übrigens auch Bücher gemacht, die sich verdammt gut verkauften.

In einer Ihrer Video-Kolumnen für das „SZ-Magazin“ sagten Sie, zum Profil eines wirklichen Kritikers gehöre auch die Fähigkeit zu Pathos. Vermissen Sie das?
Im heutigen Regisseur-Theater gilt die These, man müsse alles modernisieren, in die Gegenwart bringen, damit die jungen Leute es verstehen. Also quasi „Cosi fan Tutte“ ohne Rokoko-Schnickschnack. Diese Ansicht teile ich nicht, aber darüber kann man sicherlich diskutieren. Nur fällt mir auf: Alle Modernisierungen, die ich kenne, übersetzen den hohen Stil, den großen Ton ins Normale, sogar ins Triviale. Das scheint mir auf eine kulturelle Verarmung hinauszulaufen. Der hohe Stil, der doch in der Musik sehr begründet ist – wie bei den Bruckner-Symphonien, im Fidelio oder auch in der Götterdämmerung – wird hier zugunsten eines platten Boulevardtheater-Dialogs geopfert, damit es die Leute angeblich besser verstehen können. Aber der Blankvers ist nun mal seit Shakespeare, Lessing und Goethe, Schiller, Hebbel und Grillparzer das Versmaß für große, klassische Dramatik.

Sehen Sie eine stilistische Verarmung auch im aktuellen Journalismus?
Das ist eine schwere Frage. Auch ich spreche, schreibe manchmal ein bisschen kolloquial, um es vornehm auszudrücken. Ich versuche, mit dem Leser in eine Art Gespräch zu treten. Die Schwierigkeit für den Kritiker ist doch: Er schreibt für sehr verschiedene Öffentlichkeiten – erstens für die Interpreten, die wahrscheinlich das Werk besser kennen als der Kritiker, zweitens für die Besucher der Aufführung, drittens für diejenigen, die einen Besuch von der Kritik abhängig machen, und viertens für die Gruppe, die aus der Ferne auf dem Laufenden gehalten werden will. Also muss man seine Information so verpacken, dass sie als Argument eines kritischen Gedankengangs erscheint. Man muss subkutan die relevanten Informationen mitgeben und gleichzeitig so reizvoll schreiben, das sich jede dieser vier Gruppen für den Gedankengang, für die These interessieren. Das ist die Technik einer gut geschriebenen Kritik. Wer sich das nicht klar macht, kann es nicht richtig – leicht zu erkennen an Aufzählungen nach dem Theaterzettel wie: „Da ist ein König, und eine Königin, und dann noch sein Kind….“.

In Ihren Texten klingt oft eine leichte Ironie durch. Wie wichtig ist Ihnen das als Stilmittel?
Der Leser soll doch einen Grund haben, zu lesen was man schreibt, auch wenn’s ihn vielleicht gar nicht so interessiert. Wenn jemand sich selbst nicht allzu wichtig nimmt, nicht mit Schaum vor dem Mund losbellt, sondern eine gewisse heitere Selbstironie anklingen läßt, erleichtert es quasi das Gespräch mit dem Leser. Allerdings habe ich in einem meiner ältesten Aufsätze, „Ironie als Alibi“, bereits geschrieben, es sei ekelhaft, wenn Leute sich vor Verantwortung und klaren Aussagen drücken, indem sie sich ironisch äußern und dadurch schlau wirken wollen. Außerdem darf man Ironie nicht dauernd einsetzen. Sonst wird man doch zu sehr vorhersehbar und es wirkt bloß wie eine Masche.

Kennen Sie auch so etwas wie die Verzweiflung des Schreibers, die Angst vor dem leeren Papier?
Ja, immer deutlicher. Alte Schauspieler und Sänger haben mir früher oft gesagt, das Lampenfieber nehme im Laufe der Zeit keineswegs ab. Das Gegenteil sei der Fall. So geht mir leider auch ein bisschen.

Was tun Sie dagegen?
Ich werde stur. Ich zwinge mich. Aber man hat natürlich auch eine gewisse Erfahrung, die hilft. Bloß, es macht immer mehr Mühe, zumal wenn man einen gewissen Standard erreicht hat. Dann hängt doch so viel davon ab. Wenn ich einen Pianisten verreiße, dann kann ich ihm ja schrecklich schaden. Da passt man um so mehr auf, wird fast zu ängstlich, so dass man Gefahr läuft ein bisschen langweilig zu werden.

