Sollte die nationale Herkunft mutmaßlicher Straftäter stets veröffentlicht werden?
„Die Polizei müsste bei ausnahmslos jedem Tatverdächtigen die Nationalität benennen, die der deutschen selbstredend auch“ fordert Nikolaus Blome (r.). Tanjev Schultz entgegnet im neuen „medium magazin“: Mit einer pauschalen Herkunftsnennung nährt man Vorurteile und bauchpinselt den Zeitgeist. Ein Argument, das Blome nicht gelten lassen will.
Der Impuls
In seiner Kolumne auf spiegel.de schrieb Nikolaus Blome:
Der Kommentar: „Vorurteile nähren, den Zeitgeist pinseln“
Journalisten müssen prüfen, ob die Herkunft eines Verdächtigen den Fall verständlicher macht – oder nur Ressentiments bedient, kommentiert Tanjev Schultz:
Zu den Aufgaben des Journalismus gehört es, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Das hat nichts mit Zensur zu tun, es ist ein Gebot der Vernunft. Einfach alles zu verbreiten, was an Informationen erhältlich ist, wäre zutiefst unjournalistisch. Deshalb ist es auch keineswegs selbstverständlich, die nationale Herkunft eines Tatverdächtigen zu veröffentlichen.
Dass Ermittler und Redaktionen die Herkunft kennen, bedeutet noch nichts. Die Frage ist, ob die Information im konkreten Fall für die Allgemeinheit relevant ist. In einem ausführlichen Porträt oder einer differenzierten Gerichtsreportage liegt die Antwort meistens auf der Hand: Wo und wie ein Mensch aufgewachsen ist, welche Ideen und Identitäten für ihn wichtig sind, spielt eine Rolle, um ein vielschichtiges Bild zu zeichnen.
„einerseits…andererseits“
Zudem ist die Herkunft bei bestimmten Taten bedeutsam, zum Beispiel ideologisch motivierten Anschlägen und Fällen des internationalen Terrorismus. Auch in soziologischen Analysen, in übergreifenden Statistiken sind soziodemografische Angaben interessant. Die Daten müssen dann sorgsam in ihrer Bedeutung untersucht und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Wenn sich Nikolaus Blome dafür interessiert, ob bestimmte Gruppen statistisch betrachtet mehr Straftaten begehen als andere, kann er das nur aus einem seriösen Datensatz entnehmen, nicht aus der Lektüre von ein paar Zeitungsberichten über einzelne Taten.
In kurzen Berichten über alltägliche Einzelverbrechen hat die nationale Herkunft in der Regel nichts zu suchen. Sie bringt selten einen Mehrwert, birgt dafür aber die Gefahr, Vorurteile zu nähren und Diskriminierungen zu verschärfen. Warum sollte standardmäßig ausgerechnet die Nationalität veröffentlicht werden? Warum nicht die Religion – und dann, folgt man Blomes Maxime, dass mehr zu wissen meist besser sei als weniger – bitte auch mit Angabe der genauen Konfession bei Christen.
Nun sind, kriminologisch betrachtet, Alter, Geschlecht und Lebensumstände oft bedeutsame Faktoren für kriminelles Verhalten. Die Nationalität eher nicht. So gesehen wäre es immerhin einleuchtender zu schreiben, dass ein Tatverdächtiger ein Manager, ein Arbeitsloser oder ein Asylbewerber ist, als dass er Deutscher oder Syrer ist. Doch es gehört zur Verantwortung von Journalistinnen und Journalisten, auch die möglichen Konsequenzen ihrer Beiträge zu bedenken und das aufgeheizte Debattenklima nicht weiter zu befeuern. Wenn in Deutschland jeden Tag mehrere Angriffe auf Asylbewerber erfolgen, wäre es fahrlässig, diese Tatsache auszublenden.
Sobald Medien die Herkunft von Tätern oder Verdächtigen nennen (oft sind es zum Zeitpunkt der Berichterstattung nur mutmaßliche Täter), ohne dass in differenzierter Weise der biografische Hintergrund und der Bezug zur Tat erläutert werden, macht das etwas mit den Menschen, die dieselbe Herkunft haben. Sie erleben die Darstellung als stigmatisierend. Das könnten auch Deutsche verstehen, die sich überlegen, wie es wäre, wenn Redaktionen grundsätzlich die Bundesländer erwähnen würden: Sieh an, wieder ein in Bayern lebender Berliner, der seine Frau verprügelt hat!
Jeder Journalist, jede Journalistin sollte sich diese Frage stellen und ehrlich beantworten: Was genau ist der Grund, die Herkunft zu nennen? Weil es etwas erhellt? Oder weil man es eben so macht und die Menschen das angeblich wissen wollen oder wissen müssen?
Sachlichkeit wäre angebracht, nicht das Bauchpinseln des Zeitgeistes, der in hässlicher Fratze selbst dann nach der „wahren“ Herkunft fragt, wenn jemand einen deutschen Pass hat. Die Vorstellung, es werde die Leute – was in vielen Fällen heißt: Menschen mit Hang zu rechtsextremen Einstellungen – bereits zufriedenstellen, wenn nun stets die Staatsangehörigkeit genannt wird, ist schlicht naiv. […]
Lesen Sie den vollständigen Kommentar von Tanjev Schultz jetzt im neuen „medium magazin“. Dort erfahren Sie auch, warum Nikolaus Blome findet, dass ein Argument in Schultz‘ Kommentar in sich zusammen falle und warum er der Meinung ist, dass man nicht, „wie Tanjev Schultz nahelegt, auf den tradierten Regeln des journalistischen Gatekeeping bockig beharren“ sollte. Zur Kolumne.
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