einerseits…andererseits: Sollten Medien den Raum des Sagbaren vergrößern?

Fotos: Uni Mainz (Schultz), Max Threlfall (Döpfner)
Fotos: Uni Mainz (Schultz), Max Threlfall (Döpfner)

Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich – auch durch den Einfluss von Medien. „Viele Medien haben in den letzten Jahren versucht, den Demagogen die Aufmerksamkeit zu entziehen“ sagt Mathias Döpfner (r.), CEO der Axel Springer SE. Tanjev Schultz entgegnet im neuen „medium magazin“ 01/2025: „Toleranz zu üben, sollte kein Akt von Blödheit sein.“ 


Der Impuls

Mathias Döpfner schrieb in der Welt, 14.01.2025

„Viele Medien haben in den letzten Jahren versucht, den Demagogen die Aufmerksamkeit zu entziehen, ihre Argumente zu tabuisieren und unliebsame Fakten zu unterschlagen. Immer wieder wurde Richtiges für falsch erklärt, nur weil es auch die Falschen gesagt haben. Das hat nicht funktioniert. Es hat das Gegenteil des Gewünschten bewirkt.
Denn erstens definieren Journalisten längst nicht mehr, was und wer wie viel Aufmerksamkeit erfährt. Das definieren die Bürger selbst auf Social Media, in Telegram-Channels und anderswo. Zweitens sind so Märtyrer-Legenden entstanden, die die vermeintlich Ausgegrenzten heroisiert haben. Drittens müssen sich die Helden der einfachen Lösungen auf diese Weise nie der Wirklichkeit guter Gegenargumente stellen. (…)
Journalisten, die die Werte unseres Hauses verkörpern, tolerieren und debattieren die Meinungen Andersdenkender. Sie (be)schreiben, was ist, nicht, was sein soll. Sie benennen Probleme und beschönigen sie nicht. Unser Anspruch ist: Recherchen und Fakten stehen im Vordergrund. Dann kommt die Meinung. (…)
Ein Leitstern unserer Arbeit ist ein Satz, der Voltaire zugeschrieben wird: ‚Ich verachte Ihre Meinung, aber
ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen.‘ In diesem Sinne werden wir in Zukunft weiterhin entschieden die Räume des Sagbaren öffnen. Wir werden auch diejenigen befragen und zu Wort kommen lassen, deren Meinungen und Weltbilder uns nicht gefallen.“


Der Kommentar:
Räume des Unsäglichen

Warum Toleranz als Deckmantel für eine Wildwest-Version von Meinungsfreiheit herhält und dabei Fakten und Anstand unter die Räder geraten.

Text: Tanjev Schultz

Sollte der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer SE, wie zu vermuten ist, regelmäßig die „Bild“-Zeitung lesen, sind seine Einlassungen zum Vorrang von Tatsachen vor Meinungen ganz schön putzig. Ebenso seine Warnung vor den „Helden der einfachen Lösungen“. Denn die gnadenlosen Stimmungsmacher und Vereinfacher sitzen ja auch in Mathias Döpfners eigenem Verlag. Das ist so offensichtlich, dass sich diese Replik nicht lange damit aufzuhalten braucht. Wer in der „Bild“ die Stimme der Vernunft zu vernehmen glaubt, hat mit Sicherheit kein gutes Gehör, was bei dem musikalischen Herrn Döpfner zumindest erstaunt. Geld und Macht können offenbar vieles anrichten.

Spannender ist die Frage, ob das journalistische Credo, das Döpfner formuliert hat, als solches plausibel ist und damit für andere, weniger boulevardeske Redaktionen, ob nun von „Welt“, „Politico“ oder solchen außerhalb des Axel-Springer-Kosmos, in die richtige Richtung weist. Auch daran habe ich Zweifel.

Das Lied der Toleranz zu singen, kommt immer gut an und ist erst mal sympathisch. Doch leider dient dieses Lied oft nur zur Rechtfertigung dafür, im nächsten Moment loszubellen, die wildesten oder schlimmsten Ansichten zu verbreiten und sich Kritik daran zu verbitten. So sieht die Wildwest-Version von Meinungsfreiheit aus: Die Lauten übertönen die Leisen, die Emotionalen überwältigen die Besonnenen, die Extremisten treiben die Moderaten. Das sollte auch Döpfner nicht gefallen, es sind aber die Folgen einer Ausdehnung der Räume des Sagbaren, die der Springer-Chef „entschieden“ öffnen will.

Sobald es konkreter wird, rudern die Freunde der großen Redefreiheit gern ein bisschen zurück. Für Döpfner essenziell sind das Bekenntnis zur Marktwirtschaft, zur Nato, zum transatlantischen Bündnis, zum Existenzrecht Israels. Das schränkt schon einiges ein. So weit will er wohl doch nicht gehen, dass er sozialistischen Ideen den Platz lässt, sich voll zu entfalten und Vorstellungen von Eigentum und Leistung infrage zu stellen, die für Springer-Leute wie Naturgesetze erscheinen, obwohl sie menschliche Konstrukte sind. Fair enough, es würde jeden Menschen und auch die Medien überfordern, wollten sie jeden Tag aufs Neue über weltanschauliche Grundlagen streiten. In vielen Situationen ist es sinnvoll, bestimmte Themen auszuklammern oder für einstweilen geklärt zu halten.
Tabus können notwendige Debatten und Veränderungen blockieren. Aber nicht alle Tabus sind schlimm und scheußlich. Sie können ein weithin geteiltes Verständnis widerspiegeln oder sogar Ausdruck zivilisatorischen Fortschritts sein. Dass Folter hierzulande geächtet ist – ein Glück! Dass viele Eltern ihre Kinder nicht wie früher schlagen und dass die Medien keine Pro- und Contra-Beiträge zur Prügelstrafe veröffentlichen – gut so! Dass Menschen ihre Worte wägen und sensibel sprechen, wenn sie über die Zeit des Nationalsozialismus reden – völlig angemessen!


Die Kolumne“einerseits…andererseits“
Tanjev Schultz ist Professor für Journalismus an der Uni Mainz. Zuvor war er mehr als zwölf Jahre lang bei der „Süddeutschen Zeitung“. Zu seinen Schwerpunkten in Lehre und Forschung gehören Qualität und Ethik des Journalismus.
Tanjev Schultz ist Professor für Journalismus an der Uni Mainz. Zuvor war er mehr als zwölf Jahre lang bei der
„Süddeutschen Zeitung“. Zu seinen Schwerpunkten in Lehre und Forschung gehören Qualität und Ethik des Journalismus.
Foto: JS Uni Mainz

Es sitzt tief drin und geht nicht weg: „einerseits“ und „andererseits“ haben im Journalismus nicht viel verloren. Entscheide dich, sei stark in deinem Urteil – und bitte kein Wischiwaschi! So lernen es viele Journalistinnen und Journalisten in ihrer Ausbildung. Wir meinen: Schluss damit. Gerade medienethische Debatten brauchen mehr Mut zur Mehrdeutigkeit, eine größere Freude an der Differenzierung – und keine Kapitulation vor der Komplexität. Die Kolumne „einerseits  … andererseits“ greift deshalb Impulse aus der Branche, von Expertinnen und Andersdenkenden auf. Und arbeitet sich im Kommentar nicht an den schwächsten, sondern an den stärksten Argumenten der anderen ab. Weil wir es komplex mögen, bitten wir den Impulsgeber oder die Impulsgeberin vor der Veröffentlichung um eine Reaktion – die wir ebenfalls abbilden.


 

Die Politikerinnen und Politiker der AfD sind hingegen Meister darin, den Raum des Sagbaren nach rechts zu öffnen und Ungeheuerlichkeiten über die deutsche Geschichte zu verbreiten. Will sich Döpfner ihnen noch mehr zuwenden? Hält er Elon Musk, der in der „Welt“ für die AfD werben durfte, für eine unterdrückte Stimme, die endlich gehört werden musste? Musk und die AfD brauchen sich um Zugänge zur Öffentlichkeit und zu den Medien wirklich keine Sorgen zu machen. Nicht nur, dass sie jederzeit effektiv auf den digitalen Plattformen kommunizieren können. Die etablierten Medien sind ihnen seit Jahren hinterhergelaufen, haben sich regelrecht von ihnen treiben lassen. Die Redaktionen haben ihnen keineswegs, wie Döpfner behauptet, die Aufmerksamkeit entzogen – schon gar nicht während des zurückliegenden Wahlkampfs. Die Populisten und Extremisten waren sogar präsent, als sie nicht anwesend waren. Und nun soll der Raum des Sagbaren weiter geöffnet werden? Für Leute, die Adolf Hitler zum Kommunisten erklären? Oder für wen eigentlich?

Toleranz zu üben, sollte kein Akt von Blödheit sein.[…]

Was Tanjev Schultz noch zur „Wildwest-Version der Meinungsfreiheit“ zu sagen hat und wie Mathias Döpfner auf Schultz‘ Kommentar reagiert hat, lesen Sie im neuen „medium magazin“ 01/25.


Cover des medium magazins 01/25. "Raketenstart in die rechte Umlaufbahn: „Nius“ und Co bekommen Konkurrenz: Das Alternativmedium „Apollo News“ um Max Mannhart wächst rasant. Eine exklusive Recherche zu „Apollos“ fragwürdiger Mission. Außerdem in der neuen Ausgabe: Welches Ziel verfolgt das junge Alternativmedium „Apollo News“, das einen Raketenstart in die rechte Umlaufbahn hingelegt hat? Eine exklusive „medium magazin“-Recherche zu Apollos fragwürdiger Mission. Zudem geht es in der neuen Ausgabe um die großen Zukunfts-Themen der Branche: Warum „Kollege KI“ trotz aller Bedenken und Herausforderungen eine Chance für den Journalismus darstellt. Wie Regionalzeitungen in Ostdeutschland um die Zukunft ringen. Wie und warum man ohne Chefredaktion arbeitet. Was sich ändern muss, damit Kinder für Journalist:innen nicht mehr zum Karrierekiller werden. Wie Journalismus ohne Selbstausbeutung gelingen kann. Und warum Schluss damit sein muss, dass Medien Fake-Anzeigen Platz einräumen, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit erhalten wollen. Diese und viele weitere Themen und wie immer jede Menge Praxis-Tipps ab jetzt im neuen „medium magazin“ – ab sofort digital oder als Printausgabe hier erhältlich oder im ikiosk.