Als Lin-Shan Chin ihre erste eigene Wohnung verkaufen wollte, wandte sie sich an die Fernsehshow „Designed to Sell" des US-Fernsehsenders „Home and Garden Television" (HGTV). Die Crew der Reality-TV-Show renovierte gemeinsam mit Chin Küche und Wohnzimmer der Eigentumswohnung im Westen von Los Angeles, um den Wert der Immobilie zu steigern. Show-Desig- nerin Lisa LaPorta erklärte vor laufender Kamera, man müsse Immobilien als Geschäft und Renovierungen als Marketing betrachten. „Diese Arbeit wird sich bezahlt machen", verkündete sie mit dem Farbroller in der Hand, und Show-Host Clive Pearse zeigte sich zuversichtlich: „Diese Wohnung wird zahlreiche potenzielle Käufer anziehen."
Knapp ein Jahr später wohnt Chin immer noch in der gleichen Wohnung. An die Show erinnert sie sich mit gemischten Gefühlen. „Ich hätte es selbst besser machen können", sagt Chin heute über die Qualität der Renovierungsarbeiten. Einen Käufer hat Chin zudem bis heute nicht gefunden, da die Immobilienpreise pünktlich zu ihrer mediengerecht inszenierten Renovierung in den Keller fielen. Ausgestrahlt wurde die Folge trotzdem. „Sie interessieren sich nicht wirklich dafür, wie es dir ergeht, nachdem sie ihre Episode im Kasten haben", so Chins ernüchterndes Fazit.
Schneller Reichtum. Shows wie Designed to Sell hatten in den vergangenen Jahren im US-Fernsehen Hochkonjunktur. Fernsehsender bläuten ihrem Publikum mit zahlreichen Reaility-TV-Shows ein, dass Immobilien schnellen Reichtum versprechen. Billig eine Bruchbude kaufen, ein paar tausend Dollar Renovierungsarbeiten – und schon hatten die Laiendarsteller von Sendungen wie „Flip that House" und „Property Ladder" mehr Geld in 60 Fernsehminuten verdient als die meisten Zuschauer in einem Jahr.
In Zeiten einer durch riskante Hypotheken und Immobilienspekulationen ausgelösten weltweiten Wirtschaftskrise betrachten viele derartige TV-Formate mit Argwohn. So befand „Wall Street Journal"-Kommentator Jim Solisch kürzlich: „HGTV ist der wahre Schurke der Finanzkrise." Der Sender habe mit seinen Shows völlig überteuerte Häuser zum Statussymbol erhoben. „Die Shows gaben einem das Gefühl, ein kompletter Verlierer zu sein, wenn man in einem tatsächlich bezahlbaren Haus wohnte", so Solisch.
Mahnende Worte. Solischs Kritik mag überspitzt sein, doch sie steht stellvertretend für eine generelle Katerstimmung in den US-Medien. Angesichts kollabierender Banken und zahlloser Zwangsversteigerungen fragen sich viele: War die Presse wachsam genug in ihrer Berichterstattung über den Immobilien-Boom? Hätte man mehr über Mahner berichten sollen, die schon vor Jahren vor einem möglichen Zusammenbruch warnten?
„Zeitungen haben fast vollkommen versagt", glaubt der US-Medienkritiker Dan Gillmor. Die Presse habe lautstark die Trommel für steigende Immobilienpreise gerührt, aber nicht über die wachsende Verschuldung der Hauskäufer berichtet. „Ich hoffe, dass Journalisten auf der Suche nach den Schuldigen für diesen Schlamassel einen Blick in den Spiegel werfen", so Gillmor.
Branchenvertreter halten diese Kritik für unfair. So verwies ein Redakteur des „Wall Street Journals" kürzlich im US-Medienmagazin „Editor & Publisher" auf Titelstorys, die schon 2005 vor einem möglichen Crash warnten. Gillmor sieht in derartigen Beispielen dagegen unzureichende Ausnahmen. Einen Schuldigen für die Ignoranz hat er auch ausgemacht: „Zeitungen und Sender haben Milliarden an Werbegeldern von Banken und Immobilienfirmen bekommen", erklärt er. „Ich glaube nicht, dass dies ein Zufall ist."
Der New Yorker Radioredakteur Alex Blumberg glaubt dagegen, dass es einen anderen Grund für die fehlende Präsenz drastischer Warnungen in den Medien gab. „Die, New York Times‘ kann nicht einfach sagen, dass diese oder jene Bank pleitegehen wird", meint Blumberg, der Redakteur der US-Radioshow „This American Life" ist. Bekannt wurde „This American Life" für emotionale und oftmals sehr intime Sendungen über Dinge wie Kindheit, Altern und enttäuschte Liebe. Doch Blumberg begann 2006, sich für ein weitaus nüchterneres Thema zu interessieren: den US-Immobilien-Boom. Er fand im Netz Blogs von Insidern und Experten, die viel arlamistischer waren als die traditionellen Medien.
Alles explodiert. Als sich dann die ersten Zeichen der Krise manifestierten, wurde Blumberg schnell klar: Die Mahner im Netz hatten recht. „Alles begann genau so zu explodieren, wie sie es vorausgesagt hatten", erinnert er sich. „Das Internet wurde zu einer Art Raucher- ecke der Branche, wo jeder seinen wahren Gefühlen freien Lauf ließ", erzählt Blumberg. Insider begannen, Abschriften von Telefonkonferenzen und andere Alarmzeichen zu veröffentlichen.
„Je mehr ich herausfand, desto verwirrter war ich", erinnert sich Blumberg, der zuvor nie als Wirtschaftsjournalist gearbeitet hatte. Er holte sich deshalb Hilfe von seinem Kollegen Adam Davidson aus der Wirtschaftsredaktion des Radionetzwerks NPR. Das Ergebnis der Kollaboration war ein „This American Life"-Feature mit dem Titel „Der riesige Haufen Geld." Die beiden erklärten darin in einer Stunde Radiozeit, warum so große Teile der Weltwirtschaft in den US-Immobilienmarkt verstrickt waren.
Hilfe bekamen sie von Eigenheim-Besitzern, Hypotheken-Händlern, Investment-Bankern und anderen, die allesamt einen einzigartigen Blick hinter die Kulisse des eines zum Scheitern verurteilten Booms gaben. Ein Insider kommt mit folgender Einschätzung zu Wort: „Diese Leute konnten mit Müh und Not ihr Auto abbezahlen, und wir gaben ihnen Häuser im Wert von 300.000 bis 400.000 Dollar." Und ein hoch verschuldeter Hauseigentümer gibt zu: „Ich hätte mir das Geld nicht geliehen. Ich kenne Kriminelle, die mir das Geld nicht geliehen hätten. Und die brechen Kniescheiben."
„Der riesige Haufen Geld" wurde im April letzten Jahres ausgestrahlt und hat sich seitdem zur erfolgreichsten „This American Life"-Sendung aller Zeiten gemausert. Blumberg und Davidson wurden mit mehreren Journalistenpreisen ausgezeichnet, und Insider der Immobilien-Branche schickten sich die Folge massenhaft per E-Mail zu. Im Herbst legten die beiden nach und produzierten „eine weitere Angst einflößende Show über die Wirtschaft", wie der Titel der Episode augenzwinkernd versprach.
Im gleichen Boot. Diese Frechheit in Kombination mit einer erfrischenden Prise von Naivität ist es denn auch, die Blumbergs Arbeit zu Sternstunden des Radiojournalismus werden lässt. Seine Beiträge geben offen zu, dass dies eine verwirrende Zeit ist. Anstatt sich als Autorität auf dem Gebiet zu präsentieren, stellen sie Fragen und laden dazu ein, mehr über die Ursachen der Krise zu lernen. „Es hilft, wenn unsere Zuhörer wissen, dass wir im gleichen Boot sitzen wie sie", glaubt Blumberg.
Blumbergs und Davidsons Arbeit ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass eine Krise wie diese auch eine Chance für Qualitätsjournalismus sein kann. Der Erfolg ihrer Arbeit hat mittlerweile auch langfristige Folgen: NPR hat mit Hilfe der beiden Journalisten ein Blog und einen Podcast namens „Planet Money" gestartet. „Es gibt einen großen Bedarf für einen Wirtschaftsjournalismus für Laien, der mehr erzählerische Elemente besitzt", ist sich Blumberg sicher.
Blumberg will sich selbst denn auch weiterhin dem Thema widmen – jedenfalls, solange die Krise anhält. „Ich glaube nicht, dass ich über Hypotheken berichten würde, wenn es nur darum ginge, Menschen beim Häuserkauf zu helfen", erklärt er. „Wenn es nicht auch das Potenzial hätte, die Weltwirtschaft kollabieren zu lassen."
Erschienen in Ausgabe 03/2009 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 58 bis 58 Autor/en: Janko Röttgers. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzun
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