Langweile hat man Ihnen aber noch nie nachgesagt – und das bei weit über 8.000 Beiträgen. Wie vermeiden Sie da Wiederholungen Ihrer selbst ?
Ich will mich jetzt nicht zu einem Edelmenschen stilisieren. Vernünftiger Gedanken und besonderer Wendungen bediene ich mich auch mehrfach. Aber in der großen Musik gibt es so unendlich viele Formen von Trauer, Melancholie, von Heiterkeit, von sanftem verstohlenem Schmerz, von Unglück, von Verzweiflung – so viel mehr Nuancen als Adjektive, sie zu benennen. Deshalb langweilt es ja auch nie. Und deshalb entdecke ich immer wieder neue Aussageformen ohne mich allzu sehr zu wiederholen.

Wollten Sie als Kritiker auch kulturpolitischen Einfluss nehmen?
Da gerate ich oft in Differenzen mit meiner Redaktion. Ich bin nämlich der Ansicht, ein Musikkritiker ist nicht dazu da, Kulturpolitik zu machen. Wenn ich einen Dirigenten lobe und sage: „Den müsst Ihr zum Generalmusik-direktor machen“, dann kann ich seine Leistung nicht mehr unabhängig beurteilen, denn entweder heisst es dann: „Na Gott, der Kaiser hat ihn ja vorgeschlagen, der muss ihn ja loben.“ Oder „Erst lobt er ihn, und jetzt schreibt er ihn runter.“
Kulturpolitik gehört in die Hände der Kulturpolitiker, also der Kultur-dezernenten, der Kultusminister. Allerdings vermisse ich bei vielen heute eine wirkliche innere Beziehung zur Kultur. So werden Entscheidungen gefällt nach trivialen Kriterien: Ob der oder die mit der Presse gut kann, ob sein Konzept massentauglich ist. Darin sehe ich den eigentlichen Grund für die enorme Krise der Kultur, die jetzt besonders sichtbar ist, nicht in einem Qualitätsverfall der Interpreten oder der Kritiker.

Wen nehmen Sie eigentlich als Kritiker-Kollegen ernst?
Eleonore Büning von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ist eine sehr angenehme Musik-Kritikerin. Und der 2003 verstorbene Reinhard Baumgart war ein ausgezeichneter Literaturkritiker. Gustav Seibt. Es sind nicht allzu viele. Viele jüngere Kritiker sind enorm informiert. Sie haben in ihrer Wissens-Rüstung keine Löcher mehr. Das macht alle ein bisschen ähnlich. Ein Kritiker muss seinen Kenntnissen charakterlich gewachsen sein. Sonst macht sich die Begabung als leere Virtuosität selbständig, und das geht dann schief.
Selbst Thomas Mann ist das nicht so gut bekommen. Im „Doktor Faustus“ hat er gewisse Elemente von Adornos Theorie der Musik verwendet, die aber das Buch eher beschweren und so auch nicht ganz stimmen. Es wäre besser gewesen, er hätte darauf verzichtet.

Herr Kaiser, zum Schluss eine Frage, die ich gerne weitergeben möchte: In einem Chat zu Lenas Sieg beim European Song Contest hiess es: „Sogar der Klassik-Liebhaber H. schreibt: ‚grandios’, wird später ‚Freude, schöner Götterfunken’ auflegen zum Sieg unserer Lena. Was wohl Joachim Kaiser dazu sagt?“ Und, was sagen Sie dazu?
Ich kenne den Großvater von dieser Lena ganz gut. Das ist mein alter Freund Andreas Meyer-Landrut, ein sehr geistreicher Balte, mir an Ironie unendlich überlegen. Ich habe mir Lena auch angesehen und dachte: „Mein Gott, hat das Mädchen einen Zauber. Wenn sie nun auch noch singen könnte, das wär ja prima.“ Sie hat aber wenig Stimme, teilt jedoch das Lied sehr charmant mit auf den richtigen Höhen. Wie aber soll ein junges Mädchen damit fertig werden, wenn es für eine Eigenschaft geliebt wird, die vollkommen spontan entsteht und ein bisschen auch eine Folge des Alters ist? Nun scheint sie ja halbwegs auf der Erde und ganz vernünftig zu sein. Also, Lena sehe ich positiv, aber doch nicht ohne Sorge.

 

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Außerdem zeichnete ihn die „Journalisten des Jahres“-Jury 2013 mit dem Preis fürs Lebenswerk aus – seine Dankesrede kann man hier anschauen:

 

Die Laudatio hielt damals übrigens Frank Schirrmacher, den wir auch schmerzlich vermissen: